
Wenn man die Küstenregion in Kalifornien erst einmal verlassen hat, ändern sich die Billboards am Straßenrand. Es geht plötzlich häufiger um Religion. „Wenn du tot bist, triffst du Gott“ sehen wir mindestens zwei Mal.

„Wer ist Jesus?“, fragt es, als wir vorbeifahren, vor dramatischen Wolken. Ein paar Kilometer weiter kommt die Antwort:

„Jesus – dein einziger Weg zu Gott“, was uns nicht nur zurück zu Plakat Nummer eins führt, sondern Nicki und mich auch direkt in eine Diskussion. Die Leute haben sich verändert durch die ganze Corona-Sache. Manche werden panisch. Andere frischen ihre Statistik-Kenntnisse auf. Wieder andere wenden sich all jenen Dingen zwischen Himmel und Erde zu, die unserer Wissenschaft verborgen geblieben sind. Mein alter Freund Søren hat mir bei unserer kürzlichen Videokonferenz erzählt, dass sie im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde Punkt 18 Uhr die Glocken läuten und zu Hause am Fenster eine Kerze anzünden. Andere Freunde und Verwandte verabschieden sich jetzt in ihren WhatsApp-Nachrichten mit stärker religiös gefärbten Formeln.
Auf Facebook habe ich vor einigen Tagen den Link zu einer psychologischen Studie geteilt. Die Forscher wollen mit dem Fragebogen herausfinden, wie die Menschen auf der ganzen Welt auf die Coronakrise reagieren. Machen die Leute in Deutschland das anders als z.B. in Japan, China, Italien oder den USA? Weiß im Moment keiner. Wäre aber interessant, das zu erfahren. Deshalb die Studien. Ich empfehle allen, mitzumachen. So wie Julia, die danach einen Kommentar bei mir hinterlassen hat. Sie wundert sich, dass das Thema „Glauben“ im Fragebogen nicht auftaucht. Ich glaube, dass sie damit genau ins Schwarze getroffen hat, zumindest in Deutschland.
Kommt man mit der Coronakrise besser klar, wenn man religiös ist? Kann ich nicht sagen, aber ich weiß von einer noch unveröffentlichten Studie, die so etwas ähnliches erforscht hat. Nämlich, wie Religion sich auf das „Warten unter Unsicherheit“ auswirkt, eine Situation, die psychologisch dem stark ähnelt, was viele gerade erleben. Das Ergebnis der Studie legt nahe, dass religiöse Menschen sich jetzt vermutlich sogar mehr Sorgen machen als der Rest der Bevölkerung. Wie stark der Effekt ist, hängt allerdings davon ab, an welchen Gott man glaubt. Ein zorniger Gott bereitet den Leuten tendenziell mehr Sorgen als ein gütiger Gott. Man sollte sich darüber nicht wundern. Es steht im Grunde genau so in der Bibel: Wer darauf hofft, dass der Glaube einem das Leben schon auf Erden leichter macht, gehört zu den „elendesten unter allen Menschen“. Der religiöse Gehalt der Seuche liegt wohl in der fundamentalen Erfahrungen, die wichtigsten Dinge seines Lebens nicht im Griff zu haben.

Ansonsten sind wir heute mehr als 1000 Kilometer gefahren. Ich bin müde und habe deshalb für die Reiseteil Piglet als Ghostwriter engagiert. Man muss etwas zur Szenerie sagen: Utah ist der spektakulärste Staat, den wir bisher gesehen haben. Schon auf der Hinfahrt weiter im Süden war das so. Heute: Die Gegend um Salt Lake City ist wie eine in Landschaft gegossene Wagner-Oper. Bombastisch. Hörner. Pauken. Viele Posaunen. Alles in vier- bis fünffacher Besetzung. Überwältigend, bizarr, atemberaubend schön – aber über weite Strecken vollkommen unbewohnbar. Wagner halt.
Die Fotos aus Utah fallen alle beschämend unzutreffend aus, weshalb ich hier keine posten möchte. Insgesamt fahren aber auch in Nevada und Wyoming nicht viele Autos und es geht sehr, sehr oft geradeaus:

Einmal am Rastplatz steht plötzlich ein älterer Mann neben mir, und während wir so in sechs Fuß Abstand unseren Obliegenheiten nachgehen, erzählt er, dass er sich auf dem Weg nach Hause befindet. Kanada. Er hat da viel Geld in eine Anlage gesteckt, in der Touristen Jagd- und Angelausflüge unternehmen können. In den kommenden Wochen werden jetzt aber keine Gäste kommen. „Was haben wir in den USA? 320 Millionen Leute? Und 600 Tote? Deshalb machen wir alles dicht? Die spinnen doch!“
Kurz danach hören wir im Radio Donald Trump, der die Öffentlichkeit an seinen aktuellen Gedanken teilhaben lässt. Man dürfe die Arznei nicht schlimmer machen als die Krankheit selbst. Vielleicht haben er und mein Pinkelnachbar sich ja vorher abgesprochen.
Während der vergangenen Stunden fahren wir durch Wyoming. Auch schön da. Aber ich sag mal so: Wenn man irgendwann mal einen Ort braucht, an dem einen garantiert keine Sau findet – das hier wäre ein guter Anfang.
In unserem Hotel in Cheyenne (sechs nachgewiesene Coronafälle) trägt die Frau am Empfang Gummihandschuhe. Nicht viele Gäste. „Wir machen jetzt auch bei den Räumen social distancing. Die Zimmer neben ihrem Zimmer sind garantiert leer.“ Toll, wie die Leute hier selbst bei kleiner Bühne noch ein Talent dafür haben, die schlimmsten Sachen als was Großartiges zu verkaufen. Ich meine das vollkommen ernst.

P.S.: Im regionalen Nachrichtensender berichten sie jetzt aus dem Nachbarstaat Colorado. Einige Städte werden morgen eine Stay at home order ausgeben. Vor den Schnaps- und Marihuana-Läden haben sich sofort nach der Ankündigung so lange Schlangen gebildet, dass die Behörden bald abgewunken haben: Okay, okay, beide Arten von Geschäften dürfen geöffnet bleiben.
Wenn die Krankheit kommt, will man die Medizin nicht verbieten.