Am vergangenen Wochenende Albin de la Simone gesehen im kleinen Saal der Elphi. Beobachtungen der banaleren Art: Der Raum ist nicht gemacht für Musik mit Schlagzeug. Egal. Der Künstler selbst hat seine Lieder gesungen und charmant auf Englisch mit uns geplaudert mit seinem französischen Akzent. Man musste ihn lieb haben. In den Tagen danach noch ein paar seiner Songs auf Spotify gehört und auf der heimischen Gitarre nachgespielt. Er hat kleine, clevere Tonartwechsel mit drin, die alles so plauderig und charmant machen wie die Ansagen im Konzert. Und in manchen Momenten hat mir die Moll-Scheiße komplett den Stecker gezogen, wie Herrndorf das mal formuliert hat. Komisch. Ich hab’s den Liedern zunächst gar nicht angesehen, naja, angehört.
Verfolgt mich auch seit Wochen, der Typ. Zum einen natürlich, weil der sehr gute Pianist der Band mit mir im Verein Tischtennis spielt. Aber irgendwie passt die Melancholie der Songs auch gerade zum Leben. Ich höre ihn jeden Tag. Mir ist dabei aufgefallen, dass Niels Frevert irgendwann angefangen hat, den Moment des Stecker-Ziehens in die C-Teile seiner Lieder zu packen, also jene Parts, die mit dem Rest des Stückes mehr verschwägert als verwandt sind. Dort, über die mit allem anderen fremdelnden Akkordfolgen, setzt er dann diesen einen Satz, der alles dreht oder verdichtet. Es gab im Konzert auch einen dieser Momente, die man vermutlich nicht gut planen kann. Wo jeder für sich auf einmal denkt: „Das sing ich jetzt mit.“ Und dann haben das auf einmal alle gemacht, ganz unaufgefordert. Und man hat den Jungs auf der Bühne angesehen, dass sie nicht damit gerechnet haben. Ich kann das schlecht beschreiben, aber ich glaube wirklich, dass in solchen Augenblicken ein eigenes Wesen entsteht, eine Art kollektives Tier, das natürlich viel größer ist, als alle zusammen. Ich glaube auch, dass Menschen für genau diese Momente so etwas wie Gottesdienste erfunden haben. Und natürlich aus Dankbarkeit für die bunten Blumen in den kommunalen Beeten (auch wenn dieses Symbolbild aus dem Garten stammt und nicht aus dem öffentlichen Raum).
Zwei Kleinigkeiten noch, die mich erstaunt haben. Erstens. Ist es klug, seinen Laden nach Krankheiten zu benennen?
Zweitens: Beim Tischtennis in einer Schulturnhalle in Eppendorf gespielt. Dabei dies hier entdeckt. Wie viel Selbstironie gehört dazu, um den auf der Kanonenkugel heranreitenden Baron von Münchhausen über das Eingangsportal eines Schulgebäudes zu tackern? Verführt es die jungen Leute zum Flunkern und Schummeln? Man weiß es nicht. Kurios.
Tatsächlich haben letzthin einige Leute gefragt, wie eigentlich unser Podcast „Sag mal, du als Psychologin …“ entsteht und wie wir dabei arbeiten.
Also los: Seit vergangenem Donnerstag sind … (nachzähl) … 31 Folgen bei Audible erschienen (hier geht’s zur aktuellen Folge). Die einzelnen Folgen dauern nicht selten über eine Stunde und werden von vielen Menschen gehört. Ich mag die Arbeit sehr. Barbara, Muriel und ich reden meist über viele, viele Studien und fallen einander dabei selten ins Wort. Das hat seine Gründe: Wir machen keinen sogenannten „Laberpodcast“, bei dem man frei drauf los plaudert und sich sozusagen den Winden des Schicksals anvertraut. Wir bereiten uns auf jede Folge vor, sprechen uns ab und wissen deshalb in den meisten Situationen, was als nächstes passiert. Ich gebe zu, dass ich anfangs noch skeptisch war gegenüber dieser Form, aber inzwischen hab ich meinen Frieden damit gemacht. Man kann einfach viel dichter arbeiten und in der begrenzten Zeit mehr Information unterbringen.
Das (zugegeben: nicht sehr gute) Foto oben zeigt, wie so eine Vorbereitung bei mir üblicherweise aussieht. Ich schreibe die Überthemen auf ein Whiteboard und stelle danach wirre Verbindungen her.
Ich liebe das Whiteboard! Es steht auf Rollen und ich kann es im Raum hin- und herschieben, wie ich will. Das Whiteboard zwingt mich, immer wieder aufzustehen, den Blick vom Rechner abzuwenden, in meinen Gedanken Ordnung zu schaffen und einen Überblick zu behalten. Wenn’s dann daran geht, alles in eine Reihenfolge zu bringen, rolle ich das Whiteboard an den Schreibtisch und tippe meine Gedanken nacheinander in den Rechner. Es ist die beste Arbeitsform, die ich jemals hatte.
Bis vor einigen Wochen hab ich noch anders gearbeitet. Ich habe mir für jede gelesene Studie ein paar Notizen in meinen Rechner getippt, die wichtigsten Stichworte auf Flashcards gekritzelt und die Flashcards dann auf dem Fußboden ausgelegt (siehe nächstes Bild). Das geht auch ganz gut aber manchmal muss man den Platz halt freiräumen, weil Besuch kommt oder der Hund läuft durch den Raum und dann ist die ganze schöne Ordnung im Eimer. Das fand ich mit der Zeit eher unbefriedigend.
Ich verwende übrigens immer noch solche Zettel, aber da die grobe Ordnung jetzt auf dem Whiteboard steht, fällt es mir leichter, einzelne Zettelhäuflein zu machen, die auf den Schreibtisch passen. Das gefällt mir besser, der Raum bleibt klarer strukturiert.
Manchmal verliere ich die innere Ordnung, wenn’s im Außen zu chaotisch wird. Ist einfach so. Es geht immer darum, die sehr begrenzten Denkkapazitäten auf das zu richten, was gerade anliegt und alles andere möglichst auszublenden. Das kennt vermutlich jeder, der schon mal was Längeres geschrieben hat.
Am Ende sammeln Barbara, Muriel und ich unsere Gedanken dann in einem gemeinsamen Google-Dokument, auf das wir alle zugreifen können.
Und dann geht’s irgendwann zu Timo ins Studio, wo wir die Sache aufnehmen.
Die Ideen für neue Folgen kommen übrigens zunehmend aus unserer Hörerschaft. Hörerinnen und Hörer schreiben uns eine Email an:
psychologin@audible.de
Wir sichten die Mails (wir können nicht alle direkt beantworten, wofür ich mich entschuldige) und sobald sich da ein Muster zeigt oder wir intuitiv auf etwas anspringen, entsteht daraus eben eine neue Folge. Das gefällt mir sehr gut. Das Verfahren schließt sozusagen eine kommunikative Schleife, unser Podcast wird zum Gespräch mit jenen, die uns zuhören.
Gerade sind wir übrigens mitten in der Vorbereitung zu einer Folge über Stärken und Werte. Die Psychologie dahinter besagt, dass wir alle ein Bündel an Werten haben, die uns antreiben, motivieren und unserem Denken, Fühlen und Handeln eine Richtung geben. Dass wir alle ein Bündel an Charakterstärken besitzen, denen zu folgen sich lohnt.
Wer uns Futter geben will, kann den kostenlosen Stärkentest der Uni Zürich machen, mir seine Daten schicken und dann reden wir darüber in unserer Folge.
Im Moment haben wir nur unsere eigenen Ergebnisse. Darüber können wir natürlich auch sprechen. Aber vielleicht wird die Folge interessanter, wenn wir noch ein paar Stärkenprofile drin haben, die ganz anders sind als unsere.
Jedenfalls freue ich mich auf Euer Feedback und womöglich das eine oder andere Stärkenprofil.
Manchmal wundert man sich, ob Humor in der Wissenschaft überhaupt existiert. Ein Blick ins BMJ (das „British Medical Journal“) endet alle Debatten. Dort findet man in den jährlichen Weihnachtsausgaben diverse Nonsense-Studien, die zumindest ein Schmunzeln auf die Lippen der geneigten Leserschaft zaubern.
Hier fünf Beispiele.
1. Wie sehr würde die „Silly Walks“ von Monty Python die öffentliche Gesundheit fördern?
In einer Weihnachts-Studie aus dem Jahr 2022 baten drei US-Kinesiologen 13 gesunde Freiwillige in ihr Forschungslabor und ließen sie dort eine Strecke von 30 Metern gehen. Im ersten Durchlauf ging jeder auf seine übliche Weise. In weiteren Durchgängen bat man sie, diverse Gehweisen aus dem „Silly Walks“-Sketch von Monty Python zu imitieren.
Ergebnis: Pro Gehminute verbrauchen wir z.B. während eines „Tea bag walks“ zwischen acht (Männer) und fünf Komma zwei (Frauen) Kilokalorien mehr als beim gewöhnlichen Gehen. Nur rund zwölf bis neunzehn Minuten Teebeutelgang verbrauchen also 100 Kilokalorien zusätzlich.
„Hätte man im Jahr 1970 eine Kampagne zur Förderung ineffizienter Bewegungsweisen gestartet, würden wir heute in einer gesünderen Gesellschaft leben“, resümieren die Wissenschaftler.
Demnach wird „Iron Man“ vermutlich niemals dement werden, hat aber erhöhte Chancen auf eine chronische Herz-Kreislauf-Erkrankung
Schlechter stehen die Dinge für den „Hulk“. Zu hoher Puls, zu viel Wut, zu viel Übergewicht – die Liste seiner Langzeitrisiken reichen von Herzrhythmusstörungen und Vorhofflimmern über allerlei Entzündungen bis zu Demenz und Schlaganfall. Die Fachleute befürchten ein vorzeitiges Ableben des Superhelden.
Sorgen bereitet den Forscherinnen auch der Lebenswandel von „Spiderman“. Sein nächtlicher Kampf gegen das Verbrechen führt zu ungesunden Schlafrhythmen; kaum, so fürchten die Fachfrauen, wird er es auf die acht bis zehn täglichen Ruhestunden bringen, die unserer Gesundheit so zuträglich sind! Man befürchtet auf Dauer u.a. Übergewicht, psychische Probleme, chronische Schmerzen und Übermüdung. Immerhin: Spiderman ist ein sportlicher Bursche. Das mindert sein Risiko, im Alter zu fallen und sich dabei die Knochen zu brechen.
3. Ein Fallschirm ist völlig überflüssig, wenn man aus einem Flugzeug springt
Dies ist bislang meine Lieblingsstudie aus dem BMJ. Sie stammt aus der Weihnachtsausgabe des Jahres 2018. Darin belegen einige US-Forscher, dass im Alltag zwar viele Menschen auf einen Fallschirm schwören, wenn sie aus dem Flugzeug springen. Ihr Experiment räumt jedoch auf mit diesem Aberglauben. Die Fachleute ließen dabei 23 Personen aus einem Flugzeug bzw. einem Hubschrauber springen. Zwölf der Freiwilligen trug einen Fallschirm, die übrigen elf einen leeren Rucksack. Ergebnis: Alle Teilnehmenden blieben gesund – Fallschirme sind völliger Humbug, eine Erkenntnis, die der Weltwirtschaft „jedes Jahr Milliarden Dollars sparen könnte“.
Ganz am Ende der Studie erfährt man: Die Teilnehmen verließen die Fluggeräte aus einer Durchschnittshöhe von 60 Zentimetern bei einer Geschwindigkeit von exakt 0 km/h. „Mediziner sollten dieses Detail beachten, falls sie die Erkenntnisse dieser Studie auf ihren eigenen Fallschirmgebrauch übertragen wollen.“
4. Gibt es Nebenwirkungen beim Schwertschlucken?
Dies ist ein Klassiker aus dem Jahr 2006. Die Autoren behaupten, dafür die Erfahrungsberichte von 46 Mitgliedern der internationalen Schwertschluckergilde gesammelt zu haben. 16 der Betroffenen klagten demnach über einen rauen Hals, sechs davon hatten beim Schwertschlucken ihre Speiseröhre perforiert, einer hatte sich ein Loch in die Lunge gebohrt, ein anderer litt unter einem schmerzhaften Rachenriss und so weiter und so fort. Das Fazit des Papers: Wer Schwerter schluckt, verletzt sich vor allem dann, wenn es sich dabei um besonders große und lange Schwerter von ungewöhnlicher Form handelt, wenn man mehrere Schwerter gleichzeitig schluckt und bei der Übung zusätzlich abgelenkt wird. Tröstlich: „(…) we did not find any deaths from sword swallowing.“
5. Gibt es wirklich so etwas wie einen „Schönheitsschlaf“?
Auch ein Klassiker, diesmal aus der Weihnachtsausgabe des Jahres 2010. Schwedische Forschende wollten wissen, ob der Alltagsbegriff des „Schönheitsschlafes“ nur dummes Gerede ist, oder ob Schlaf uns wirklich schöner macht. Sie wählten dabei einen komplett unparteiischen und fairen Versuchsaufbau: Die Freiwilligen wurden einmal fotografiert, nachdem sie gemütlich eine Nacht durchgeschlafen hatten. Danach hielt man die armen Menschen für mehr als 30 Stunden wach – und setzte sie danach noch einmal durch die Kamera. Hier ein Beispiel: Links das Morgenbild – rechts das übermüdete Bild.
Man ließ die Bilder von einer unabhängigen Jury bewerten. Das Resultat war eindeutig: Wenn wir sehr lange wach sind, sehen wir einfach Scheiße aus. Das Fazit des Wissenschaftsteams: Schlaf macht schön – also ab ins Bett!
Bekocht werden ist so toll. Und man kann es nicht allein, denn das müssen andere für einen machen.
Am Samstag zum Beispiel war ich seit langer Zeit mal wieder auf ner Kohlfahrt. Eine Kohlfahrt ist eine lange und vielköpfige Winterwanderung, die mit der Einkehr in einer Gastwirtschaft endet, wo dann ein traditionelles Grünkohlgericht gereicht wird. Mancherorts gehören viele geistreiche Gespräche und ebensolche Getränke dazu.
Ich habe dieses Brauchtum während meiner Studienzeit in Oldenburg kennengelernt. Nach meinem Umzug nach Hamburg und ins Hamburger Umland hat mir das dann sehr gefehlt, so dass ich einfach meine eigene Kohlfahrt veranstaltet habe. Das hat 2005 angefangen und war Jahr für Jahr immer toll.
Irgendwann haben die Gezeiten des Lebens mich dann in eine andere Ecke verschlagen, weshalb die alten Nachbarn die Sache einfach ohne mich weitergemacht haben. Es war eine Freude, da mal wieder mitzulaufen und all die bekannten Gesichter wiederzusehen. So eine Kohlfahrt ist eine tolle Sache und dass man dabei auch noch bekocht wird, hat mir doppelt gefallen.
Am Sonntag stand dann mein alter Freund Kai vor der Tür. Er hatte Lasagne gemacht und mit den Mengen übertrieben; jetzt drückte er mir eine Doppelportion davon in die Hand und wünschte mir einen guten Appetit. Herrlich war das. Er hat die Soße mit Estragon gewürzt, was dem Gericht eine spezielle und vermutlich bekömmliche Note gab.
Bekocht werden kann man nicht alleine.
Soziale Netzwerke entstehen erst, wenn andere mit uns in Kontakt treten und wir mit ihnen.
Der Mensch ist ja fast nichts ohne andere Menschen. Und wie dicht oder lose dieses Netzwerk an Liebe und Verbindung um einen her gewoben ist, wie jung diese Fäden sind und wie alt, wie gepflegt oder verstaubt, wie elastisch oder brüchig – all das kann man fühlen, fast körperlich. Das Netzwerk bestimmt, wer wir eigentlich sind, welche Informationen uns zugespielt und über unsere Ohren und Stimmen weitergetragen werden. Ob wir uns sicher und geborgen fühlen oder einsam und bedroht.
Es gibt Psychologen, die gar behaupten, dass unser Selbstwertgefühl nichts anderes ist als eine Art Tankanzeige auf dem Armaturenbrett unserer Seele. Wenn wir uns gut und stabil fühlen, steht alles auf Grün. Unser Netzwerk ist intakt, die Menschen um uns her mögen und schätzen uns. Aber wenn wir uns fühlen wie die letzte Wurst, laufen wir auf Reserve. Das fühlt sich beschissen an, und das Gefühl sagt: „Tu was! Kümmer‘ dich! Dein Netzwerk zerbröselt und du stehst ganz am Rand, bald wird keiner mehr anrufen, du wirst allein dasitzen – und dann wird es kalt und die hungrigen Raubtiere werden um deine Jurte schleichen und was dann? Tu was! Kümmer‘ dich!“
Auf Schlau nennt man das die „Soziometer-Theorie“, sie hat mir immer eingeleuchtet.
Ich würde auch sagen, dass meine Netzwerke in Hamburg ganz anders verwoben sind als in Michigan. Dort ist es leichter, mit Fremden sehr gute und tiefgehende Gespräche zu führen. Viel leichter sogar. Es passiert auch häufiger. Hier dagegen gibt es mehr Menschen, die sich freuen, wenn man ihnen über den Weg läuft. Mehr Fäden schießen kreuz und quer durchs Gewebe. Vielleicht liegt das an den sozialen Normen, an der Kultur, vielleicht aber auch an der insgesamt vor Ort verbrachten Zeit. Da hat Hamburg für mich noch immer die Nase vorn. Man weiß es nicht so genau.
Jedenfalls will ich folgendes loswerden: Man soll es so halten wie meine alten Nachbarn. Man soll Kohlfahrten veranstalten, bei der viele Menschen miteinander reden und sich danach bekochen lassen. Man soll es machen wie mein alter Freund Kai. Man soll immer mal wieder ein bisschen zu viel Soße und Pasta kochen und die Sachen dann spontan wem vorbeibringen, den man mag.
Denn all das macht die Welt zu einem besseren Ort.
Vorhin auf dem Hamburger Rathausmarkt gewesen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben dort gegen den Kahlschlag bei Gruner + Jahr demonstriert. Kurz davor hatten die Bertelsmann-Leute verkündet, dass sie mehr als 20 Zeitschriften einstellen und einen Haufen weiterer Titel verscherbeln wollen. Ein paar hundert Jobs werden wegfallen, ich habe traurige Gesichter gesehen.
Was für eine Schande!
Und klar kann man jetzt sagen: So läuft’s in der Marktwirtschaft. Wenn keiner mehr die Magazine kauft, muss man irgendwann hinschmeißen.
Über den Verlust der beruflichen Heimat kann ich wenig schreiben. Das ist nicht meine Perspektive, denn ich bin Freiberufler, ein vaterlandsloser Geselle, wie meine Großeltern gesagt hätten. War beim Rathaus deshalb einer von denen, die nicht geweint haben.
Meine erste Version davon – ich hab nachgesehen – hatte mehr als 75 Quellenangaben am Rand stehen. Es frisst ne Menge Zeit, all das zu dokumentieren, aber bei Geo geht es nicht anders. Dort sitzen unfassbar kluge, fleißige, belesene und auch noch freundliche Menschen, die sich die Zeit nehmen, jede einzelne der genannten Studien zu prüfen. Manchmal kommen dabei Rückfragen in einer Qualität, von der man andernorts nur träumen kann. Die machen das nicht, weil’s Spaß bringt, sondern damit am Ende möglichst wenig Unsinn gedruckt wird. Unsinn ist schnell geschrieben, und ich war deshalb jedesmal heilfroh, dass sich jemand meine Texte mit wachem Blick und richtig viel Checke nochmal angesehen hat.
Geo selbst soll, so hört man, erstmal bleiben. Die meisten anderen Titel aus der Geo-Familie werden eingestellt. Auch das unvergleichliche Geo-Epoche, das beste Geschichts-Magazin, das man in deutscher Sprache kriegen kann. Auch Geo Saison. Geo Wissen. Walden. Alles weg.
Die ganzen P.M.-Magazine, für die ich seit fast 15 Jahren schreibe, sollen verkauft werden. Die Hefte werden danach wohl noch ne Weile erscheinen, aber besser und zuverlässiger werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.
Gute Geschichten sind deshalb gut, weil viele Leute an ihnen arbeiten. Weil Abläufe da sind, um die Inhalte zu bewachen, um die Sprache zu bewachen, die Story zu bewachen. Aber Abläufe kann man nicht sehen. Sehen kann man nur das bunte Papier, das man nach Hause trägt. Ein Kumpel hat sich darüber gewundert, dass er für Geo am Kiosk knapp zehn Euro bezahlen musste.
Und jetzt?
Informationen wird es natürlich immer noch geben. Geschichten wird es immer noch geben. Aber sie werden morgen unzuverlässiger und schlechter sein, als sie gestern noch waren.
Meine Schwester meinte gerade am Telefon: „Im Internet kann ja jeder alles Mögliche schreiben. Woher soll ich denn wissen, was stimmt und was nicht?“ Genau so ist es.
In meiner Hamburger Nachbarschaft liegt die nach eigenem Bekunden „kleinste Biobackstube Hamburgs“. Es handelt sich um das „Rettungsbrot“ in der Klaus-Groth-Straße in Borgfelde.
Und dass es den Laden dort immer noch gibt, ist nichts weniger als ein Wunder. Bei meiner Abreise nach Michigan im September hat mir Martin, der Besitzer, nämlich eröffnet, dass er hinschmeißen will. Wie man hört, hat der gute Mann jede Woche 80 Stunden lang dafür geschuftet. Er ist schon deutlich in seinen 60ern und hat auf mich immer einen sehr fitten und fröhlichen Eindruck gemacht. Aber trotzdem, man versteht es, genug ist irgendwann genug.
Hier auf dem nächsten Bild kann man übrigens erahnen, dass es sich wirklich um einen klitzekleinen Laden handelt. Genau von der Sorte also, die man überall verschwinden sieht und danach weint man dann bittere Tränen.
Jedenfalls bin ich jetzt seit ein paar Tagen wieder in der Stadt und Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut hab, als im Rettungsbrot noch Licht brannte. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, kein handgeknetetes Biobrot mehr von jenseits der Straße kaufen zu können, sondern das Zeug ausm Supermarkt essen zu müssen. Jetzt aber: Juhu, das Rettungsbrot lebt immer noch!
Im Laden steht jetzt jedenfalls Dirk. Er ist Bäcker und hat – ich vermute aus purem Enthusiasmus – den Laden übernommen und Martin überredet, sich noch für zwei Tage die Woche in die Backstube zu stellen für einen geschmeidigen Übergang.
Dirk und ich sind nicht nur ein einem ähnlichen Alter, wir besuchen offenbar auch denselben Friseur.
Ich möchte jedenfalls, dass viele Menschen im Rettungsbrot einkaufen. Wollen wir Leute wie Dirk nicht unterstützen, so gut wir können? Doch, das wollen wir! Das Brot und der Apfelkuchen sind wirklich außergewöhnlich klasse. Und Franzbrötchen wie hier kriegt man nirgendwo sonst in der Stadt, wirklich nicht. Also: Wenn Ihr in der Gegend wohnt oder mal in der Nähe zu tun habt, checkt den Laden aus.
Und jetzt noch eins: Dirk braucht wen, der am Wochenende oder auch unter der Woche im Laden Sachen verkauft. Er kann nicht alles allein machen. Mir ist klar, dass der Markt für solche Jobs schonmal günstiger aussah, aber wer weiß? Vielleicht liest hier ja jemand mit, der Lust hat, in der kleinsten Biobackstube Hamburgs ein paar Taler zu verdienen? Oder wen kennt, der wen kennt? Das Publikum ist sensationell, wie früher aufm Dorf, als ich noch ein Junge war.
Zurück in Deutschland. Bin also mal wieder mit dem ICE gefahren, und dabei hat ein sehr günstiges Angebot der Bahn mich dazu verleitet, mit alten Gewohnheiten zu brechen und in die 1. Klasse zu steigen.
Die Sache mit den Status-Unterschieden fällt mir bei den Reisen über den Teich immer wieder in die Augen, weil die Airlines dabei alle menschlichen Schwächen nutzen, um auf möglichst schmerzhafte Weise möglichst viel Kohle zu machen. Zum Beispiel: beim Einsteigen. Jeder weiß es, aber es beschämt einen halt trotzdem jedesmal wieder neu. Alle stehen am Gate, dann dürfen irgendwelche Leute zuerst einsteigen, während man die Normalos dazu zwingt, dem Privileg mit neidischen Blicken zu folgen. Da bezahlt man natürlich gern etwas mehr für die Businessclass. Unser 7. Sinn für Status ist ein „Stone Age Bias“, wie es ein paar kluge Leute man formuliert haben. Man kann’s uns kaum austreiben, also erklärt man’s zum Geschäftsmodell.
Bei der Bahn jedoch entfällt all das. Man darf nicht früher einsteigen, nur weil das Ticket teurer war. Sie zwingen „the hoi polloi“ auch nicht dazu, sich später schamvoll vorbeizudrücken an den Vornehmen, die bereits sitzend am Sekt schlürfen, das Handgepäck sicher verborgen im für alle anderen knappen Überkopfstauraum. Im Prinzip finde ich das ja besser so, dennoch nimmt es dem Ganzen natürlich dieses heimelige quasi-koloniale Kribbeln, das man bei den aufgeblasenen Businessclass-Leuten in der Leibgegend vermutet.
Und dann die Fahrerfahrung selbst! Sind die Sitze geräumiger? Vielleicht. Ich spüre es aber nicht. Und überhaupt: Wenn die Bahn nicht überall ein dickes „1.“ auf die dünnen Hinterkopfpolsterkissen applizierte hätte – mir wäre der Unterschied insgesamt nicht aufgefallen.
Naja.
Vielleicht doch. Denn alle paar Minuten kam wer vorbei, um einem einen Kaffee aufzuschwatzen. Das hat die Ruhe dann doch erheblich gestört. Und mir mal wieder gezeigt, wie wenig man lernt aus leidvollen Erfahrungen vergangener Jahrzehnte. Denn NATÜRLICH hab ich irgendwann zermürbt gerufen: „Dann bringt mir in Gottes Namen halt auch einen!“ Junge, Junge, Junge! Ich wüsste gar nicht, wie ich zu Hause eine derart abscheulich übersäuerte Plörre zubereiten sollte. Wirklich nicht. Was muss man dafür bitte alles ins Wasser kippen? Hab das Zeug dann natürlich trotzdem ausgetrunken, wo ich schon mal dafür bezahlt hatte (→ „sunk cost effect“).
Nun ein Wort zum Publikum, also denen, die offenbar gewohnheitsmäßig in den teuren Wagen sitzen: Es sind überwiegend Männer. Wichtige Männer. Ihr Haupthaar ist schütter und ergraut wie das meine, und sie machen die Reise nicht zum Vergnügen, sondern gehen fernmündlich (aber selbstbewusst!) irgendwelche Businesspläne durch, attendieren virtuelle Meetings und debattieren mit Kollegen allerhand Orgazeugs. Dann kurz ein Call in der Zentrale: „Wie hieß nochmal meine Mentee ausm Rechenzentrum? Melanie! Stimmt! Natürlich!“
Irgendwann dann Ankunft in Hamburg. Die Freude über den blauen Himmel: unbezahlbar.
Auf der linken Seite, dort also, wo am Zielbahnhof der Ausstieg sich befand, waren, wie uns allen erst jetzt bewusst wurde, drei von vier Türen defekt.
An Luke Nummer vier bildeten sich dann die entsprechenden Schlangen von beiden Seiten. Immerhin: Die anderen Mitreisenden ertrugen all das mit Fassung. Der Anzeigenmonitor im Wageninneren schrieb gelegentlich Sätze in französischer Sprache.
Was ich mit all dem sagen will: Die 1. Klasse ist alles andere als erstklassig. Not worth the money. Ich schreib das hier nieder, damit ich’s nicht genau so vergesse wie diesen gustatorischen Amoklauf, den sie für 3,80 als „Kaffee“ verkauft haben.
Aber insgesamt will ich mich nicht beschweren, denn die von mir erworbene Dienstleistung bestand in einer Fahrt von einem Bahnhof zum anderen. Und das – ich muss es zugeben – hat die Bahn in meinem Fall wirklich spitzenmäßig hingekriegt.
In den USA gibt es einen Satz, der die Menschen zu Zivilcourage ermuntert. „See something, say something.“ Das bedeutet: Wenn man in der Öffentlichkeit etwas sieht, das den geltenden Normen widerspricht, soll man etwas sagen, sei es durch beherztes Einschreiten oder durch einen Alarm bei der zuständigen Ordnungshut.
Da ich gerne Scherze mache, drehe ich derlei Sätze manchmal um, einfach um zu sehen, was dabei herauskommt: „Say something, see something.“ Das Bild oben ist ein Produkt von Dall-E, ich habe den Satz dort eingegeben und die KI gebeten, das Ding im Stile von Joan Miró zu malen. Cool, oder?
Jedenfalls kommen beim Sätze-Umdrehen manchmal Dinge raus, die einen länger verfolgen, als man mag. Dieser hier sitzt mir mächtig im Nacken.
Wir sagen was – und sehen es auf einmal überall. Wir sehen dann plötzlich nix anderes mehr.
Wir sagen etwas – und glauben es auf einmal. Wir glauben dann plötzlich nix anderes mehr.
So funktioniert der Mensch. Seit den 1960er Jahren gibt es dafür einen Begriff: Es handelt sich um einen Bestätigungsfehler, einen Confirmation Bias. Wir sehen dann nur noch, was das Gesagte bestätigt, wir übersehen, was es widerlegt. Ich vermute: Weil das einfach soooo viel Denkarbeit erspart. Der Thalamus filtert alles andere raus, wie ein Palastwächter, der die ungebetenen Gäste abwimmelt, oft auch mit Gewalt, ehe sie den Thronsaal des Bewusstseins betreten.
Selbst in der Wissenschaft droht der Bestätigungsfehler. Als Waffe dagegen lautet das Standardverfahren (eigentlich), dass man mit aller Kraft versuchen soll, die eigene These zu widerlegen. Jede Publikation, jede Studie, die eine These bestätigt, bedeutet (eigentlich): Man ist beim Widerlegungsversuch dermaßen gründlich gescheitert, dass man achselzuckend nicht anders kann, als die These anzunehmen (bis jemand kommt, dem das Widerlegen gelingt).
Nicki sagt gerade: „Ey, man könnte doch auch ’selektive Wahrnehmung‘ sagen. Für das Grundphänomen haben wir mindestens 20 verschiedene Begriffe.“ Stimmt natürlich.
Ich merke es jedenfalls im Alltag. Nicht an mir. Sondern natürlich zuerst bei meinen Mitmenschen. Die haben EINMAL was gesagt, EINMAL die Welt so und so gesehen – und schon ist alles verloren. Keine Erfahrung, keine Einsicht bringt sie wieder ab von der einmal gemachten Deutung. Völlig irre. Kennt jeder, glaub ich. Man verbeißt sich in diesen Knochen und lässt nie wieder los.
Der letzte Schritt: Ich merk’s auch an mir selbst. Aber das ist knifflig. Viel kniffliger. Weil es fürs Gehirn wahnsinnig teuer ist, wahnsinnig aufwendig. Man muss das ganze Bild neu malen. Das kriegt man selten hin.
Vielleicht hab ich mir genau das vorgenommen: Einmal im Monat etwas sagen, ohne es hinterher zu sehen. Oder noch besser: Etwas zu sehen, obwohl ich vorher das Gegenteil gesagt habe.
Hab Nicki zu Weihnachten eine AeroPress geschenkt. Es war ein Tipp von Eric, der sich selbst als „Coffee Princess“ bezeichnet, was wirklich witzig ist, weil Eric nicht nur wie ein Wikingerkrieger heißt, sondern auch wie einer aussieht.
Manchmal macht man sich Geschenke ja in Wahrheit selbst, und genau so ein Geschenk scheint mir diese Kaffeemaschine hier auch zu sein.
Es ist eine sinnliche Erfahrung, damit Kaffee zu kochen und gut schmecken tut’s auch noch.
Das geht so: Man legt ein Filterpapier in den zusätzlich erworbenen Metallfilter.
Man schraubt den Filter mit einer leichten Drehung aus dem Handgelenk ans untere Ende des AeroPress-Zylinders. Dann füllt man eine angemessene Menge an gemahlenem Kaffee ein (ich habe Bohnen von einer örtlichen Rösterei besorgt und sie direkt vor dem Aufbrühen relativ fein gemahlen).
Danach stellt man den Zylinder auf eine leere Tasse und gießt gelassen das kochende Wasser auf – möglichst in kleinen Kreisbewegungen, um das ganze Kaffeepulver zu benetzen.
Dann wartet man zwei Minuten ab und schwenkt den Zylinder leicht an, damit das Pulver sich besser setzen kann. Weitere 30 Sekunden später drückt man von oben den Kaffee durch den Filter in die Tasse.
Zack, der Kaffee ist fertig! Wenn man tüchtig gedrückt hat, schwimmen sogar ein paar Blasen obenauf und man kann sich erzählen, dass es sich dabei um eine Art Crema wie beim Espresso handelt. Ist natürlich Quatsch, aber man fühlt sich gleich viel besser damit.
Ich bilde mir ein, dass der Kaffee weniger bitter über die Zunge fließt als aus der Maschine und dass man die weicheren Aromen besser schmecken kann. Vielleicht Placebo, was weiß ich. Mir macht die Sache jedenfalls viel Freude und wenn ich wieder zurück nach Hamburg komme, werde ich mir für dort auch so eine kleine Maschine besorgen. Hat so was MacGyver-mäßiges.
Beim letzten großen Spaziergang in 2022 lag der ganze See unter Eis, auf dem aber schon das Schmelzwasser schwappte.
All das nur, um später irgendwann nachschlagen zu können und zu sagen: „Guck mal, wie gut es uns damals ging.“
Im Februar 2017 war ich in Portland/Oregon auf einer Forschungskonferenz namens CSCW. In einem der Vorträge ging’s um das Konzept der „Affordanz“, über das ich neulich schon mal was geschrieben habe. Ich weiß das alles noch ziemlich genau, weil in der anschließenden Diskussion die hochgeschätzte Jessica Vitak von der University of Maryland was sehr Schlaues gesagt hat. Nämlich: dass im Moment noch alle Social Media beforschen – bis das nächste große Ding kommt, von dem im Moment aber noch keiner weiß, was genau das sein wird. Und natürlich ist das ein Gemeinplatz. Alles hat seine Zeit und endet irgendwann; jedes Bild umgibt ein Rahmen, zu dem natürlich stets auch ein Jenseits existiert. Trotzdem hat mich Vitaks Satz damals sehr inspiriert. Dieser Tage musste ich häufig an ihn denken, denn: Das nächste große Ding ist da. Wir haben jetzt alle die Zukunft gesehen. Sie ist faszinierend und wird, wenn ich das richtig einschätze, viele, viele Menschen den Job kosten.
Natürlich spreche ich von „generative AI“, jener Form der Künstlichen Intelligenz, die in der Lage ist, neue Inhalte zu erzeugen. Neue Bilder. Neue Musik. Neue Texte. Solche Dinge. Das Bild oben zum Beispiel stammt von so einer Maschine. Ich habe Dall-E einfach gesagt, dass ich mir ein Bild wünsche, das das Überredungsprinzip der Reziprozität im Stile von Paul Klee malt. Ein paar Sekunden später hat mir das Ding dann mehrere Versionen ausgespuckt, das Bild oben hat mir am besten gefallen.
Dall-E ist kostenlos, ein Produkt von „OpenAI“, einem milliardenschweren gemeinnützigen Forschungslabor aus San Francisco, das gelobt hat, nur Gutes mit der neuen Technologie zu bezwecken. Elon Musk hat da ne Menge Geld reingebuttert, die Firma Microsoft ebenfalls. Falls Ihr noch nicht mit Dall-E rumgedaddelt habt: Macht es, sobald Ihr ne freie Minute dafür habt. Man muss sich anmelden – und kann sofort loslegen. Lasst Euch Bilder malen. Denkt Euch interessante Anfragen aus. Nur, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was die Maschine alles kann. Vielleicht auch für das, was sie nicht kann.
Dass Künstliche Intelligenz/Artificial Intelligence irgendwann mal den ganzen Laden aufmischen wird – geschenkt! Aber manchmal fehlt mir – wie viele anderen Menschen – einfach die Fantasie, ums sich so etwas wirklich vorstellen zu können.
Die ersten beiden Schüsse vor den Bug in dieser Hinsicht hab ich dann Ende 2019/Anfang 2020 bekommen. Ende 2019 hab ich für Brand Eins Richard Socher interviewt, der damals Chief Data Scientist von Salesforce war. Er hatte auf einer Konferenz in San Francisco gerade eine Demo-KI vorgestellt, die als Telefonstimme Kundenanfragen beantworten konnte. Sie hat das viel besser, fürsorglicher und eleganter gemacht, als die meisten Menschen aus Fleisch und Blut das hinkriegen würden. Das war schon mal n Hammer und hat mich sehr beeindruckt. In unserem Interview haben wir natürlich auch über die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gesprochen. Er meinte damals: „Einige Jobs werden wegfallen. Und viele Jobs werden sich durch KI verändern.“ Denn: „KI wird uns all das abnehmen, was ermüdend und langweilig ist.“ Das hat mich in meiner egoistischen Sicht natürlich erstmal beruhigt, weil ich meinen eigenen Job ja für wahnsinnig wichtig und aufregend halte (ich lache beim Tippen dieses Satzes bitter in mich hinein).
Im März 2020 saß ich dann in Berkeley bei einer Konferenz, wo’s um Roboter ging. Auch daraus ist letztlich eine Geschichte für Brand Eins geworden. Eine Keynote hat dabei der Lokalmatador Stuart Russell gehalten, der die Sache mit der Künstlichen Intelligenz wesentlich weniger optimistisch eingeschätzt hat als sein Kollege aus der Industrie. Er sah die KI als mögliche Bedrohung der Menschheit und war der Meinung: Wir haben die Sache eigentlich nur dann noch weiter im Griff, wenn wir den Maschinen nicht explizit verraten, was wir eigentlich von ihnen wollen. Im Grunde hat Stuart Russell also die Story von Goethes Zauberlehrling erzählt (ich sage das nur, um das Argument verständlicher zu machen, nicht um es abzuwerten. Dass eine Story alt ist, ändert nichts an ihrer Gültigkeit).
Jetzt jedenfalls Dall-E. Mir ist Angst und Bange geworden um all die Menschen in meinem weiteren Umfeld, die irgendwas mit Grafik machen. Wer bezahlt noch eine Illustratorin, wenn eine Maschine dieselbe Arbeit womöglich umsonst macht – und das auch noch viel, viel schneller?
Dann kam im Dezember der Chatbot ChatGPT, auch wieder aus der Schmiede von OpenAI. Ein Chatbot ist eine Maschine, die so tut, als wäre sie ein Mensch. Man schreibt einen Text in ein Eingabefenster – die Maschine antwortet. Solche Dinge gibt es schon länger, aber DIESE Maschine war so gut, so schlau, so menschlich, dass ich zum ersten Mal Angst um mich selber bekommen habe. Ich habe die erste Nacht nach meiner Anmeldung dann entsprechend wenig geschlafen, weil ich die ganze Zeit mit dieser Maschine geschrieben habe. Es war der Hammer. Wir haben die Moralphilosophie von Kant und Aristoteles diskutiert. Wir haben über psychologische Forschung diskutiert. Das Ding hat mir ein Weihnachtslied geschrieben. Es hat irgendwann auch angefangen, in meiner Muttersprache mit mir zu reden. Alles astrein. Und ich wiederhole mich auch hier: Falls Ihr noch nicht mit ChatGPT rumgedaddelt habt: Macht es, sobald Ihr ne freie Minute dafür habt. Lasst Euch Texte schreiben. Denkt Euch interessante Anfragen aus. Nur, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was die Maschine alles kann. Vielleicht auch für das, was sie nicht kann.
Angeblich drehen bei Google im Moment alle durch, weil sie Panik schieben, dass ChatGPT ihnen das gesamte Geschäft kaputt machen könnte. Wäre es nicht toll, so einen wunderbaren Chatbot mit einer Suchmaschine wie Google zu kombinieren? Gibt’s inzwischen auch schon. Der oben erwähnte Richard Socher hat inzwischen seinen eigenen Laden aufgemacht: Eine Suchmaschine namens „You“, die man – so der Pitch – besser kontrollieren kann als Google. Und einen eigenen Chatbot hat das Ding seit ein paar Tagen auch. Ich hab ein bisschen damit gespielt, die Ergebnisse fand ich ganz brauchbar. Wenn Ihr Zeit habt: Checkt es aus.
Man weiß aus der Forschung jedenfalls, dass wir Menschen auf so eine Maschine reagieren, als wären sie selber ein Mensch. Genau so, wie wir Kasperlepuppen als handelnde Menschen wahrnehmen. Wie Kuscheltiere zu quasi-menschlichen Begleitern für uns werden. Wir schließen Freundschaft mit der Maschine. Wir empfinden Sympathie. Sogar Liebe. Im Frühjahr 2022 war ich auf einer psychologischen Forschungskonferenz namens SPSP in San Francisco. Ein junger Forscher von der University of British Columbia hat dort über ein Experiment gesprochen (ich hab ne kurze Geschichte für P.M. drüber geschrieben), das er mit einem weniger guten Chatbot als ChatGPT und vielen Freiwilligen gemacht hat. Sein Fazit lautet: Anders als bei den selbstfahrenden Autos wird es mit dieser Technologie NULL psychologische Widerstände geben.
Null.
Unserer Seele ist egal, ob sie mit einem Menschen redet oder mit einer Maschine, die nur so tut. Wir werden dem Ding bald unsere tiefsten Geheimnisse anvertrauen.
Wie gut ist der neue Chatbot von OpenAI genau? Ich hau nur mal ein paar Sachen raus, die ich so gehört habe aus meinem Umfeld: Ein Psychologie-Professor aus Kanada hat die Maschine eine Uni-Klausur schreiben lassen – das Ding hat besser abgeschnitten als 80 Prozent der Studierenden. Ich höre von Leuten aus der Juristerei, dass die Maschine sehr brauchbare Gerichtsurteile schreiben kann. Die Machine schreibt auch sehr ordentliche Werbebotschaften, die man dann einfach auf Instagram stellen kann. Menschen, die Computerprogramme schreiben, lassen sich von der Maschine Teile ihrer Arbeit abnehmen. Der Code ist eleganter als das, was die meisten Fachleute hinkriegen. Und schneller ist er eh.
Klar, das Ding ist nicht perfekt. Balladen im Stile Friedrich Schillers – da sind die Ergebnisse eher dürftig. Ich hab mich persönlich davon überzeugt. Die Maschine schreibt für meinen Geschmack auch zu sehr im Nominalstil. Aber auch da dürfte es vermutlich genügen, sich einfach einen anderen Style zu wünschen. Und die Maschine lernt dazu – mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Trotzdem posten manche wegen all der kleinen Mängel: „Unsere Jobs sind noch immer sicher!“
Ich halte das für einen Irrglauben. Wenn DAS der neue Standard ist, sind viele, viele Menschen beruflich für immer erledigt. Ich womöglich auch. Und das gefällt mir nicht.
Und noch etwas: Ich WEISS, dass ich die wichtigsten Folgen dieser Technologie noch nicht absehen kann. Mir fehlt dafür einfach die Fantasie. Dieser Tage jedenfalls hab ich einen ersten Blick auf die Zukunft geworfen.
Diese Zukunft ist schön und faszinierend.
Aber auch sehr, sehr unheimlich.
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