
Zuhören ist schwer. Sogar wenn ich mit meinen Kinder rede, ertappe ich mich manchmal dabei, wie die Gedanken auf Reisen gehen und sich mit irgendwas ganz anderem befassen. Meine Kinder sind mir sehr wichtig. Und selbst da! Warum ist das eigentlich so?
Neulich hatte ich ein Interview mit einem spannenden Psychologie-Professor hier aus Michigan. Eigentlich wollten wir uns persönlich treffen und einen Spaziergang machen. Aber dann haben die Covid-Zahlen just in der Woche unseres Termins neue Rekordwerte erreicht, also haben wir die Sache über Teams laufen lassen. Schade, aber natürlich viel, viel besser, als gar nicht zu reden.
Ich verfolge die Arbeit von Ethan Kross schon seit einigen Jahren. Gelegentlich hab über einzelne Studien von ihm berichtet. Er hat kürzlich ein Buch darüber geschrieben, das demnächst auch in deutscher Übersetzung erscheint. Und er hat dabei einen Begriff gefunden für diese innere Stimme, die da oben unaufhörlich redet und plappert, ohne Punkt und Komma, wie man bei James Joyce nachlesen kann im 18. Kapitel des „Ulysses“. Dort klingt das dann so über viele, viele Seiten:
I suppose she was pious because no man would look at her twice I hope I’ll never be like her a wonder she didnt want us to cover our faces but she was a welleducated woman certainly and her gabby talk about Mr Riordan here and Mr Riordan there I suppose he was glad to get shut of her and her dog smelling my fur and always edging to get up under my petticoats especially
So schnattert es da oben. Vielleicht nicht ganz so versaut wie bei Joyce, aber in derselben Grammatik. Und manchmal wird diese innere Stimme zu laut. Sie dreht sich im Kreis. Sie redet die ganze Zeit immer dasselbe. Sie urteilt dann über andere oder uns selbst. Kennt vermutlich jeder. Das sind die Phasen, in denen die innere Stimme nervt. Ethan nennt dieses Phänomen „Chatter“, das „Geplapper“. Es gibt viele Interventionen, um besser damit umzugehen. Man kann das alles in Ethans Buch nachlesen. Er hat einen erstklassigen Job gemacht, „Chatter“ verkauft sich in den USA wie geschnitten Brot.

In unserem Gespräch hat Ethan mich jedenfalls auf etwas aufmerksam gemacht, über das ich bisher nicht genug nachgedacht hatte:
Wir haben nämlich nicht nur eine innere Stimme, sondern auch ein inneres Ohr.
Es redet da oben, aber es hört auch zu. Man nennt dieses Zusammenspiel von innerem Reden und innerem Lauschen die „phonologische Schleife“. Sie frisst, wenn die Stimme zu „Chatter“ wird, jede Menge Speicherplatz im Gehirn – und zwar just an der schwächsten Stelle unseres biochemischen Rechenzentrums: in unserem Arbeitsgedächtnis.
Ich glaube manchmal, dass meine Generation und die Generationen davor sich ihres Arbeitsgedächtnisses stärker bewusst sind, als das bei jüngeren Leuten der Fall ist. Wegen des Telefons. Früher ging das nämlich noch so: Man wollte wen anrufen, schlug die Nummer im Telefonbuch nach – und hatte sie auf dem Weg von Buch zu Festnetzapparat schon wieder vergessen. Man musste also wieder zurücklaufen und nochmal nachschauen. Oder sich die Nummer auf einen Zettel kritzeln. Oder das Telefonbuch zum Telefon tragen. Die Sache war in jeder Variante demütigend.
Als Student hab ich in der ausgezeichneten Vorlesung „Allgemeine Psychologie I“ noch gelernt, dass in unser Arbeitsgedächtnis nur sieben plus/minus zwei Elemente passen. Das war damals noch Lehrbuchmeinung. Heute gehen die Fachleute eher von vier Dingen aus. Mehr Platz ist nicht. Sobald da was Neues hinein will, muss etwas Altes hinaus. Man ist verloren in seinen Gedanken, seinem Chatter, man liest die Telefonnummer, es dauert nur wenige Sekunden, und der innere Gedankenstrom hat die Nummer schon wieder aus dem Speicher hinausgeplappert.
Genau deshalb ist es so schwer, zuzuhören. Weil im Inneren die ganze Zeit jemand gegen das äußere Gespräch anlabert. Und wenn wir Stress haben, zu viel Arbeit, irgendwelche Konflikte, die uns gerade belasten, dann ist das innere Gelaber auf einmal viel stärker und lauter als die Sätze, die von außen in unser Ohr dringen.
Wir leben dann durch unseren Tag wie durch einen Traum. Wir verpassen den Film im Außen durch den Film, der innen läuft. Wir „fahren Filme“, wie man früher gesagt hat.
Wer träumt, ist ein schlechter Zuhörer.

Das hab ich mir jedenfalls vorgenommen heute zum Frühstück: Dass ich 2022 zum Jahr des Zuhörens machen möchte. Weil ich es wichtig finde und ich mir eingestehe, dass es nicht zu meinen Stärken zählt.
Man kann sich das abgucken bei manchen Leuten, die ihr Geld mit klinischer Psychologie verdienen. Von Zeit zu Zeit werden sie das Gespräch unterbrechen und sagen: „Lass mich kurz zusammenfassen, was bei mir angekommen ist, damit wir sehen können, ob ich alles richtig verstanden habe.“
Wenn jemand das schon ne Weile beruflich macht, fühlt sich dieses Unterbrechen fürs Gegenüber ganz geschmeidig, wertschätzen und angenehm an. Wenn jemand erst damit anfängt, klingt es manchmal seltsam und gelegentlich sogar manipulativ. Vielleicht liegt’s auch nicht an der Routine, sondern an der inneren Haltung. Schwer zu sagen. Fest steht: Manche Leute können das ganz ausgezeichnet. Zuhören ist möglich.
Jedenfalls hab ich mir das vorgenommen. Gelegentlich mal den Fluss unterbrechen. Innehalten. Zusammenfassen, was man gehört hat. Und dann weitermachen.
Und wenn meine Story über Ethan und den „Chatter“ fertig ist und irgendwo erscheint, dann sag ich Bescheid. Versprochen.
Das fasziniert mich und erklärt vieles!
Eine gute Idee, 2022 zum Jahr des Zuhörens auszurufen. Ich wollte schon immer gerne zuhören können wie „Momo“ aus dem Buch von Michael Ende… Wann, wenn nicht jetzt damit anfangen!
Ich freue mich auf die ganze Story über Ethan.
Danke! 🙂 Ich freu mich auch schon drauf!
Lieber Jochen – Mensch ist das spannend…. wie kommen wir mit dem Geplapper bloß klar, wenn wir angeblich doch gar kein Multitasking können? Plappert es bei unseren nahen Verwandten auch im Kopf??
Und weißt Du das die deutsche Ausgabe von Joyces Ulysses keine Kapitelangaben hat – nur das erste hat 1 und dann wird’s unübersichtlich – auf welcher Seite ungefähr ist das 18. Kapitel? Meine Ausgabe hat 988 Seiten?
Grüße Britta
Liebe Britta, das 18. ist zugleich das letzte Kapitel, also leicht zu finden. Welche Übersetzung hast Du denn?
Und das mit den nahen Verwandten scheint ne knifflige Frage zu sein. Ich kenn ein paar Fachleute, die sagen: Nein, kein inneres Geplapper, weil keine Sprache. Dann gibt es welche, die behaupten, dass so gar Hunde eine Art inneren Monolog haben. Aber wenn ich das richtig sehe, dann weiß das im Grunde kein Mensch. 🙂
Viele Grüße zurück – Jochen