Sasha war eine ungewöhnliche Katze

Sasha war schon alt, als ich sie das erste Mal sah. Sie hatte es am Kreuz und lief nur noch in Trippelschritten. Sie hatte wegen der Trennung ihrer Besitzer zwei Hauswechsel hinter sich und schien eingeschüchtert. In den ersten Wochen hier im Haus hat sie das Dunkel des Kellers nie verlassen. Die laute Welt dort oben schien ihr nicht geheuer. Man musste sich sehr langsam nähern, wenn man sie streicheln wollte. Jede Andeutung von Hast ließ sie fliehen.

Eines Abends sahen wir dann plötzlich ein gelbes Augenpaar leuchten aus der Finsternis vom Absatz, an dem die Treppe abwärts führte. Nach und nach nahm sie Teil am Leben der anderen, und das war nicht immer ein Spaß. Zum einen, weil jedes Miauen der alten Sasha klang wie ein Vorwurf: „J’accuse…!“ Irgendwann habe ich aber begriffen, dass sie alle Gefühlslagen mit diesem einen Miauen in die Welt entließ. Schmeichelei, Beschwerde, Schmerz und süße Beipflichtung – jeder Sprechakt derselbe Sound. Weit belastender war aber etwas anderes. Vom ersten Tag unserer Bekanntschaft an hatte Sasha Probleme mit der Verdauung und war von den Mühen der eigenen Fellpflege bereits arg herausgefordert. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, dass Katzen Blähungen haben können. Aber, Junge, Sasha hat’s mir so richtig gezeigt. Sie schlich leise wie ein Tiger, aber man wusste trotzdem immer, dass sie gerade dabei war, den Raum zu betreten. Es war ein Dasein ohne Heimlichkeiten.

In den letzten Wochen verschlief sie fast die kompletten Tage. Gelegentlich kam sie mit Klagelauten zum Kühlschrank, um Futter einzufordern. Danach ging sie sofort wieder an ihren Platz, rollte sich ein und schlief weiter. Manchmal fand sie irgendwo ein leeres Zeitungskörbchen und – zack! – lag sie schon drin wie ein Hefeteig in der Springform.

Zuletzt hat sie die Sache mit der Hygiene komplett aufgegeben. Sie schleppte sich für ihr Geschäft zwar noch gelegentlich zum Katzenklo. Manchmal kletterte sie auch hinein – aber nur, um dann von dort aus ihr Geschäft in den Raum hinein zu verrichten. Das große Geschäft machte sie, wo immer sie gerade das Bedürfnis überkam. Des Putzens war kein Ende und man hatte den Eindruck, dass ihr die ganze Sache keine Freude mehr machte.

Gestern sind wir dann mit ihr zum Tierarzt gefahren und dann ist sie „zu den vielen gegangen“, zu all den Katzen, die vor ihr über den Planeten getigert sind.

Es ist seltsam, wie die Gegenwart des Todes das eigene Bewusstsein verändert. Ich kenne das Gefühl gut, seit ich Zivi im Altenheim war. Auf einmal ist etwas im Raum, das sich schwer beschreiben lässt. Eine Art Aufmerksamkeit und Klarheit, eine Wolke von „es passiert genau jetzt“. Es tut nicht weh. Es ähnelt dem Moment vor vielen Jahren, als ich im Auto saß und auf einmal wusste in dieser kristallenen Klarheit, dass genau jetzt, genau an diesem Tag mein Kind zur Welt kommen würde. Das ist mir gestern zum ersten Mal aufgefallen. Tod und Geburt nähern sich uns mit derselben Aura.

Ist jetzt pathetischer geworden, als es sollte. Aber ich glaube: Genau so läuft’s halt.

Sasha war jedenfalls eine ungewöhnliche Katze. Sie ging mit einem Schnurren, weil sie am Ende das Streicheln wieder sehr zu schätzen wusste. Und das war sehr in Ordnung so.

Kommentare

  1. Lieber Jochen,
    danke für die anschauliche Geschichte. Es ist hart, eine solche Entscheidung zu treffen und die geliebte Katze gehen zu lassen. Ich habe das auch schon einmal erlebt.
    Herzliche Grüße aus HH- Altona,
    Heidi

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