
In Michigan hab ich vor ein paar Wochen einen Vortrag gehört über Covid in der Kinderklinik. Bei den Fragen im Anschluss kamen wir aufs Thema Long Covid. Und dabei ist was Interessantes passiert: Die Ärztin wollte zunächst nicht mit ihrer Meinung rausrücken. Hm. Also nochmal nachgefragt. Irgendwann meinte sie sinngemäß: Vieles von dem, was wir heute unter dem Schlagwort „Long Covid“ zusammenfassen, ist in Wahrheit gar nicht Long Covid. Sondern irgendwas anderes. Es hat mehr mit der Psyche zu tun als mit dem Virus.
Die Sache läuft ein bisschen wie früher im Zivildienst. Da musste ich für ein paar Monate Gullydeckel finden und mit einem Haken aus der Verankerung heben, um mir die Leitungen darunter anzusehen. Fragt mich nicht, warum das so war. Es war einfach so. Jedenfalls: Hab ich damals nur noch Gullydeckel gesehen. Überall. Ich hab im Kopf permanent eine Art Landkarte mit Abwasserleitungen gezeichnet. Aha! Hier läuft sie mitten auf der Straße. Hui! Hier liegt sie ganz am Rand, fast unterm Bürgersteig. Es war grauenvoll.
Oder. Zweites Beispiel. Wenn man einen neuen Begriff lernt, von dem man noch nie im Leben was gehört hat. Und auf einmal ist dieser Begriff überall und begegnet einem ständig. Hat vermutlich jeder schonmal erlebt. Es ist wie Zauberei. In Wahrheit war der Begriff natürlich schon länger da, wir haben ihn halt die ganze Zeit ignoriert. Und die Gullydeckel, die waren auch schon immer da. Wir haben sie bloß nicht beachtet.
Und bei einigen Long-Covid-Geschichten ist es vermutlich dasselbe. Wir fühlen etwas Unangenehmes und denken: „Mist, das Virus macht mich fertig!“ Die Ärztin in Michigan sagt sinngemäß: Natürlich gibt es Langzeitwirkungen bei manchen Leuten. Und das können super fiese Sachen sein. Aber manche der Symptome waren halt vorher schon da. Oder sie kommen von anderswo. Und wir GLAUBEN bloß, dass das Virus sie gemacht hat. In der Psychologie sagt man „Attribution“ dazu oder „Zuschreibung“. Wir sehen etwas und dann kleben wir da sozusagen einen Zettel drauf. Und auf dem Zettel steht: „wegen Covid“.
Dasselbe gilt für die Nebenwirkungen bei der Impfung. Manches Unwohlsein kommt von sonstwo. Aber wir kleben einen Zettel drauf, auf dem steht „wegen der Spritze“. Und schon ist es eine Nebenwirkung.
Unbestritten: Es gibt Long Covid. Ich kenne eine Person, die davon erwischt wurde und die Sache ist sehr ernst und auf tragische Weise unschön. Und ebenso unbestritten: Es gibt Nebenwirkungen. Ich kenne eine Person, die von der zweiten Pfitzer-Spritze komplett zerlegt wurde und nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Und zwar schon seit Monaten. Keiner weiß, wie’s weitergeht.
Und doch: Long-Covid und Nebenwirkungen sind halt in vielen Fällen auch nicht, was sie zu sein scheinen. Nicht, weil wir uns was einbilden. Nicht weil wir wen anschmieren wollen. Sondern weil wir zur falschen Attribution greifen.
Ist alles menschlich. Aber es passiert. Und zwar öfter, als wir glauben.