Ist Michigan gefährlich oder nicht?

Vorgestern Geburtstag gehabt, also auch viel mit Leuten aus Deutschland kommuniziert. Dabei habe ich wiederholt festgestellt, dass einige sich Sorgen machen: Hat Jochen sich womöglich den falsch Platz für die Coronakrise ausgesucht? Anders gefragt: Wie gefährlich ist Michigan?

Dazu sieben Gedanken.

  1. Ich weiß, dass Michigan weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Das Bild oben ist ein Screenshot aus einem ZDF-Beitrags vom 1. Mai. Damals haben ein paar Leute im Parlamentsgebäude der Hauptstadt Lansing protestiert – einige davon hatten Waffen dabei. Für deutsche Augen (auch für meine) war das relativ verstörend. Man hört die Stimme von Obelix im Kopf: Die Spinnen, die Amis! Rechtlich, so war zu hören, war die Sache mit den Knarren aber okay. Man darf in Michigan Waffen tragen, so lange man sie offen trägt. Heute lese ich jedoch in der Tagespresse, dass ein paar Dinge dann doch verboten sind; man darf mit den Waffen nicht grundlos drohen, zielen oder rumfuchteln („brandishing“). Auf all das stehen bis zu 90 Tage Knast.
  2. Es gab Abgeordnete – so stand auf Twitter zu lesen – die sich vorsichtshalber schusssichere Westen angezogen haben. Ebenfalls auf Twitter haben Leute mit der „bewaffneten Revolution“ gedroht, falls die Gouverneurin weiter bei ihren Notverordnungen bleibt. Wieder andere reden seither über die Demonstranten als „Michigan Terrorists“ und wollen sie zur Verantwortung ziehen. Ich verlinke das nicht. Dumm Tüch, das.
  3. Auch nicht gefallen hat mir die Tatsache, dass Demonstranten vor dem Wohnhaus von Gretchen Whitmer aufgekreuzt sind. Macht man nicht, gehört sich nicht.
  4. Ebenfalls aus den sozialen Medien habe ich gehört, dass es bei den Protesten, die ja sehr nach „Stimme des Volkes“ klangen und aussahen, in Wahrheit um systematisch geplante und finanzierte Aktionen handeln soll, die nur ein Ziel kennen: Die demokratische Gouverneurin schlecht aussehen lassen – und am Ende die Wiederwahl Donald Trumps sichern. Die bewaffneten Kerle (und der Typ mit dem Bart im Bild oben) seien professionelle Protest-Chargen aus Kalifornien, die für Geld überall Ärger machen, wo man sie braucht. Dass bei all dem auch Geld und politische Interessen mit im Spiel sind, glaube ich sofort. Zu den Profi-Demonstranten gleich mehr unter Punkt 7.
  5. Die Story klang gut. Sie hat mich beruhigt und zu dem gepasst, was ich gerne glauben möchte. Ich habe die Leute hier in Michigan ohnehin als ziemlich entspannt kennengelernt. In mancherlei Hinsicht wirklich sie sogar ziemlich deutsch. Man grüßt auf der Straße, ist freundlich, hilfsbereit, sehr weiß auch, wie man zugeben muss. Ann Arbor kommt mir ungefähr so gefährlich vor wie … hm … sagen wir mal: Reinbek. Die Bilder aus Lansing und meine Erfahrungen aus Ann Arbor passen also nicht so recht zusammen.
  6. Andererseits war ich mit Nicki auch schon zwei, drei Mal in Lansing und dabei haben wir zumindest einmal was Seltsames erlebt. Der Tank in Nickis Wagen war so gut wie leer. Also per App die nächste Tanke gesucht und hingefahren. Das war eine dieser eher kleinen, eher abgerockten Ecktankstellen. Sie passte gut ins Viertel, was mir aber erst nach einer Minute so richtig aufgefallen ist. Alle Zapfsäulen waren nämlich besetzt. Die Leute lehnten an ihren Autos und quatschten miteinander. Hui. Da hatten sich wohl zufällig ein paar alte Bekannte getroffen. Niemand schien in Eile zu sein. Entsprechend hat auch keiner bezahlt oder so getan, als würde er (oder sie) bald weiterfahren. Irgendwann hat Nicki den Motor abgestellt. Auf einmal ist rechts ein ziemlich verbeulter Wagen an uns vorbeigezogen, einer der Leute an der Zapfsäule ist in sein Auto gesprungen und ein paar Meter weitergefahren, der Typ im Auto rechts von uns hat kurz den Motor aufheulen lassen und ist dann – Zack! – an die Säule gehüpft. Getankt hat er aber nicht. Er saß nur in seinem Wagen. Der Wagen stand nur da.
    Und da hab ich laut „Hm“ gesagt. Und Nicki hat auch laut „Hm“ gesagt. In der ganzen Zeit hat keiner der Leute zu uns rübergeguckt. Alle habe getan, als wären wir gar nicht da. Und da haben wir beschlossen, dass genau das vermutlich die beste Idee ist: nicht da sein. Schon kurios, dass „an die Tanke fahren“ natürlich überall einem sozial festgelegten Skript folgt. Dieses Skript sieht überall ähnlich aus. Nicht exakt gleich, aber so, dass man’s irgendwann hinkriegt. An dieser Tanke jedoch galten Regeln, die mir (und auch Nicki) bis heute verborgen geblieben sind. Und ja: Das war komisch. Und hat sich nicht gut angefühlt. Das war einer der wenigen Momente, wo ich dachte: Ganz so kuschelig wie in Reinbek ist es dann doch nicht. Die anderen Momente waren in Detroit. Aber Detroit ist eh ne Geschichte für sich.
  7. Ich habe jedenfalls nochmal geguckt, ob ich irgendwo einen ordentlichen Bericht finde, der mir was über die gekauften Protest-Profis aus Kalifornien erzählt. Und da gab’s tatsächlich was. Nämlich einerseits Social Media und das unter Punkt 4 erwähnte Narrativ. Und dann die traditionellen Medien. Die haben eine Sache namens „Faktencheck“. Und da stand zu lesen: Die Story stimmt einfach nicht. Es war ganz einfach Fake News. Ein Gerücht. Die Sache sieht wohl so aus. Ja: In Kalifornien gab es einen weißen Typen mit Bart, der in einem Buchladen Randale gemacht hat. Und ja: Im Capitol zu Lansing gab’s einen Typen, der so ähnlich aussah. Ist aber nicht derselbe. Der Typ in Lansing kommt tatsächlich aus Michigan und hat sich ansonsten sehr für die Legalisierung von Marihuana engagiert. Daraus lerne ich mindestens drei Dinge. Erstens: Wenn einem eine Geschichte passt, fängt man viel später an, die Sache zu googeln und zu verifizieren. Zweitens: Journalist sein (mein Beruf) ist unter anderem deshalb so anstrengend, weil man gegenüber den Redakteuren jeden Rotz mit einer guten Quellen belegen muss (zumindest, wenn man für ordentliche Blätter schreibt). Hier bin ich Blogger, hier darf ich’s sein. Wenn ich Unsinn schreibe, sagen mir das die Leute und ich kann’s am nächsten Tag korrigieren, ohne mein Gesicht zu verlieren. Es sieht aus wie dieselbe Sportart. Ist es aber nicht. Drittens: Wenn man ein bisschen länger hinschaut, findet man fast bei jedem noch etwas, das man mit ihm gemein hat. Sobald man es gefunden hat, hört er auf, ein Vollpfosten oder Ork zu sein. Man könnte anfangen, miteinander zu reden.

Michigan ist – zumindest da, wo ich gerade bin – vermutlich nicht gefährlicher als Hamburg.

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