Über Darwin, das Vergessen und das Rechthaben
Darwin war natürlich nicht Gott. Ein Gigant, das schon. Aber fehlbar. Und er hat es gewusst. 1876 soll er dies gesagt haben: Er habe es sich zur Gewohnheit gemacht, „sofort und ohne Ausnahme eine Notiz anzufertigen, wann auch immer mir ein publizierter Sachverhalt, eine neue Beobachtung über den Weg liefen, die meinen eigenen allgemeinen Ergebnissen widersprachen. Denn ich hatte aus Erfahrung gelernt, dass solche Tatsachen und Gedanken die Angewohnheit hatten, meinem Gedächtnis leichter zu entgleiten als Dinge, die mir in den Kram passten.“ Auch in Hamburg an der Elbe (siehe das Bild oben und das Bild unten) haben Leute sich „eine Notiz gemacht“, weil etwas ihren Ansichten zuwiderlief.
Inzwischen haben die Psychologen ja längst festgestellt, dass nicht nur Darwins Gedächtnis so funktioniert. Es geht allen so. Unser Hirn ist eine unfaire Lehrerin, die ihre Lieblingsschüler hat. Wir scheinen die Welt recht gründlich nach allem zu durchkämmen, was uns Recht gibt. „Du hast Recht.“ Das wollen wir hören. Alles andere wird übersehen, vergessen, heruntergespielt. Dieser „Confirmation Bias“ oder „Bestätigungsfehler“ ist natürlich längst kein Geheimtipp mehr. Er wird zwar nicht ganz so häufig gegoogelt wie „Ödipuskomplex“ – aber häufiger als „Schreibblockade“. Und das muss man erst mal schaffen.
Schwer zu kapieren ist der Bestätigungsfehler eigentlich nur bei einer einzigen Person. Nämlich bei uns selbst. Bei allen anderen versteht man ihn sofort. Klingt wie ein Witz, ist aber so. Sich eingestehen, dass man mit allem komplett daneben liegen könnte – das ist sehr, sehr schwer. Ich vermute: Weil es zu sehr am Fundament dessen rüttelt, was wir unser Selbst nennen. Am Gefühl, gestern, heute und morgen irgendwie dieselbe Person zu sein. Denn auch das ist ja viel schwerer und macht im Maschinenraum der Seele viel mehr Arbeit, als wir ahnen.
Jedenfalls habe ich heute vor meinem Morgenkaffee einen aktuellen Beitrag der britischen Psychologin Dorothy Bishop in „Nature“ gelesen. Aus diesem Beitrag stammt auch das obige Darwin-Zitat. Der Artikel ist ganz hervorragend. Bishop fordert darin: Man müsse als Wissenschaftler aufhören, sich mit Statistik selbst zu bescheißen. Denn die Tendenz – siehe oben – hat leider jeder. Den Confirmation Bias kann man nicht wegmachen. Er bleibt, selbst wenn man einen Doktortitel hat. Was dagegen tun? Bishop sagt: Mehr Checke von Statistik haben. Es müsse laufen wie im Chemie-Labor. An Signifikanzwerte („p-values“) dürfe man die Studierenden erst ranlassen, wenn sie gelernt haben, mit diesem explosiven Stoff auch sicher umzugehen. Sie gibt auch ein paar schöne Lehrbeispiele, wie das geht. Ich empfehle einen Klick auf den obigen Link, wenn man in zehn Minuten seine (womöglich alten) Statistik-Kenntnisse auffrischen möchte. Dorothy Bishop macht das sehr anschaulich und fast ohne Mathe.
Wenn man von der Elbe hoch zur alten Post schlendert, sieht man auf dem Boden die verblassenden Abstandsmarkierungen neben Ikea.
Einsfuffzich Abstand. Es war nur für den Moment. Und man fand es irgendwie doof. In drei, vier Wochen sieht man davon vermutlich nichts mehr. Der Abrieb von den Sohlen der Flaneure. Die Sonne. Der Regen. Tja.
Auch die Stadt hat ein Gedächtnis. Und auch dem scheinen manche Dinge leichter zu entgleiten als andere.
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[…] könnte man zwanglos auf den Eintrag von vorgestern verweisen, den „confirmation bias“, also die Tatsache, dass wir die Welt immer so sehen, wie wir […]
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