
Gestern hat sich Nicki mit einigen Kollegen von der University of Michigan zu einer Pokerrunde verabredet. Auf Nickis Rechner läuft dabei eine Videokonferenz (über Zoom), auf ihrem iPad eine Poker-App. Zwei Geräte gleichzeitig. Klingt anstrengend, funktioniert aber super. Nicki und ihre Leute erforschen an der Uni, wie Menschen per Internet miteinander kommunizieren. Sie haben also wenig Scheu vor diesen digitalen Dingen. Trotzdem brauchen alle ein paar Minuten, um zu checken, wie die App funktioniert. Aber dann geht es los und wir zocken fast bis Mitternacht. Es fühlt sich an wie ein ganz normaler Spieleabend mit Freunden. Man gewinnt ein bisschen, verliert ein bisschen und unterhält sich dabei über alles Mögliche.
Naja. Es ist keine Neuigkeit, dass unser Sozialleben in Corona-Zeiten zunehmend ins Netz wandert. Wir nutzen Skype, Facebook und WhatsApp, statt uns in der wirklichen Welt zu treffen.
Immer wenn ich „in der wirklichen Welt“ sage, kriege ich Ärger mit Nicki. Sie sagt: „Wenn ich am Telefon mit jemandem rede, dann ist auch das ein wirkliches Gespräch, oder etwa nicht?“
Ich sage: „Stimmt.“
Unsere Eltern haben anfangs noch nach dem Motto „fasse Dich kurz“ telefoniert. Aber schon für unsere Generation war diese Form der Kommunikation ganz normal und sozusagen bereits Teil der Welt.
„Siehste!“, sagt Nicki.
Sie ist der Ansicht: Alles, was wir im Netz zur Kommunikation nutzen, ist auch „in der wirklichen Welt“. Nicht besser. Nicht schlechter. Nur ein bisschen anders.
Ich habe vor vielen Jahren – die Umstände habe ich vergessen – mal einen Mann getroffen, der taub und blind zugleich war. Seine Frau hat mit ihm geredet, indem sie ihm mit dem Finger auf die Handfläche geschrieben hat. Die beiden haben sich prima verstanden.
So ist das auch mit dem Digitalen. Nicki sagt: Ab und zu fehlen ein paar „cues“, ein paar Sinnesreize. Man kann zum Beispiel aus der Email keinen Tonfall heraushören. Kein Zittern in der Stimme. Man sieht auch keine Mimik und Gestik, keine Falten auf der Stirn und so weiter.
Aber das heißt nicht, dass diese Kommunikation irgendwie „weniger“ wäre. Man weiß z.B., dass die Leute sich leichter verlieben, wenn sie einander zunächst vor allem Mails schreiben. Weil all die fehlenden „cues“, all diese Leerstellen von unserer eigenen Fantasie ersetzt werden (ganz witzig: Während ich das schreibe, telefoniert Nicki nebenan mit ihrem Kollegen Joe Walther, der diese Zusammenhang vor rund 20 Jahren entdeckt hat; es ist eine kleine Welt). Ach ja: Und Goethe hat das vermutlich auch schon gewusst. „Die Leiden des jungen Werther“. Da wird unsterblich geliebt – und das ganze Buch besteht nur aus Briefen!
Nicki sagt: „Ein Brief ist ein Medium. Genau wie das Telefon. Oder Email. Oder WhatsApp. Oder Skype. Jedes Medium macht manche Verhaltensweisen wahrscheinlicher und andere unwahrscheinlicher.“
Zum Beispiel schicken mir meine Kinder dauernd Sprachnachrichten auf WhatsApp. Fand ich anfangs doof. Aber: Fast jeder kennt diesen Moment, wo man aus einem Gespräch rausgeht und sich ärgert, weil einem erst hinterher all die schlauen Sachen einfallen, die man hätte sagen wollen. Bei den Voice-Messages hat man mehr Zeit. Man kann länger überlegen. Und deshalb sagt man da häufiger was Tiefes, das wirklich von Herzen kommt. Das ist einer der Vorteile von solch „asynchroner“ Kommunikation.

Nicki und ihr Kollege Jeff Hancock haben neulich einen (noch unveröffentlichten) Artikel geschrieben. Darin geben die beiden Tipps, wie man seine sozialen Beziehungen managen kann, wenn man nicht mehr aus dem Haus darf. Ein paar ihrer Sachen kannte ich schon, andere waren neu. Hier mal ein paar Beispiele:
- Man muss für Online-Gespräche mehr Zeit einplanen; für dieselben Informationen braucht man im Chat oder per Mail etwa vier bis fünf Mal länger als in einem Gespräch „face to face“. Auch Anrufe und Skype-Gespräche dauern meist etwas länger. Hilft, wenn man das weiß.
- Auf Facebook „nur gucken“ bringt einen tendenziell schlecht drauf; dort selber was posten, ein paar Likes hinterlassen oder Kommentare schreiben – das mach die meisten Leute eher zufriedener. Vermutlich, weil es Freundschaften vertieft. Heißt: Es ist eine gute Idee, sich da aktiv zu beteiligen (ich mach dieser Tage auch mehr als sonst und hab das Gefühl, dass es mir guttut).
- Jeff und Nicki glauben, dass gemeinsame digitale Spieleabende helfen. Sie empfehlen sogar gemeinsame Mahlzeiten, die man per Video mit Freunden oder Familienmitgliedern teilt. Das hab ich in der Form noch nie ausprobiert. Nächste Woche will ich das aber unbedingt mal machen.
- Wir alle brauchen andere Menschen. Vielleicht ist es eine gute Idee, dafür feste Verabredungen zu treffen. Wen will ich morgen anschreiben? Mit wem skypen? Wie viel Zeit will ich mir dafür nehmen? Ich weiß: Das mit der Planerei ist nicht jedermanns Sache. Aber mir geht es meist besser, wenn ich zumindest ungefähr weiß, was ich vor mir habe.
- Berufliche Videoanrufe von zu Hause sind nicht ganz einfach zu managen. Der Hund bellt, die Kinder kommen rein oder was weiß ich. Naja. Es ist überhaupt schwierig, komplett von zu Hause zu arbeiten. Nicki sagt: Es kann eine gute Idee sein, sich so anzuziehen, wie man sich für den Job anziehen würde. Man weiß dann besser, welche soziale Rolle mal gerade spielt (duschen und rasieren ist vermutlich auch ne gute Maßnahme; ein bisschen Selbstachtung hilft, nicht völlig den Verstand zu verlieren).

Gerade noch Trumps Briefing geguckt. Wird nix mit den vollen Kirchen zu Ostern. Die gegenwärtigen Regeln werden bis Ende April verlängert. Vermutlich besser so. Ich beobachte derweil die Entwicklung in Michigan und besonders in Detroit. Die Todesrate in der Stadt entwickelt fast genau so, wie sie sich in Deutschland entwickelt hat, nur eben mit einer Verzögerung von einigen Wochen. Detroit ist eine arme Stadt mit vielen leerstehenden Häusern und vielen Menschen, mit deren Gesundheit es schon vor der Krise nicht zum Besten stand. Mal sehen, wie das alles weitergeht.
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