bookmark_borderHamsterkribbeln und Maskendruck

Wir waren gestern einkaufen. Mal wieder das große Programm. Für sowas geht man am besten zu Costco, dem amerikanischen Kaufrausch-Irrenhaus. Alles kommt hier in riesigen Portionen. Das Foto oben zeigt zum Beispiel: Fleisch. Kein Witz. Man kauft gleich das komplette Schaf.

Dabei sind mir mal wieder mehrere Sachen aufgefallen. Zum einen die Markierungen auf dem Boden für die Leute, die vor den Toren auf Einlass warten. Die Verhaltensökonomen nennen so etwas einen „Nudge“, einen „Stupser“. Man gibt den Leuten ein schlichtes Feedback. In diesem Fall auf die Frage: „Wie viel sind eigentlich sechs Fuß?“ Und siehe da: Alle stehen brav auf dem Kreuz. Funktioniert hier so gut wie in Deutschland.

Beim Schlangestehen hatte ich Zeit, mir das Verhalten der anderen anzusehen. Und zu zählen. Ich zähle eigentlich immer. Bei Costco haben 88 Prozent der Kunden Masken getragen. Sehr viele also. Bine hat mir heute erzählt, dass es in Hamburg deutlich weniger sind. Warum funktionieren manche Sachen überall gleich (auf den Kreuzmarkierungen stehen) und andere anders (Masken)? Dazu später mehr.

Als wir dann jedenfalls endlich drin waren in dem Laden, hat mich etwas überkommen, das ich lange nicht erlebt habe. Da war auf einmal ein Kribbeln, das durch den ganzen Körper lief, hoch und runter in angenehm warmen Wellen. Dabei war mir, als würde ein Engelchen (oder Teufelchen?) auf meiner Schulter sitzen und mir zuflüstern: DU MUSST DAS ALLES KAUFEN!!!! Da waren Rasierklingen (Packungen, die bis ans Grab reichen würden), Schlauchboote, Zelte, riesige Akkuladesets, Flachbildfernseher, Überwachungskameras. Ich wollte das alles haben! Vielleicht ist es wirklich so, wie Dirk gestern meinte, als wir mal wieder länger per Zoom gesprochen haben: Wir werden eine Menge Konsum nachholen, wenn das hier alles vorbei ist. Es wird aus dem Bauch kommen und sich – leider – warm und wohlig anfühlen.

Tatsächlich erworben haben wir von all dem Kram natürlich gar nichts, sondern nur die wichtigsten Grundnahrungsmittel. Gehört sich so. Entsprechend am Abend Spätzle gemacht. Die Maschine packe ich mir immer in den Koffer, wenn ich rüberfliege. Hilft gegen Heimweh.

Ansonsten gab’s in Michigan letzthin drei Dinge, die ich bemerkenswert fand.

  1. In der Staatshauptstadt Lansing gab’s ne Demo. Die Leute haben gegen die Stay-at-home Order protestiert. Sie wollen auf den Golfplatz. Oder zur Arbeit. Die Bevormundung stinkt ihnen. Mein erster Gedanke: Was für Deppen! Dann hab ich im Radio ein paar Interviews gehört. Ein Mann sagt: „Ich bin systemrelevant! Weil ich Geld für meine Familie verdienen muss. Brot auf den Tisch für meine Kinder. DAS ist systemrelevant.“ Da hab ich immer noch gedacht: Was für Deppen! Später hab ich meine Meinung dann aber geändert. Dazu gleich mehr.
  2. Heute hat die Gouverneurin gesagt, dass der Staat Michigan jetzt ein kostenloses Angebot für Achtsamkeit und Meditation ins Netz stellt, damit die Leute im Lockdown nicht den Verstand verlieren. Ich schreib ja ansonsten viel über Psychologie und weiß, dass solche Dinge sehr gut funktionieren. Kurios fand ich’s trotzdem.
  3. Heute hat’s fast den ganzen Tag geschneit. Ann Arbor liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Florenz. Aber die Winter hier sind ein Biest. Findet auch Coco.

Jetzt noch ne Runde Klugscheißerei. Nicki und ich haben uns heute ne Live-Vorlesung per Zoom angehört. Es ging um die Frage, wie Viren, Informationen und Verhaltensweisen durch soziale Netzwerke wandern. Soziale Netzwerke, damit meint man nicht Facebook oder Twitter, sondern das Geflecht von Beziehungen, in denen Menschen leben. Jedenfalls weiß man schon länger, dass Informationen sich in diesen Netzwerken tatsächlich verbreiten wie Viren. Eigentlich klar: Ein Typ, der neben einem im Chor singt, hat Corona. Nach der Probe hat man’s dann selber. Ein Kontakt genügt. Danach trägt man das Virus weiter.

Genauso Informationen: Man liest einmal von einer Sache – danach weiß man’s. Man sagt es weiter – dann weiß es der andere. Ganz einfach im Grunde.

Der Prof, den wir uns angehört haben, sagt: Verhaltensweisen reisen vollkommen anders durch die Netzwerke als Viren oder Informationen. Zum Beispiel das Verhalten, beim Einkaufen eine Maske zu tragen. Das macht man nicht nach, weil man’s einmal gesehen hat. Das tut man erst, wenn viele das tun. Die Maske wird dann irgendwann zur sozialen Norm, also zu dem, was sich gehört. Dafür braucht man eine kritische Masse. Verhalten scheint wie eine komplizierte Melodie zu sein, die man oft von vielen hören muss, ehe man sie nachpfeift.

Eine andere Professorin hat bei der Vorlesung gesagt: Wenn Leute eine eigentlich vernünftige neue Verhaltensweise nicht annehmen, dann liegt’s meist nicht an ihrer Angst, nicht daran, dass sie in der Stadt oder auf dem Land wohnen, nicht daran, dass sie dumm sind oder arrogant. Meist liegt es daran, dass die neue Regel einer anderen, älteren sozialen Norm widerspricht. Also dem, was sich gehört.

Es gehört sich, seine Familie zu ernähren. Daran gibt’s erstmal nichts auszusetzen.

Das hat mir eingeleuchtet und ich hab mich innerlich bei dem Demonstranten entschuldigt, den ich im Radio gehört habe.

Manche Leute machen Dinge anders als wir. Sie sind nicht unserer Meinung. Aber vielleicht steht hinter dem, was sie von uns trennt, eine soziale Norm, eine Überzeugung, die wir im Grunde mit ihnen teilen.

Genau an der Stelle kann man dann anfangen, miteinander zu reden.

Klingt vielleicht zu optimistisch. Aber ich probier das für die nächsten Tage mal aus, so als Arbeitshypothese. Und blicke derweil grimmig drein wie ein Postkutschenräuber.

bookmark_border„There is no shortcut for synthesis“: beim Stanford-Besuch der Autorin Tressie McMillan Cottom

Dieser Tage waren Nicki und ich auf dem wirklich beneidenswert schönen Stanford-Campus, um uns die Diskussion zwischen der Soziologie-Professorin und Autorin Tressie McMillan Cottom und dem Stanford-Professor Adam Banks anzuhören. Motto des Abends: „What Is A Public Intellectual Today?“

Ich kannte Tressie nicht. Aber das hat nichts zu sagen. Mein Wissen – verglichen mit dem, was die Menschheit weiß – entspricht höchstens einem Stecknadelkopf in einer Turnhalle. Tressie ist jedenfalls ein Star. Die Hütte war voll. Im Raum gab‘s Platz für knapp 200 Leute und nur ganz hinten in den letzten Reihen blieben ein paar Stühle frei. 

Im Eingangsbereich wurde ihr neues Buch „Thick“ feilgeboten.

Man muss etwas über die Covergestaltung sagen. Das breite „H“ hat mich zunächst verwirrt. Aber dann ein Blick auf den Buchrücken. Aha! In der gestürzten Schrift wird aus dem breiten „H“ auf einmal ein „I“ – also „ICH“. 

Die Amazon-Reviews dazu sind wunderlich. Denn Tressie – soviel wird schnell klar – ist witzig, schnell, originell, super schlau, kämpferisch, meinungsfreudig, subversiv. Das ist keine Kombination, die immer alle Menschen im Publikum glücklich macht. Aber dann: So gut wie niemand sagt auf Amazon ein schlechtes über sie. Ganz bemerkenswert. Warum ist das so?

Ich schreibe sieben Sachen auf, die ich mir bei der Diskussion gemerkt habe und die mir aufgefallen sind.

1. Sowohl ihre Rhetorik als auch Adams Rhetorik kommt von den schwarzen Predigern der USA. Ich fühle mich wie in einer Kirche, in der ich als Jugendlicher gerne gesessen hätte. Beide stellen in ihren Reden Gemeinschaft her, sie kommentieren die Rede des anderen mit zustimmenden Zwischenrufen und Fingerschnipsen. Tressie sagt: „Rhetorik ist ein Ort gemeinschaftlicher Recherche.“ Sie sieht alles, was sie schreibt, als ein Werk des Kollektivs. Das ist ein anderes Konzept der Autorenschaft, als ich es aus meiner europäischen Tradition kenne. (Eine gemeinsame Freundin von Nicki und mir kommentiert später: „Klingt fast wie Roland Barthes.“) Es gefällt mir jedenfalls, es ist eine sehr lebendige, gemeinschaftsstiftende Art mit Denken und Schreiben umzugehen. Sie sagt: „Man ist immer eingebettet in etwas Größeres.“ Im Grunde hat sie einen religiösen Begriff vom Denken und vom Schreiben. Ich weiß aber nicht, ob sie das auch so sieht.

2. Tressie sagt: „Ohne Mut kannst Du nichts Gutes schreiben. Und um mutig zu sein, brauchst Du ein gewisses Maß an Sicherheit.“ Sie ist Professorin. Das hilft schon mal. Sicherheit. Die hat aber ihren Preis. Sie sagt: Die Uni radikal und vollständig kritisieren kann sie nicht, selbst wenn sie wollte, weil sie Teil des Systems ist. „Man darf sich da nichts vormachen.“ So denken die Leute in der Soziologie.

3. Tressie ist in sehr einfachen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen. South Carolina, eine halbe Stunde weg von der Küste. Der Boden besteht aus „Dreck, auf dem eine Sandschicht liegt, weil halt das Meer in der Nähe ist“. Ihre Ur-Oma (die selbst unter Erwachsenen groß geworden, die als Sklaven geboren worden sind) hat jeden Abend die Straße vor dem Haus gefegt. Den Sand auf dem Dreck. „Oma, warum machst Du das?“, fragt Tressie. „Weil ich dann besser denken kann“, sagt die Oma. Im Regal stand eine Sammlung „schwarzer“ Literatur. „Ich habe das Buch bestimmt 100 Mal gelesen. Von dort kommt meine Sprache, der Rhythmus in den Sätzen.“

4. Tressie ist eine „Public Intellectual“, sie schreibt Leitartikel für die Presse und haut auf Twitter dauernd irgendwelche Sachen raus. Deshalb kennen sie viele. Aber eigentlich ist sie Professorin für Soziologie. In ihrem Grundstudium gab‘s keine Soziologiekurse. Sie sagt: „Du musst einer Schwarzen in Amerika nicht lange erklären, dass es Strukturen gibt, die darüber entscheiden, was aus Dir werden kann und was nicht.“ Auch interessant.

5. Sie sagt: „Wenn Du schreiben willst, musst Du wissen, für wen Du schreibst. Wer ist Dein Publikum? Die meisten von uns (Profs) stellen diese Frage nicht, weil wir insgeheim fürchten, dass da gar keiner sitzt, der liest, was wir schreiben.“ Die meisten Leute im Publikum studieren noch – entweder als Undergrads oder im PhD-Programm. Sie sind im Durchschnitt alle viel besser angezogen als ich. Tressie sagt: „Wartet nicht drauf, das Euch das Publikum findet. Sucht Euch das Publikum, das Ihr haben wollt. Es gibt nämlich viele davon.“

6. Über Kreativität sagt sie: „Alles, das was taugt, dauert ungefähr vier Mal länger, als man vorher gedacht hat. There is no shortcut for synthesis.“

7. Sie twittert. Wie geht sie mit den Trollen um? „Das ist eine Technik. Das muss man lernen. Es ist keine Charakterfrage oder Talentsache und schon mal gar nichts für blutige Anfänger.“ Außerdem hat sie mit ihrer Familie und ihren Freunden einen Notfallplan ausgearbeitet. „Alle wissen, was zu tun, wenn auf einmal 5000 Leute pro Tag anrufen.“

Ich habe ihr Buch nicht gelesen. Aber ich bin ein Fan. Tressie McMillan Cottom hat Charisma, sie hat einen Auftrag und sie denkt übers Schreiben anders nach als die meisten Leute, die ich kenne. Das war ein guter Abend.