Michigan im Ritterwahn

Gestern stehen wir über mehrere Kilometer im Stau, um auf den Parkplatz des Michigan Renaissance Festivals zu kommen. Als Nicki zuerst davon erzählt, denke ich zunächst an ein verborgenes Treffen auf dem Land, an ein, zwei Dutzend heruntergekommene Buden, in denen versprengte Enthusiasten und jung gebliebene D&D-Veteranen selbstgefertigte Wildlederbeutel verscherbeln. Stattdessen erleben wir Michigan im Ritterwahn. Da sind mehrere zehntausend Leute unterwegs an diesem Tag. Irre.

Überhaupt – ein Mittelalterfest im Mittleren Westen? Ich bring‘ das irgendwie nicht zusammen. Was ist aus dem guten, alten Rodeo geworden? Das Publikum scheint mir sehr anders zu sein als in Ann Arbor. Viele großflächige Tattoos und sehr tiefe Ausschnitte. Die Besucher haben sich als Elfen verkleidet, als Druiden, Ritter, Hexen, Zauberer, Hofnarren und mittelalterliche Kaufleute. Ungewöhnlich. Wenige Meilen vor dem Festivalgelände haben wir am Wegesrand einen Laden gesehen, der Trump- und MAGA-Flaggen feilbietet. In der Warteschlange am Eingang – einem burgartigen Eingangstor aus Holz – mache ich einen Gag und frage halblaut: „Ist das nicht so was wie kulturelle Aneignung?“ Die Dame vor uns – sie hat sich als Burgfräulein verkleidet – fährt herum und giftet: „NEIN! Das ist kulturelle WERTSCHÄTZUNG!“ Meine Leute signalisieren mit hektischen Handzeichen, dass ich besser die Klappe halten soll. „Falscher Kontext, Mann!“

Danach drücken wir uns durch das sehr tüchtig besuchte Festivaldorf namens HollyGrove. Aha. So hat also das 16. Jahrhundert in England ausgesehen! Die Warteschlange vor der Bude mit den gegrillten Truthankeulen ist locker 100 Meter lang.

Unsere beiden mitgebrachten Teenager-Jungs interessieren sich für die Buden, an denen man mit Äxten, Speeren und Messern auf Gegenstände werfen kann. Ein durchaus erwachsener Typ erreicht mit dem Speer kaum das etwa drei Meter entfernte Ziel. „Throw it like you mean it!“, brüllt ein Typ von hinten. „Denk an Deine Ex!“, ergänzt ein anderer. Okay. Der Humor ist also auch, sagen wir mal: „erdiger“ als in der Stadt. Als wir dann an der Reihe sind, stellt sich heraus, dass sie pro Messerwurf einen Dollar nehmen. Die Jungs verzichten. Zu teuer! In der Ecke hat sich ein Schausteller in eine Art Pranger gezwängt. Man kann ihn gegen Geld mit ranzigen Tomaten bewerfen. Ein großer Spaß für die ganze Familie. Ein Schild weist uns genau darauf hin: „Kinder sind zugegen. Keine Kraftausdrücke!“

Weiter hinten findet gerade ein Ritterturnier statt, bei dem geharnischte Recken einander mit Holzlanzen rammen. „Wir sind seit 48 Stunden unfallfrei“, frohlockt die verkleidete Ansagerin. Neben uns warten drei Orks in dicken Fellen auf ihre Orangen-Limonade. Das Publikum feuert die Ritter ordentlich an und die lassen es beim Aufprall dann auch ordentlich krachen. Jubel!

Ein bisschen Ann Arbor gibt’s aber auch hier: Unter den Bäumen entdecken wir ein paar Feentüren, kleine „Fairy Doors“, wie sie in der Stadt überall zu sehen sind.

Ums Eck erklären uns zwei junge Leute den Gebrauch eines Renaissance-Bidenhänders. Die beiden stellen sogar ein paar Kampftechniken nach und wie man mit diesem monströsen Schwert die Lanzenkämpfer des Gegners massakrieren konnte. Sie sagen: Auf manchen Festen werden sie vom Veranstalter bezahlt, hier, beim mit Abstand größten Festival dieser Art in der Gegend – dürfen sie ihre Geschichte gegen Spenden darbieten. Zwei junge Männer wollen ihnen ihre Waffen abkaufen. Aber nein. „Dann haben wir ja selbst keine mehr.“ Es scheint hier echt so was wie einen Markt für derlei Kriegsgerät zu geben. Der Typ sagt: „Die Leute interessieren sich von Jahr zu Jahr mehr für alte Schwerter.“ Gleich daneben findet ein modernes Fechtturnier statt, bei dem die Aktiven – anders als anderswo auf dem Gelände – Covidmasken tragen.

Ich finde das alles erstaunlich. Das Festival in Michigan ist auch kein Einzelphänomen. Der Veranstalter hat fast die identische Show in anderen Staaten laufen, vor allem in Minnesota, wo die ganze Sache 1971 angefangen hat und seither offenbar von Jahr zu Jahr ein größeres Geschäft wird. Irgendjemand verdient damit Millionen. Und genau da erfüllt sich halt doch eines der Klischees, die ich über Amerika im Kopf habe: Die Leute hier sind ausgesprochen gut darin, aus einem möglichen Geschäft auch tatsächlich ein Geschäft zu machen.

Andererseits. Wollte ich mir dieser Tage in Ann Arbor die Haare schneiden lassen. Also bin ich mit dem Bus nach Downtown gefahren und in den erstbesten Laden reingelatscht. Ein junger Mann saß da auf dem Stuhl und wurde frisiert. Zwei der Friseure saßen herum und hatten nichts zu tun. Der eine auf dem Tresen, der andere auf einem freien Friseurstuhl, die Beine hochgelegt.
Er so: „Hast Du’n Termin?“
Ich so: „Nö, aber ich brauch’n Haarschnitt.“
Er so: „Wir vergeben Termine für nächste Woche.“
Ich so: „…“
Er so: „Sorry, diese Woche geht bei uns leider gar nix mehr.“

Das hat mich erstaunt. Männern wir mir kann man problemlos in fünf, zehn Minuten das verbliebene Resthaar stutzen. Sie hatten zwei Leute, die keine Arbeit hatten. Und trotzdem. Es war ihnen die Mühe nicht wert. Ich beschwere mich nicht darüber. Im Gegenteil, ich finde es voll okay. Work-Life-Balance und so. Aber gewundert hat es mich halt doch. Der ständige Hustle ist offenbar nicht mehr überall Teil der hiesigen Kultur. Etwas weiter hab ich dann natürlich doch noch wen gefunden, der mir für 28 Dollar ne neue Frisur verpasst hat. Aber auch da wurden meine Vorurteile widerlegt. Gleich zwei davon. Erstes Vorurteil: Wenn die Leute in Amerika irgendwas können, dann ist der Smalltalk mit Fremden. Zweites Vorurteil: Wenn die Menschen aus den Haarschneideberufen irgendwas können, dann ist es der Smalltalk mit Fremden.

Unser Smalltalk jedoch war zäh und hangelte sich verzweifelt von einem Auffahrunfall zum nächsten.

Aber die Linie hinten im Nacken, die ist richtig gut geworden. Das muss man zugeben.

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