Ich weiß es doch auch nicht so recht

Wenn man auf diesen Gleisen stramm nach Westen wandert, kann man in lediglich 77 Stunden in Chicago sein. Von da aus nimmt man den Zug und erreicht kurz vor Mitternacht Minneapolis. Die Bilder des Polizisten, der dort auf dem Nacken von George Floyd kniet, hat man überall gesehen. Das Knie blieb dort noch länger als zwei Minuten, nachdem der Kollege des Polizisten an Floyds Handgelenk keinen Puls mehr hat feststellen können.

Seither brennt hier die Hütte. Die Fernsehbilder auf CNN haben mich an die G-20-Tage in Hamburg vor drei Jahren bei mir um die Ecke erinnert. In meinen Augen hat das Tränengas gebrannt, vor meiner Haustür die Autos. Vom ganzen Rest hier versehe ich viel zu wenig – ich weiß es auch nicht so recht. Klar ist mir nur: Die Abschaffung der Sklaverei in den USA ist noch keine 160 Jahre her. Es war sozusagen erst gestern, „two old ladies living and dying back-to-back.“

Wie sich die Unterdrückung anfühlt, weiß ich nicht. Aber wie lange das Gestern, die Geschichte noch nachwirkt, dazu kann ich was sagen. Ich bin aufgewachsen in einem Dorf, das, als ich noch sehr klein war, mit einem Nachbardorf zu einer neuen Gemeinde verschmolzen wurde. Bis zum Jahr 1803 lagen die beiden Dörfer noch in verschiedenen Ländern. Im einen Dorf war man katholisch, im anderen protestantisch. Diese Spaltung hat man noch in den 1980ern komplett spüren können. Eine alte Frau meinte damals, dass die Jungs, die es gewagt haben, ein Mädchen auf der anderen Seite zu besuchen, verprügelt und wieder nach Hause geschickt wurden. So war das wohl. Die Leute jenseits der Brücke waren noch für mich ganz eindeutig „die anderen“. Und verglichen mit dem, was hier in den USA alles passiert ist, sind die Dorf-Gegensätze natürlich rein gar nichts.

In Ann Arbor gab es auch Proteste. Aber friedlich. Man diskutiert ansonsten, wie man das neue Semester gestalten will. Eine der spannenderen Diskussionen dreht sich um die Neugestaltung der Innenstadt. Ein paar Straßen sollen für Autos gesperrt geworden. Ein bisschen „Ottensen macht Platz“ im Mittleren Westen. Es ist eine privilegierte Stadt.

Privat war Pfingsten. Wir waren bei Silvia und William zum Grillen. Es hat sich angefühlt wie „v.C.“ (die Formulierung hab ich in Maximilans Hamburg-Gedanken aufgeschnappt). Wir haben gegessen wie Könige und geistreiche Gespräche geführt. Wie toll so was sein kann. Hab aus Nostalgie und Heimatverbundenheit Krautsalat gemacht. Mit reichlich Kümmel. Es hat geschmeckt wie zu Hause.

Paradox, dieses Leben. Es gab selten so viele Gründe, sich Sorgen zu machen. Und doch fühlt sich im engen Kreis alles friedlich an. Man kriegt das alles nicht gut zusammen.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert