Into the Mystic

Metzger’s Michigan Monday #4.5

Amerika ist ein Versprechen. Man steigt ins Auto und fährt los, und der Ort, an dem man dann irgendwann rauskommt, ist nicht mehr von dieser Welt, sondern ein verzaubertes Nirgendwo, an dem endlich alles gut wird.

Und so lädt mich Nicki in ihren Wagen und wir fahren nach Norden. Im Radio läuft Van Morrison. „Into the Mystic“. Soundtrack für ein Wochenende.

Michigan gehört zum Mittleren Westen. Man denkt spontan: „Aha, Maisfelder!“ Stimmt aber gar nicht. Jetzt im Herbst sieht weiter nördlich alles so aus, wie uns die Kalenderverlage in Deutschland den amerikanischen Indian Summer verkaufen wollen.

Ohnehin hilft ein Blick auf die Landkarte: Michigan besteht aus zwei Halbinseln, von denen ich die obere (die praktisch zu Kanada gehört, was man aber nicht laut sagen darf), nie persönlich gesehen habe. Die untere Halbinsel kann man sich vorstellen wie Jütland, aufgepumpt auf dreifache Größe. Überall drumrum Wasser. Sehr viel Wasser. Allein der Lake Michigan ist größer als Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zusammen. „Ein Meer aus dem man trinken kann“, hab ich mal vor Jahren für ne Frauenzeitschrift formuliert, und das war nicht gelogen.

Wir fahren in ein Städtchen namens Elk Rapids, das zwischen zwei Seen liegt. Dort hat ein Freund seine Bleibe gefunden und uns eingeladen.

Die Holzhäuser an den Küstenorten sehen manchmal aus wie die Sommerhäuser in Dänemark, die kleinen und mittelgroßen Seen, von denen es viele gibt, erinnern mich an Schweden, die Fjorde am großen Lake Michigan ans südliche Norwegen. Oben auf der „UP“, der Upper Peninsula, leben die Nachfahren finnischer Malocher, die dort unter übelsten Bedingungen Kupfer aus der Erde gebuddelt haben. Jawohl! Im Norden ist Michigan wie Skandinavien, aber mit mehr bunten Ahornbäumen.

Zum offenen See hin liegt eine berühmte Dünenlandschaft, die „Sleeping Bear Dunes“. Unser Gastgeber sagt, dass der Name von einer alten Legende der Ureinwohner stammt. Eine Bärin soll mit ihren zwei Welpen über den See geschwommen sein. Sie hat es geschafft, mit letzter Kraft und sich erschöpft an den Strand gelegt, sie schlief ein und wurde zur Düne. Draußen im See liegen zwei unbewohnte Inseln: Ihre Kinder, für die der Weg ans Land irgendwann zu weit wurde. Man kann sich heute mit dem Boot hinüberfahren lassen und dort campen.

Wir stapfen vom Parkplatz aus über die Dünen zum Wasser.

Der Strand sieht aus wie bei uns an der Ostsee. Rechts das Land in der Ferne: Das ist eine der beiden Bärenkinder-Inseln.

Es ist wahnsinnig windig und regnet ab und zu. Aber uns geht’s gut.

Ein bisschen weiter mit dem Wagen kommen wir dann an eine noch größere Düne. Es fällt steil ab zum Wasser hin und angeblich muss man regelmäßig Leute von dort unten bergen, die’s aus eigener Kraft nicht mehr durch den Sand zurückschaffen. Ein großer Spaß für die ganze Familie.

Doch, herrje, in den Staaten klebt noch am Trip hinein ins Mystische ein Preisschild. 3000 Dollar kostet die Rettung vor dem Tod durch Ertrinken.

Später wandern wir noch durch ein Naturschutzgelände, auf dem früher ein Sommercamp für Kinder und Jugendliche stand. Heute erinnern nur noch ein paar verlassene Apfelbäume und ein paar Gedenkschilder an den Ort. Weiter in die Hügel rostet unter den Ahornbäumen ein Motor, der früher einen kleinen Skilift angetrieben hat. Ja, hier hat in den 1960ern tatsächlich jemand ein rustikales Skiresort betrieben. Doch es verschwand wie viele andere Etablissements dieser Art. It was worth a shot, I guess. Alles ist im Wandel, alles ein Traum vom großen Wurf, doch die Träume fruchten nicht. Der Wald holt sich am Ende alles wieder.

In Elk Rapids steht ein Kunstpark unten an der East Bay. Manche Schilder dort zeigen den Weg zu einer friedlicheren Welt. Erstmal mit sich selber klarkommen, lautet die Botschaft. Das ist, wir wissen es alle: schwer genug.

Eine Eulenstatue symbolisiert Weisheit. Viele Menschen setzen sich hier oben zur Ruhe. Aber die Grundstücke am Wasser kosten wohl ein Schweinegeld.

Am Abend gehen wir in eine örtliche Brauerei, wo sie echt sehr gute Biere zapfen und auch ein paar Kleinigkeiten verkaufen, die man Essen kann. Sie haben, weil’s kühl und windig ist, den Food Truck in den Schankraum gezogen. Im Fernsehen läuft College Football. Wir haben zuvor im Radio (auf der Mittelwelle) den Sieg von Michigan gegen Penn State mitverfolgt. Interessant, mit welchen Metaphern Sportkommentatoren arbeiten. Man „nimmt Zeit von der Uhr“, lässt „den Gegner ausbluten“, eine klassische Angriffsformation nennt sich „die Schrotflinte“ und so weiter. Aber nach erstem Kopfschütteln versteht man dann doch das eine oder andere vom Spiel und ich bekomme Respekt vor dem, was die Jungs draufhaben und wie makellos das Kollektiv manchmal funktioniert. Eigentlich ein Wunder, dass das in der Sowjetunion nie groß geworden ist. Stattdessen: Kugelstoßen. Die Welt ist manchmal verrückt.

Man könnte einfach dort oben wohnen, ein kleines Segelboot dabei. Eine Angel, womöglich. Und seine Geschichten schreiben. Solche Sachen kommen einem dann in den Kopf. Ist natürlich Quatsch.

Aber mein Kopf (und ja, mon dieu! ich sag’s einfach mal so: meine Seele) ist wieder gefüllt mit Geschichten, mit einer inneren Verbindung zur Welt, zur Natur, zur menschlichen Sehnsucht nach Erlösung. Hat mit gefehlt die letzten Wochen.

Und das liegt, klar, zum Teil an meiner Begleitung. Aber auch an dieser sehr eigenartigen Gegend oben in Michigan. Bin froh, dass ich mal dort gewesen bin.

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