bookmark_borderDas letzte Selfie (hier)

Kalifornischer Mohn

Spaziergänge gemacht. Überall blühen diese orangefarbenen Blumen an den Gehsteigen und in den Gärten. Nicki sagt: Das sind Golden Poppies. Der goldene Mohn ist die Staatsblume Kaliforniens. Herzerwärmung und Volkshochschule zugleich.

Schild in Menlo Park

Nicht weniger bewegend sind diese Schilder, die einige Nachbarn jetzt in ihre Vorgärten gepflanzt haben. Auch ne Art, seinen Zusammenhalt zu demonstrieren. Gefällt mir. Gefällt mir sehr. Und ja. Man muss da ehrlich zu sich selbst sein: Es gefällt mir ganz sicher AUCH, weil ich hier ja selbst ein Fremder bin, dem das auch jeder anhört, wenn ich die ersten Worte mit meinem deutschen Kartoffelakzent gesprochen habe.

Menlo Park

Nicht viel los hier. Mit einer Mutter gesprochen, deren Kinder auf der Straße mit ihren Rollern und Fahrrädern Wettrennen veranstalten. Sie sagt: Es hat ne Weile gedauert, dem Fünfjährigen beizubringen, was „sechs Fuß“ bedeutet. Dass das jetzt der Abstand ist, den man zu allen halten muss. Zu allen, die nicht zur eigenen Kleinfamilie gehören. Auch zu den Freunden, die man ansonsten mit einem „hug“ begrüßt. „Aber inzwischen haben sie’s kapiert“, sagt sie
Ich schaue in ihren Garten und sehe, dass sie einen Gartenschlauch parallel zum Zaun ausgelegt haben. Sechs Fuß Abstand. Die Kinder können sich dahinter aufstellen, die Freunde können an den Zaun kommen. Da lernt eine ganze Generation, sich selbst und die anderen im Raum zu lesen. Raumdeuter. Wie Thomas Müller. Nur halt im richtigen Leben.

„The Dish“

Nicki hat ihr Büro auf dem Zauberberg leergeräumt (davon ein andermal mehr). Dort oben in den Foothills machen viele den „Dish walk“, also den einstündigen Spaziergang zur großen Radarschüssel, die sie da in den frühen 1960ern auf den Hügel gesetzt haben, um die Sowjets zu belauschen. Heute kann man damit immer noch Satelliten steuern. Ich habe den Dish walk kein einziges Mal gemacht. Jetzt oder nie. Sandra und Georg begleiten uns. Die Aussicht ist toll. Man sieht San Francisco. Die Bay. Die Hügelkette, das ganze Valley, auch die Zentralen von Facebook und Google. Viele Leute unterwegs. Alle halten Abstand und die meisten winken uns zu. Mehr Verbindung bei mehr Distanz, wie vermutlich überall. Seltsames Gefühl. Das banal Schöne erleben. Und dabei wissen, dass die Welt gerade ganz anders wird. Und in Teilen: anders bleiben wird.

Links die „Schüssel“, zentral am Horizont die Skyline von SF

Kein Mensch auf dem Golfplatz rechts des Weges. Nur ein wilder Truthahn wagt eine Annäherung ans Grün. Die Eichhörnchen erobern das Terrain. Sandra sagt, dass sie neulich hier einen Coyoten auf der Wiese gesehen hat.

Seht Ihr den Truthahn?


Wir machen zum Abschied ein Selfie. Das letzte Selfie. Vielleicht etwas weniger als sechs Fuß Abstand. Aber vielleicht täuscht auch die Perspektive. Beides wäre menschlich.

Das letzte Selfie

bookmark_borderTag drei nach der Ausgangssperre

Kreuzung Willow/Middlefield in Menlo Park

Nach drei Tagen „shelter in place“ in der Bay Area hat sich das Leben da draußen heftig geändert. Die Kreuzung auf dem Bild oben ist am Nachmittag immer pickepackevoll. Naja. Eigentlich ist sie immer voll. Heute steht man an der roten Ampel und wartet auf niemanden. Ich sehe keine Polizei, kein Militär, niemand scheint die Ausgangssperre zu kontrollieren. Die Leute bleiben trotzdem zu Hause. In den Wohngebieten spielen Kinder auf der Straße.

Schild am Spielplatz um die Ecke

… weil die Schulen und Kindergärten dicht gemacht haben und die Kinder auch nicht mehr auf die Spielplätze dürfen. Auf den Sportplätzen hängen noch Leute ab und werfen sich Bälle zu.

Einkaufen darf man. Bei einem meiner Lieblingsläden – „Trader Joe’s“ in Menlo Park – werden die Regale leerer und leerer. Grifflücken überall. Die Angestellten geben sich Mühe, die Waren so aufzustellen, dass die Reihen weniger verwüstet aussehen. Butter war aus. Warum eigentlich?

Trader Joe’s in Menlo Park

An mehreren Orten kleben jetzt neue, wilde Plakate auf den Rückseiten von Verkehrsschildern – nicht nur in der Nachbarschaft, sondern auch an anderen Orten in Menlo Park und Palo Alto. Manche Plakate wettern gegen Handystrahlen, andere machen sich Gedanken über das Ableben von Jeffrey Epstein. Sehr seltsam. Die Plakate kleben immer nebeneinander. Während viele Menschen ihre Kommunikation jetzt ins Netz verlegen, scheinen die Trolle Papier und Kleister als Medium wiederentdeckt zu haben.

Wir überlegen, ob wir nicht bald unsere Koffer packen und nach Michigan fahren sollen, so lange wir noch können.

Man wird viele Details aus diesen Tagen bald wieder vergessen. Ich könnte z.B. jetzt eine Linzer Torte vertragen, wie meine Mutter sie zu backen versteht. Aber. Sie ist weit weg. Also backen wir die Torte selbst. Wird sie auch nur halb so gut sein wie mein persönliches Original? Natürlich nicht. Aber sie wird besser sein als nichts. Viel besser.

„Den Kuchen sollst Du suchen“

bookmark_borderCoco, die Natur und das Bildungssystem

Coco, the dog

Coco ist Nickis Schäferhündin und sie hat sich beschwert. 

Wir haben am Samstag eine Wanderung durch ein nahes Naturschutzgebiet unternommen, das Palo Alto Baylands Nature Preserve

Das ist eine große, von Gräben, Kanälen und Teichen durchzogene Feuchtfläche unten an der San Francisco Bay, eine verblüffend heile Gegenwelt zur nahen Hightech-Industrie – die Firmenzentrale von Google liegt gleich in der Nachbarschaft. 

Da! Unter dem Pfeil bauen sie gerade das neue Googleplex

Coco träumt manchmal davon, dort im Park von der Leine zu gehen und ihren Erzfeinden, den Kanadagänsen, ein nachmittägliches Workout zu verpassen.

„Gänse, wir kriegen Euch“, denkt Coco

Leider haben die Ranger an allen Zugängen lustige Schilder aufgestellt. Sie besagen: Cocos Jagden wären teure Freuden. Jetzt ist die Gute beleidigt und eine erklärte Gegnerin des westlichen Bildungssystems: Könnten ihre Menschen nicht lesen, wäre ihr Leben erheblich besser. Tja. So was nennt man in Amerika „unintended consequences“ – der Fluch einer jeden Neuerung. 

Mal sehen. Den Pfad verlassen: 250$; Hund von der Leine: nochmal 250$; Tiere stören: 500$; den Hund auf Tiere loslassen: nochmal zweihunderfuffzich. Macht: nen runden Tausender. Mein Urteil: zu teuer! Cocos Urteil: doof!

Trotzdem war das ein ganz erstaunlicher Ausflug. Über uns fliegen die Flugzeuge von drei nahen Flughäfen: Von San Francisco im Norden, San Jose im Süden – und dann sind da noch die vielen Sportflugzeuge, die an den Wochenenden rund um den kleinen Flugplatz von Palo Alto ihre Trainingsflüge absolvieren (Uff! Sieben Mal eine Form von „Flug“ oder „fliegen“ in einem Absatz; war nicht leicht. Ging aber trotzdem!).

Von der Sorte haben wir heute locker ein Dutzend über uns rüberfliegen sehen. Naja. Die meisten waren noch ein bisschen kleiner

Auch die ersten Schwalben haben sich eingefunden. Und zwar viele davon. Die Jahreszeiten sind hier in der Bay Area ohnehin eine merkwürdige Angelegenheit. Im November haben sich manche Bäume herbstlich bunt gefärbt (ganz so, wie man das als Europäer erwartet). Gleichzeitig kam aber auch der Regen nach langer Dürre. Die braunen, verbrannten Hügel haben sich innerhalb weniger Tage in ein sattes Frühlingsgrün gefärbt. Gefühlt hatten wir also Herbst und Frühling zugleich. Auch die entsprechenden Düfte haben sich vermischt. Psychologen nennen so etwas eine kognitive Dissonanz: Die Welt passt nicht recht zusammen. Was macht der Kopf? Er rückt sie so lange zurecht, bis wieder alles seine Ordnung hat! In meinem Fall hat der Kopf sein inneres Programm auf „Frühling“ gestellt. Der Zustand hält noch immer an. 

Seht Ihr die kleinen schwarzen Punkte? Nein. Es ist kein Schmutz. Das sind die Schwalben!

Das Naturschutzgebiet ist jedenfalls ein ganz seltsames Gelände. Es liegt halb im Tidegebiet der Bay (mit tüchtig unterschiedlichen Wasserständen zwischen Ebbe und Flut). Im Wasser schwimmen Enten und Rallen; Reiher stehen am Ufer. Manchmal sieht man Pelikane. Heute fliegt ein Truthahngeier durch die Luft. Zwei Kalifornische Ziesel huschen über die Wege. Ein Weißschwanzaar (White-tailed Kite) flattert über das Marschland. Ein ausgesprochen eleganter Vogel ist das. Ganz am Ende sehen wir noch einen Kalifornischen Eselhasen (Lepus californicus), dessen halber Körper aus Ohren zu bestehen scheint – und einen Kolibri, der links des Weges in den Büsche chillt.

Seht Ihr den Kolibri?

Vor ein paar Wochen haben wir hier – nach einem unfreiwilligen Irrweg durch die Binsen – Bill getroffen, einen Naturfreund und ehemaligen Vietnamkrieg-Gegner, den die lokale Presse als „the fox guy“ bezeichnet. Bill hat an der entlegenen Seite der Feuchtgebiete Kamerafallen aufgestellt, um das Schicksal eines Graufuchspaares zu dokumentieren, das die Binsen zu seinem Jagd- und Lebensraum gewählt hat. Hier hat die Kamera zum Beispiel die Begegnung eines der Füchse mit einer Katze dokumentiert. Coole Sache, schlauer Fuchs. Und wie man hören kann: Die Autobahn zwischen San Jose und San Francisco ist gleich um die Ecke. Verrückte Welt. 

Coco hat die Sache genossen. Aber ihre Klagen über unser Bildungssystem … die werd‘ ich mir jetzt noch über Wochen anhören müssen. Irgendwas is immer.

„Mir stinkt’s!“, sagt Coco