Thomas Mann, Fontane, Montaigne – kann man noch immer lesen!
Man kann nicht immer nur von Psychologie lesen und über Psychologie schreiben. Außerdem verschließe ich mich bisweilen den Tagesmeldungen, dann zieht es mich zu alten Büchern. Neulich zum Beispiel. Eigentlich sollte ich ne Titelgeschichte für Psychologie Heute anfertigen. Hab ich auch gemacht. Aber am Wegesrand der Recherche lagen ein paar Romane und Novellen; sie haben gerufen, ich habe nachgegeben. Diese Erfahrung möchte ich gerne mit Euch teilen, einfach, weil sich das so gehört. Meine Kernerfahrung geht so. Thomas Mann, Fontane, Montaigne: kann man noch immer lesen!
Alles ging aber los mit E.T.A. Hoffmann. Sigmund Freud hat einen längeren Aufsatz über Hoffmann geschrieben und über das Unheimliche, das beim Lesen von Hoffmanns Werken nach uns greift. Ich wollte rauskriegen, ob Hoffmann noch immer unheimlich ist. Antwort: ja, ist er. Und: nein, ist er gar nicht. Und zwar so:
Als Student hab ich – Freud folgend – Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ gelesen. Diesmal hab ich mich aus Gründen, die hier nichts zu Sache tun, für „Die Elixiere des Teufels“ entschieden. Tatsächlich hab ich darin ganz starke Passagen gefunden. Etwa dort, wo Hoffmann das extreme Erleben von Scham beschreibt. Das kann er richtig gut. Scham ist eh eine Emotion, die mich mit den Jahren immer stärker interessiert, ich habe sie lange unterschätzt. Scham ist wie eine Lanze im Ritterturnier, sie haut dich vom Gaul und aus der Rüstung, wenn sie wuchtig zustößt. Hoffmann lässt den Helden seiner „Elixiere“ jedenfalls mehrere Schammomente erleben und … wie soll ich sagen? … ich mochte das und fand es sehr gut getroffen. Hoffmann steht ja eh mit einem Bein im Wahnsinn, der Typ hat definitiv auf die andere Seite des Vorhangs geguckt, und ich glaube, dass extreme Erlebnisse von Scham genau dasselbe bewirken können: Sie erschaffen kurze quasi-psychotische Episoden, in denen sich das Ich aufzulösen scheint. Ich finde diesen Zusammenhang in Teilen der psychologischen Forschungsliteratur, ich sehe sie bei E.T.A. Hoffmann und im so genannten „wirklichen Leben“ sehe ich sie auch. Wenn man Hoffmann in diesen Passagen mit offener Seele liest, fasst es einen an auf eine ganz besondere und eigentümliche Art.
„Ich war wie vernichtet, ein Eisstrom goss sich durch mein Inneres – besinnungslos stürzte ich fort ins Kollegium – in meine Zelle. Ich warf mich wie in toller Verzweiflung auf den Fußboden – glühende Tränen quollen mir aus den Augen, ich verwünschte – ich verfluchte das Mädchen – mich selbst – dann betete ich wieder und lachte dazwischen wie ein Wahnsinniger! Überall erklangen um mich Stimmen, die mich verspotteten, verhöhnten; ich war im Begriff, mich durch das Fenster zu stürzen, zum Glück verhinderten mich die Eisenstäbe daran, mein Zustand war in der Tat entsetzlich. Erst als der Morgen anbrach, wurde ich ruhiger.“
Für mich ist das eine starke Passage. Es gibt auch jede Menge anderer Stellen. Da schmeißt einen Hoffmann mit Adjektiven und Adverbien zu, wie man es heute nicht mehr mag. Auch die Handlung hat enorme Schwächen, viele Übergänge sind lieblos hingerotzt, ein unmotivierter Zufall jagt den nächsten, Hoffmann schüttelt ganz viele sehr billige Sex&Crime-Geschichten aus dem Ärmel. Nicht viele werden da bis zum Schluss durchhalten. Dennoch: Psychische Extremzustände und Drogenerfahrungen – das hat er drauf, der Hoffmann.
Außerdem habe ich nochmal in Chamissos „Peter Schlemihl“ reingelesen. Als Student bin ich dabei eingeschlafen, ich habe deshalb wenig davon erwartet. Doch ich war überrascht, wie gut lesbar das war. Man kann das natürlich nicht so unbefangen abfeiern wie etwas Zeitgenössisches, trotzdem mochte ich das. Ulkig lakonisch fand ich das Grundmotiv der Story: Der Teufel kauft einem Mann seinen Schatten ab, rollt ihn zusammen wie eine Yogamatte, klemmt sie sich unter den Arm und geht davon.
Er schlug ein, kniete dann ungesäumt vor mir nieder, und mit einer bewundernswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinen Schatten, vom Kopf bis zu meinen Füßen, leise von dem Grase lösen, aufheben, zusammenrollen und falten, und zuletzt einstecken. Er stand auf, verbeugte sich noch einmal vor mir, und zog sich dann nach dem Rosengebüsche zurück. Mich dünkt‘, ich hörte ihn da leise für sich lachen.
Was mich damals sehr gestört hat und noch heute stört auf der vordergründigsten Handlungsebene: Bei Chamisso merken alle sofort, dass der Held keinen Schatten mehr hat. Ich fand das psychologisch zu inkorrekt, um es einfach zu zu schlucken. Ich glaube hingegen: Für unseren Schatten interessiert sich erstmal keine Sau. Die Leute haben genug mit sich selbst zu tun.
Über ein paar sehr lose Assoziationen bin ich dann bei Fontane gelandet. Fontane. Oh, weh! Ich musste ihn in der Schule lesen, im Studium auch wieder. Dann nochmal in einer Phase, in der meine Tochter noch winzig klein war. Da haben wir in unserer kleinen Küche in Oldenburg sehr regelmäßig „Am Morgen vorgelesen“ gehört und alles gefeiert, was da lief. Aber dann kam Fontane und schon nach zwei Folgen konnte ich nicht mehr, weil mir schon nach fünf Minuten eine bleischwere Müdigkeit die Lider schließen wollte. Aber … man wird älter und die Jahre wandeln nicht nur uns, sondern auch unseren Zugang zur Literatur. Also nochmal „Effi Briest“ gelesen. Was soll ich sagen? Ich nehme alles zurück, was ich je Schlechtes über Fontane gesagt habe. Mir war vor allem nie aufgefallen, wieviel Humor der Typ hatte. Außerdem hat er in manchen Passagen gegendert. Und dann gibt’s auch bei Effi eine zentrale Passage, in der es um Scham geht.
Sie schob das Konvolut zurück und begann zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. »Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?« Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken, sagte sie: »Es wird vorübergehen, liebe Geheimrätin, aber ich möchte mich doch einen Augenblick zurückziehen … Wenn Sie mir Afra schicken könnten.«
Fontane löst das ordentlich, finde ich. Hoffmann hat die reine Scham beschrieben. Bei Fontane ist es die Scham in der Öffentlichkeit – und die selbstbeherrschte junge Frau, die ihre Gefühle gut genug verbergen kann. Sie zahlt mit einer Depression, was am Ende des Buches ja zum zentralen Motiv wird. Auch die Wurschtigkeit der Welt. Und dann Innstetten, diese Figur, die alle so sehr verachten in der heutigen Betrachtung. Ich finde, er ist als Charakter mindestens ebenso tragisch wie Effi selbst. Die Moral von der Geschicht‘: Es war noch nie ne gute Idee, zu genau, zu präzise und zu ausschließlich das zu tun, was sich gehört. Effi Briest kann man jedenfalls besser lesen, als ich vermutet hatte. Fontane war cool.
Dann über die Feiertage ins 20. Jahrhundert gesprungen und Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ gelesen. Das ist ein ordentlicher Schinken, im letzten Teil – „Joseph, der Ernährer“ – ist Thomas Mann ganz offensichtlich nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Das Exil setzt ihm zu. Vielleicht fehlt dem Stoff auch die nötige Energie, ich weiß es nicht. Aber in den ersten drei Teilen … was habe ich gelacht und seine Sprache gefeiert! Auch klatsche ich Beifall dafür, dass er den Plot einfach geklaut hat. Gut so! Es gibt einem die Freiheit, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Abgefahren fand ich zum Beispiel Manns Meta-Interpretation der Laban-Episode. Er beschreibt sie als Gang in die Unterwelt. Heldenreise 101 und zwar ohne jede Subtilität. Laban ist der Teufel, sein Reich: die Hölle selbst. Laban ist Geizhals, reiner Homo oeconomicus und Betrüger. Dass er am Ende von Jakob abgezockt wird, geschieht nicht aus billiger Rache …
… sondern schlechthin, weil es sich so gehörte, dass zuletzt der betrügerische Teufel spottgründlich betrogen war.
Das alles hat mich gewundert. So viel „monomyth“ in so einem so alten Schinken? Aber dann gegoogelt: David Campbell, dem wir den Begriff der „Heldenreise“ verdanken, hat offenbar viel Thomas Mann gelesen und mit dem Alten sogar korrespondiert. Wusste ich nicht. Die ganzen Storytelling-Seminare hätte man sich sparen können, wenn man in Schule und Studium besser aufgepasst hätte. Tja.
Die nächste Anregung verdanke ich den geschätzten Kollegen Joachim Telgenbüscher und Nils Minkmar und ihrem Geschichtspodcast „Was bisher geschah“, den ich sehr gerne höre. Vor allem Nils Minkmar verweist immer wieder auf die Essays von Michel de Montaigne, von denen ich über die Feiertage einige gelesen habe. Montaigne hat überhaupt die Form des Essays erfunden. Hätte ich wissen müssen, glaube ich. Wusste ich aber nicht. Seine Schriften sind natürlich noch viel, viel älter als die anderen Sachen in diesem Post. Montaigne wurde im selben Jahr geboren wie einer der Söhne Martin Luthers, das war vor fast 500 Jahren. Trotzdem: Montaigne kann man noch ganz gut lesen. Alles an seiner Schreibe ist in Gedanken, Thematik und Sprache durchdrungen vom Geist der Antike. Trotzdem ist das schon die Moderne zwischen all der alte Philosophie und aus der lateinischen Tradition stammenden Rhetorik. Montaigne war ein Sammler kurioser Anekdoten aus der Geschichte. Man könnte mehrere Staffeln unterhaltsamer Podcasts daraus machen. Kein Problem. Genau wie aus Ovid und was weiß ich noch wem. Er holt sich seine Argumente und Beispiele aber auch aus ganz gewöhnlichen Alltagsbeobachtungen. Etwa, wenn er darüber schreibt, dass er nichts hält von kleinen, schmutzigen Betrügereien. Fairplay und Ernsthaftigkeit müssen sein, selbst in kleinen Dingen. Warum? Es ist eine Frage des Gewissens.
Ich spiele meine Karten mit ebensoviel Überlegung um bloße Marken und rechne so scharf, als ob ich um Goldstücke spielte; selbst dann, wenn es mit meiner Frau und meinen Kindern gleichgültig ist, ob ich gewinne oder verliere, bin ich so genau, als wann es im Ernst ginge. Es ist mir durchgängig genug an meinen eigenen Augen, mich vor bösen Künsten zu hüten. Keine Fremden können mich so genau in Aufsicht halten. Es gibt auch keine anderen, für die ich größeren Respekt hätte.
Was mir besonders gefallen hat: Montaigne war – zumindest in manchen Passgen – der Ansicht, dass eine hilfreiche Medizin am besten auch Freude, Genuss und Vergnügen bereiten muss. Erstens, weil man dann weniger Compliance-Probleme hat: Niemand vergisst die regelmäßige Einnahme des köstlich-süßen Hustensafts, der einem dank seiner 30 Prozent Alkohol in größter Geschwindigkeit dieses wohlige Gefühl in die Birne zu zaubern vermag! So hilft Genuss unserer Selbstdisziplin. Guter Punkt! Ein zweiter kommt dazu: Man fühlt sich einfach gut, wenn man was Schönes macht. Dieses gute Gefühl zum Leben beschleunigt die Heilung und gibt uns überhaupt einen Grund, wieder gesund werden zu wollen: Im Genuss versichern wir uns der Tatsache, dass das Leben schön ist und es sich lohnt, wieder auf die Beine zu kommen. Naja, so in der Art jedenfalls geht das bei Montaigne. Ich kann ihn empfehlen, hab seine Sachen gerne gelesen.
Und dann – von Montaigne war’s dorthin nur ein Katzensprung – nochmal in Gracians „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ geblättert. Das ist ein Buch, das man in kleinen Dosen lesen muss, finde ich. Darin stehen viele Sätze, die gut klingen. Manches ist trotzdem dummes Zeug, anderes immerhin ein interessanter Vorschlag. Zum Beispiel dies:
Die artige Manier ist ein Taschendieb der Herzen.
Will sagen: WIE man etwas sagt, ist manchmal wichtiger als, WAS man sagt. Sollte ich irgendwann einen Tageskalender mit klugen Zitaten schreiben müssen – dieser Satz ist auf jeden Fall dabei.
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