Notizbuch eines Unbekannten

Packe meine Sachen. Dabei ein Notizbüchlein gefunden. Auf Seite 1 steht, dass ich es von Søren und Britta zum Geburtstag bekommen habe. Keine Erinnerung daran. Es ist das Notizbuch eines Unbekannten.

Da stehen seltsame Dinge drin. Alles vergessen. Hier ein paar Kostproben.

Ein sehr sportlicher Mann erzählt mir auf einer Reise von seiner Verletzung. Zu viel Sport. Er wird nie mehr der Alte sein. Keine langen Läufen mehr. Vorbei.

Ein Rentner erzählt mir seine halbe Lebensgeschichte. Schwere Jugend. Gefängnis. Heute: Todesangst, jede Nacht. Das Herz. Aber der Arzt findet nichts. „Meine Frau weiß nichts davon.“ Also: Alkohol.

Ich stehe an einem Buffet. All you can eat. Die Notiz sagt: „Fett. Salz. Zucker. Billig und macht süchtig. Sagt aber keiner. They call it craving.“

Jemand fragt mich, ob ich ein Buch über ihn schreiben will. Ich sage: nein.

Am Frankfurter Hauptfriedhof hängt ein Plakat: „Einmal Frankfurt – immer Frankfurt“. Notiz dazu: „Wahr gesprochen!“

Dann ein Grab. Im Oktober 2000 ist Werner Dummetat gestorben. Aber woran? „Ruhe sanft.“

Notizen aus dem US-Konsulat. In der Schlange hinter mir steht ein Inder, der in Deutschland studiert. Er bringt Computern bei, Unkraut von Nutzpflanzen zu unterscheiden. Maschinelles Sehen. „Aber der Transfer von einer Sorte zur nächsten ist kompliziert.“ Ich hätte sagen können: Weiß ich. Da hab ich grad drüber geschrieben. Stattdessen nur genickt.

Dann diese Notiz: „Ah, das Leben! Ich muss besser darin werden.“ Keine Ahnung, was damit gemeint war. Aber es stimmt vermutlich.

Heute denke ich: Das ist das Schlimme an Corona. Dass es all diese Zufälle so selten macht. Es gefällt mir nicht.

In den Nächten sind wieder Tiere durch den Garten gelaufen. Aus der Nähe: Mr. Friendly, der Kater.

In der Halbdistanz: ein Waschbär.

In der Ferne: ein Kojote.

Bald sitz‘ ich im Flugzeug über den Atlantik. Bin gespannt, ob das gutgeht.

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