
Neulich waren wir ja im großartigen Camp Michigania. Unser Mit-Camper und Klezmer-Klarinettist Bert Straton hat mir danach eine Email geschrieben und dabei eine Bemerkung über die Religionszugehörigkeit der Teilnehmenden gemacht: „Lotsa Jews (can’t help myself)“. Ich habe kürzlich ja angekündigt, darüber mal ein Worte zu verlieren.
Also. Here we go. Die ersten Teil der Geschichte hab ich aus einer älteren Ausgabe des New Yorker – aufgeschrieben vom unvergleichlichen Malcolm Gladwell persönlich.
Die Story geht im Wesentlichen so: 1905 – grob gesagt in der Zeit, als mein Großvater geboren wurde – haben die noblen Ivy League-Unis an der Ostküste neue Regeln dafür aufgestellt, wie sie ihre Studierenden auswählen. Herkunft war nicht mehr wichtig. Es gab eine Art Aufnahmeprüfung. Wer „gut in der Schule“ war und Eltern mit genügend Kohle hatte, der konnte auf einmal in Harvard studieren. Klingt erstmal prima, oder? Die schlauen (okay: und reichen) Kinder hatten plötzlich bessere Chancen auf einen Platz an einer tollen Uni.
Jedenfalls, so schreibt Malcolm Gladwell, führte das neue System schon 17 Jahre später „zu einer Krise“. Genauer: „der jüdischen Krise“. Im Jahr 1922 waren mehr als 20 Prozent der Erstsemester Juden. 1925 waren es sogar mehr als 28 Prozent. Die Bestimmer in Harvard sahen die Existenz ihrer Hochschule dadurch bedroht. Denn die reichen Ehemaligen – angelsächsisch, weiß, protestantisch – hatten zunehmend weniger Lust, jährlich große Summen an die Uni zu spenden. Gladwell schreibt: „Es erwies sich jedoch als schwierig, die Juden außen vor zu lassen, denn als Gruppe waren sie in der Schule einfach besser als alle anderen.“
Die Uni-Leitung hatte schnell ein paar Ideen. Eine Quote einrichten – nicht mehr als 15 Prozent Juden pro Semester. Oder: Die Anzahl der Stipendien für jüdische Studierende beschränken. Oder: Gezielt Leute aus Vierteln anwerben, in denen weniger Juden wohnten. Die Sache mit der Quote war, so kann man lesen, politisch nicht durchsetzbar, die beiden anderen Tricks zeigten nicht die gewünschte Wirkung.
Aber dann kam Harvard – und dann auch Princeton und Yale – auf eine Idee, die besser funktionierte. Man würde weiter die „akademisch Besten“ an die eigene Uni lassen. Natürlich!
ABER: Man würden künftig neu definieren, wer die „akademisch Besten“ sind. Und genau damit war die Zeit guter Schulnoten und prächtig absolvierter Aufnahmeprüfungen vorbei. Es kam plötzlich auf den „Charakter“ und die „Persönlichkeit“ der Bewerber an. Man verlangte jetzt Empfehlungsschreiben von Leuten, die den jungen Recken „gut kannten“. Bewerber mussten ein Foto von sich mitschicken. Und einen selbstgeschriebenen Aufsatz über die eigenen Führungsqualitäten. Außerdem gab es jetzt Fragen zu: „Rasse und Hautfarbe“, „Religionszugehörigkeit“, „Mädchenname der Mutter“, „Geburtsort des Vaters“, „Wie hat sich ihr Familienname oder der ihres Vaters seit Ihrer Geburt verändert?“ Außerdem führten Angestellte der Uni jetzt persönliche Interviews mit den Bewerbern, um „unerwünschte“ Kandidaten früh aus dem Verfahren auszusondern.
Anders gesagt: „Akademische Leistung“ wurde explizit wieder eine Frage der Herkunft. Nach dem alten Motto: „Stallgeruch schlägt Begabung“ (was mich an meinem alten Journalisten-Merkspruch erinnert: „Netzwerk schlägt Recherche“).
Die Sache funktionierte. Gladwell schreibt: Bis zum Jahr 1933 lag die Zahl der jüdischen Erstsemester wieder unter 15 Prozent. „Wenn Ihnen dieses neue Auswahlverfahren irgendwie bekannt vorkommt, dann liegt dass daran, dass die Ivy League es bis heute verwendet.“
Und hier kommt die hiesige University of Michigan ins Spiel.
Die Hochschule war damals schon ehrgeizige. Auch sie hat ihre Zugangsbestimmungen damals reformiert. Aber in Michigan achtete man mehr auf akademisch Eignung – Religionszugehörigkeit war dabei egal. Den Rest regelte der Markt: Viele der klugen, reichen Köpfe aus jüdischen Ostküsten-Familien gingen halt nicht mehr nach Harvard – sondern nach Ann Arbor. Der University of Michigan hat das ausgesprochen gut getan: Sie wurde über die Jahre eine der drei besten staatliche Hochschule der USA, das „Harvard des Westens“. John F. Kennedy hat die Sache in einen Gag verwandelt. Der Harvard-Absolvent erzählte gerne, er habe seinen Abschluss am „Michigan des Ostens“ gemacht.
Aus dieser Zeit stammt eine spannende Firma namens Campus Coach. Ein Student aus Michigan konnte wegen eines Zugstreiks (!) in den Ferien nicht zurück nach New York fahren. Also mietete er einen Bus an und verkaufte Tickets an seine Kommilitonen. Damals studierten so viele junge New Yorker in Ann Arbor, dass der Bus locker voll wurde. Der junge Mann hatte eine Geschäftsidee entdeckt, eine Art Flixbus aus den späten 1920ern. Die Firma läuft noch heute. Cool, oder?
Die Zulassungsbedingungen vor mehr als 90 Jahren haben bis heute ihre Spuren hinterlassen. Derzeit sind nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung in Michigan jüdischen Glaubens. Dagegen stellt die jüdische Community rund 15 Prozent aller Studierenden an der University of Michigan: Rund 6700 – unter rund 45.000 Studierenden insgesamt. Die Story erzählen sie Dir noch heute überall: Während alle was gegen die Juden hatten, hat Michigan seine Tore offen gehalten. Das ist ne gute Geschichte. Und ich trage sie gerne weiter.