MacGyver-Masken in Michigan

Das ist Kevin. Und heute erzähle ich seine Geschichte. Kevin hat „Operation Face Shield“ in Ann Arbor gegründet, eine Gruppe von Freiwilligen, die per 3-D-Drucker Plastikvisiere herstellen und kostenlos an Krankenhäuser, Altenheime, Zahnärzte, Polizeiwachen usw. verteilen.

Eva, eine Leserin, macht mich gestern auf die Gruppe aufmerksam. Ich lese darüber in der Tagespresse. Zack! Das muss ich mir ansehen! Also mach ich mich mit Coco auf den Weg zur örtlichen Schnapsbrennerei. Und tatsächlich: An der Hofeinfahrt steht ein Schild. Handgeschrieben und improvisiert – wie alles an dieser Aktion.

Als ich im Hinterhof ankomme, liefert gerade ein älterer Herr in bequemer Kleidung einen Karton voller Gegenstände an. Der Inhalt landet flugs im Desinfektionsbad. Es handelt sich um gelbe, rote und weiße Stirnbänder aus Plastik. Sie sehen so ähnlich wie die Prinzessinenkronen, die sich meine Tochter als Kind an Karneval aufgesetzt hat. Nur halt weniger schön. Hm. Wie soll man daraus eine Maske bauen? Rätselhaft.

Unter einem Zeltdach steht eine junge Frau mit Maske. Es handelt sich um Becky, eine Krankenschwester, die nach ihren Schichten in der Klinik den Laden hier am Laufen hält. Wie sieht’s aus im Krankenhaus? Darf sie nicht sagen. Aber. Sie arbeitet jetzt schon seit 16 Stunden. Kein gutes Zeichen. Die Statistik dahinter kenne ich schon. Die Fallzahlen in Michigan gehen kräftig nach oben, noch immer mit zunehmender Beschleunigung. Und das bleibt auch noch ne Weile so. Doch für die Leute auf der Intensivstation scheint die Kacke schon jetzt total am Dampfen zu sein.

Wie wird aus den Stirnbändern ein Visier? Becky sagt: Man braucht dazu noch die Folien, die wir aus der Schule von den Tageslichtprojektoren kennen. Man kauft sie bei Staples oder ähnlichen Läden. Die Folien haben drei Löcher am Rand. Die Plastikstirnbänder haben drei Zapfen. An denen hängt man die Folien ein – und schon schützt man sein Gesicht vor den bösen Coronatropfen, die einen halt so anspringen können aus den diversen Körperöffnungen der Patienten. In der Facebookgruppe von Operation Face Shield sieht man Bilder von Krankenschwestern die sich auf herzlichste für diese Visiere bedanken.

Warum braucht man so was, wenn man schon eine N95-Maske trägt? Becky sagt: Diese Masken sind rar. Immer noch. Man muss sie über viele Tage tragen. Man muss sie irgendwie sauber halten. Deshalb die Face Shields. Aha.

Beckys Handy klingelt. Eine neue Bestellung. Zeit, ein paar Takte mit Kevin zu sprechen. Kevin ist Krankenpfleger. Vor ein paar Wochen, so sagt er, ist ihm klargeworden, dass die Schutzkleidung ein Problem wird. Er ist, wie viele Menschen aus Michigan, auf dem Land großgeworden. Er besitzt also einen guten Sinn fürs Praktische. Seine erste MacGyver-Lösung sieht man auf dem Aufmacher-Bild dieser Geschichte: Kevin hat einfach ein Gummiband an eine Plastikschale gebunden, in der er ansonsten seinen Biosalat kauft. Aber dann kommt ihm die Idee, etwas cooleres mit seinem 3-D-Drucker zu bauen. Ein Kumpel schickt ihn den Link zu einer tschechischen Gruppe, die eine Lösung für sein Problem gefunden hat. „Alles OpenSource – jeder kann das kostenlos nutzen und verändern wie er will.“ Kevin kramt in einer Kiste und zeigt uns den ersten, orangefarbenen Prototyp. „So sah das Ding noch vor drei Wochen aus. Ein Stirnband mit vier Zapfen. Das ist das, was die Tschechen gemacht hatten. Wir wollten aber was mit drei Zapfen haben, damit unsere Folien aus dem Bürobedarf dazu passen. Wenn die dreckig werden, kann man sie super einfach sauber machen.“

„Warte“, sagt Kevin. „Ich zeig dir noch die anderen Versionen.“ Und kramt wieder in seiner Kiste. „Wir haben superviele Versionen“, ruft Becky aus dem Hintergrund.

Und so wird von Tag zu Tag aus einer einsamen Bastelidee eine Art Bewegung. „Es ist unglaublich, wie viele Leute hier mitmachen“, sagt Kevin. „Wir haben alles dabei, vom Highschool-Kid bis zum Rentner.“ Jeder kopiert sich die Formel aus dem Netz und produziert Stirnbändern auf seinem 3-D-Drucker – eine brauchbare Maschine bekommt man für weniger als 300 Dollar.

Operation Face Shield produziert inzwischen mehr als 1000 Visiere pro Tag. Die Pakete gehen im Prinzip an jeden, der welche braucht. An diesem Morgen hat die Gruppe schon 100 Exemplare per FedEx in Richtung New Jersey verschickt. Es gibt Bestellungen aus Louisiana oder Indiana. Manchmal erledigt auch Hans die Sache, ein Pilot, der sich und seine Maschine für den Transport zur Verfügung stellt. Hier ein Schnappschuss von Hans aus der Facebookgruppe.

So ein 3-D-Druck braucht pro Stirnband etwa zwei Stunden, sagt Kevin. Jetzt hat sich eine Firma aus Michigan bei ihm gemeldet, die sich auf Spritzgussverfahren spezialisiert hat. Ein Ingenieur hat sich bereiterklärt, die entsprechende Form zu fertigen. Alle machen mit. Keiner verlangt Geld. Ich will nicht total schnulzig klingen: Aber das muss man sich mal vorstellen. Was alle möglich ist, sobald’s um ne gute Sache geht. Jawohl. Ich war schon immer Kollektivist. Jetzt kann ich’s ja sagen.
„Wenn alles fertig ist, dann brauchen wir für ein Stirnband nur noch ein paar Minuten“, sagt Kevin.

Coco und ich gehen nach Hause. So viel zum Thema „ich als Einzelperson kann ja eh nicht viel ausrichten“.

„Ungefähr 600 Leute“, hat Kevin gesagt, als ich ihn gefragt habe, wie viele Leute eigentlich bei der Sache mitmachen. Jetzt ist es kurz vor 22 Uhr. Die Facebookgruppe ist in den wenigen Stunden auf mehr als 900 angewachsen. Virale Wachstumskurven auch hier. Macht mir Hoffnung.

Kommentare

  1. Hallo Jochen,
    erstmal: Ich mag deinen Blog! Ich mag deinen Schreibstil!
    Was für eine tolle Geschichte. Mit 3D-Druckern passende Stirnbänder herstellen und eine so sinnvolle Verwendung für die old school OHP-Folien finden. Und das Beste: so viele Leute machen da einfach mit! Ich werde das Frida zeigen, die ist ja hier nah dran….
    Liebe Grüße nach Ann Abor, bleib gesund!

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