
Der britische Premierminister liegt auf der Intensivstation. Alle haben’s gelesen: Vor Wochen noch hat er verkündet, Coronakranken weiterhin die Hände schütteln zu wollen. „Kein Grund zur Panik.“ Das war die eine Botschaft dahinter. „Ich bin stärker als das Virus.“ Das war die andere. Jetzt hat ihn die Krankheit erwischt. Einige meiner Freunde empfinden Schadenfreude.
Britta tut das nicht. Aber sie wundert sich. Beim gemeinsamen Zoom-Meeting mit Søren und mir hat sie neulich gefragt, warum so viele mittelalte Männer sich eigentlich für unverwundbar halten.
Ich hab spontan mit Robert Trivers und seiner Selbsttäuschungs-These argumentiert. Sich für stärker, schneller, schöner und besser zu halten, als man eigentlich ist, das scheint im Ringkampf der Evolution bestimmte Vorteile zu bieten. Denn wir lügen glaubwürdiger, wenn wir die Lüge selbst glauben. So setzt man sich durch im Kampf ums Schnitzel und um mögliche Partner. Eine positiv verzerrte Selbstwahrnehmung erbt sich also fort. Immer wieder und wieder. Anders gesagt: Die meisten von uns sind die Urenkel von Aufschneidern und Angebern. So ungefähr argumentiert Trivers.
Das kann aber noch nicht die ganze Geschichte sein. Schließlich fühlen sich nicht alle unverwundbar. Es gibt individuelle Unterschiede. Aber warum eigentlich? Also hab ich mir ein paar Studien dazu angeguckt. Nicht über Corona, da ist man noch nicht so weit. Sondern über andere Risiken, die man unterschätzen kann. Zum Beispiel diese:
- sich mit AIDS anstecken
- einen Herzinfarkt kriegen
- an Krebs erkranken
Und da zeigen die Studien, die ich so auf die Schnelle finde, dies:
- Leute unterschätzen ihre Risiken stärker, wenn sie älter sind. Das Gefühl der Unverwundbarkeit hat sozusagen graue Schläfen. Finde ich interessant. Derzeit haben wir ja eher den Diskurs „die jungen Leute nehmen die Sache nicht ernst genug“. Die Klischee-Erzählung dahinter war immer schon Käse. Denn Teenager halten sich nicht für unverwundbar. Sie neigen sogar dazu, ihre eigenen Risiken zu überschätzen. Möglich also, dass man rückblickend merken wird: Es waren eher die Älteren, die mit Corona zu leichtfertig umgegangen sind. (Und jetzt mal ehrlich: „Wir haben schon ganz andere Sachen überstanden… „, der Satz kommt einem doch irgendwie bekannt vor, oder?)
- Schwarze Frauen in den USA unterschätzen ihr Herzinfarktrisiko vor allem dann, wenn sie gestresst sind und wenig bis sehr wenig Geld verdienen.
- Eine ähnliche Studie hat man auch für Berlin gemacht. Auch da haben knapp die Hälfte der Frauen ihr Risiko unterschätzt. Der wichtigste Faktor dafür war: Älter sein. Der zweitwichtigste: Arm sein.
- Es scheint auch kulturelle Unterschiede zu geben. Menschen aus dem Westen (vor allem den USA) denken: Mir passiert schon nix. Bei Leuten in Fernost scheint das weniger verbreitet zu sein.
- Beim Krebs bekommt man interessante Ergebnisse. Frauen mit Brustkrebsfällen in der Familie überschätzen tendenziell ihr eigenes Risiko. Trotzdem (oder gerade deshalb?) betreiben sie weniger Vorsorge. Ähnliches sieht man bei Rauchern und Lungenkrebs. Sie scheinen ihr Risiko eher zu überschätzen. Trotzdem rauchen sie weiter. Hm.
- In Sachen HIV hat man sich vor knapp 20 Jahren die Risikofaktoren für afro-amerikanische Studenten angesehen. An Nummer vier der Liste steht: „sich für unverwundbar halten„. War also gar nicht so selten.
Ich schreibe ja seit Tagen immer mal wieder über die Lage in Detroit. Dort scheinen einige der oben genannten Faktoren zusammen zu kommen. „Detroit ist eine der ärmsten Großstädte in den Vereinigten Staaten – die Armut ist ein echtes Problem“, heißt es im World Population Review. 82 Prozent der Bewohner sind Afro-Amerikaner. Die Statistik der Coronatoten in der Stadt ist alarmierend. Gut möglich, dass „schlecht informiert sein“ und „an Blödsinn glauben“ auch Risikofaktoren sind. Die These, dass Schwarze gegen Corona immun sind, kursiert zum Beispiel schon seit Wochen im Netz. Auch die Tagesschau hat gestern davon berichtet – zumindest als Randaspekt.
Mein Fazit: Die Armen und die Alten sind objektiv besonders gefährdet in der Pandemie – aus unterschiedlichen Gründen. Aber wenn man die Studien von früher auf heute übertragen kann, dann werden die psychologischen Faktoren die Sache schlimmer machen. Die Gefährdeten unterschätzen, wie gefährdet sie sind. Sie werden weiter Hände schütteln. Und bringen sich dadurch zusätzlich in Gefahr. An Blödsinn glauben hilft natürlich auch nicht. Und vom miesen Gesundheitssystem hier den Staaten, der sozialen Ungerechtigkeit, dem verschleppten Krisenmanagement und dem ganzen Mist will ich heute gar nicht anfangen. Das kommt alles noch obendrauf.
Blöd.
Also. Ich weiß: Das ist alles spekulativ. Ich werde in den kommenden Tagen ein paar Forscher anschreiben und ihre Meinungen einholen. Bin gespannt, was da kommt.
So. Eigentlich wollte ich ne saftige Geschichte über narzisstische Arschgeigen schreiben und dass sie’s nicht anders verdient haben. Das spielt in manchen Fällen natürlich auch ne Rolle. Aber so ist das. Man kriegt nicht immer, was man will. Ich wasch mir jetzt die Hände, kontrolliere meine Maske und dann geh ich mit dem Hund raus. Nachher: Bier.
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