Mal wieder Gast im Uni-Biotop

Metzger’s Michigan Monday #5.5

Vor ungefähr nem Jahr hat Karein mich zu einer Veranstaltung an der hiesigen Uni eingeladen. Da treffen sich Studierende, die an der University of Michigan Deutsch lernen. Fast alle studieren noch ganz andere Fächer, aber wo man schon mal hier ist … warum sich nicht auch noch nebenbei ne Fremdsprache reinpfeifen? Wann machen die das alles??? Ich bin jedesmal wieder platt, was die Kinder hier alles draufhaben, wie offen und unverstellt sie einem begegnen, wie Erwachsene, die ganz selbstverständlich mit Erwachsenen reden. Nicki sagt: „Das sind Leute, die ihre Highschool mit ner glatten Eins abgeschlossen haben.“ Als Lehrer wär das hier ein Traumort. Natürlich ist mir klar, dass die ganze Institution komplett privilegiert ist und zugeschüttet wird mit Geld, das dann halt nicht anderswo sein kann und so weiter. Alles problematisch. Aber heute ist mir das egal.

Jedenfalls sitzt man während der Deutschstunde beisammen, trinkt Kaffee und Tee, mümmelt Süßigkeiten und redet über irgendwas in dieser seltsamen, sperrigen Sprache aus der alten Welt. Manchmal werden Gäste eingeladen und heute war das eben ich. Ein paar von denen interessieren sich tatsächlich für Journalismus. Weil ihnen das Schreiben Spaß bringt. Oder weil Radio cool ist. Hach. To be young.

Vorher hab ich Karein ein paar mögliche Themen zugemailt und dann durften die jungen Leute bestimmen, was sie am meisten interessiert. Auf dem ersten Platz gelandet ist „Wie man Depressionen mit Psychedelika behandeln kann“. Ich hab gerade für Geo ne große Geschichte darüber geschrieben, die demnächst erscheinen soll. Beim Gespräch ist mir aufgefallen, dass die jungen Leute relativ gut über Magic Mushrooms informiert sind. Einer davon hat mal in einer Apotheke gearbeitet und mich dezent auf ein entsprechendes Detail in der US-Gesetzgebung hingewiesen. Alles eine Freude. Die Zauberpilze sind in Ann Arbor seit einiger Zeit nicht mehr verboten, Microdosing scheint mir nicht komplett unüblich zu sein. Bald mehr davon auf diesem Kanal.

Hier auf dem Foto steh ich an der Bushaltestelle, um zur Uni zu fahren. Sieht man mir die Vorfreude an? Es ist jedenfalls ein wunderschöner Tag, nicht mehr so warm wie an den Tagen zuvor, aber strahlend blau und frisch, voller Farben, schöner Herbst.

So. Und kaum kommen wir aus der Kaffeestunde raus, stolpern wir auch schon in die nächste krasse Sache: eine Fotoausstellung nur ein paar Räume weiter. Heftige Bilder vom Einsatz der US-Truppen in Afghanistan, vom Drogenkrieg an der mexikanischen Grenze, aus Guantanamo. Alter! Wer kommt an diese Motive ran? Zum Beispiel an diesen Stuhl in Guantanamo. Die Riefen hinterm Stuhl erzählen ihre eigene Geschichte. Sie haben vermutlich mehr gehört und gesehen, als die meisten von uns verkraften könnten.

Der Fotograf Louie Palu erzählt von Einsätzen im Helikopter im Kriegsgebiet. Runter auf den Boden mitten in der Nacht, um Verletzte oder Tote zu bergen. Licht für eine Minute, damit er Bilder machen kann. Dann nichts wie weg, bevor das feindliche Feuer einsetzt. Monate im Marine-Camp in Afghanistan. Er sagt: Er hat im äußersten Vorposten der US-Truppen gewohnt. In den ersten Tagen ruht seine Kamera. „Willst Du nicht mal Bilder machen?“, fragen die Soldaten. „Ich muss euch erst kennenlernen“, sagt Louie. Dann irgendwann entdeckt er, wie die Sandsäcke vor dem Bunkereingang zu einer bestimmten Tageszeit das Sonnenlicht ins Innere des Schutzraums reflektieren. Dort macht er seine Porträts, 50 mm Objektiv, kein Firlefanz. Die Jungs, die er fotografiert, sind zum Teil jünger als mein Sohn heute. Und, Mann, sehen die kaputt aus.

Ich frage ihn, wie er klarkommt mit allem, was er gesehen hat. „Zwei Jahre Therapie“, sagt er, und dass Afghanistan ihn verändert hat. Seine Eltern waren Kinder in Norditalien, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die 19-jährigen deutschen Soldaten kamen ins Haus, um nach Partisanen zu suchen, die Partisanen kamen ins Haus, um irgendwas zu Essen zu kriegen. „Ich musste meinen Teller als Kind immer bis auf den letzten Krümel leer essen“, sagt Louie. Und so ist sein Job auch eine Suche nach der eigenen Vergangenheit, der eigenen Herkunft und den Traumata seiner Ursprungsfamilie.

Biotop Uni. Jede Zufallsbegegnung ne Story und dann auch so viel Zukunft und great expectations. Wer hat sich das ausgedacht? Es war ein schöner Tag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert