Die Illusion von Kontrolle

Heute war mein Geburtstag, ’ne Menge Leute haben sich gemeldet, trotz Pandemie. Oder gerade deswegen. Das Bild oben zeigt das Zoom-Meeting, das Nicki mit ein paar Freunden hier aus Amerika veranstaltet hat. War ganz toll. Nicht wie eine richtige Party. Aber trotzdem schön. Wir haben fast zwei Stunden lang geredet.

Natürlich haben sich auch viele wegen der Sozialen Medien gemeldet, die es einem viel, viel leichter machen, anderen zu gratulieren. Ich sage das nicht meinetwegen oder um zu jammern, sondern weil ich Nicki ja immer wieder mal bei ihren Vorträgen begleite und sie genau dieses Phänomen oft als Beispiel verwendet, um zu zeigen, wie Kommunikation funktioniert. Früher hat es viel mehr Aufwand bedeutet, wem zu gratulieren. Es kommt bestimmt noch immer von Herzen. Aber wir alle gratulieren heute Menschen, denen wir vor 20 Jahren nicht gratuliert hätten. Weil: Aus den Augen verloren. Den Termin nicht aufgeschrieben. Keine Zeit gehabt, ne Karte zu kaufen. Keine Briefmarken im Haus. Zu viel anderes um die Ohren, um anzurufen. „Mich hat keiner dran erinnert.“ Und so weiter.

Dies ist eine Weltkarte, um zu zeigen, woher die einzelnen Grüße kamen. Man könnte sich beschweren und sagen: Die Pfeile zeigen in die falsche Richtung. Ja. Aber dann wären in Ann Arbor all die Pfeilspitzen. Sieht doof aus. Man könnte auch sagen: Die Pfeile symbolisieren die Richtung meiner Dankbarkeit.

Und weil – natürlich – die allermeisten Glückwünsche aus Deutschland kamen: Hier dasselbe nochmal aufgeteilt nach Bundesländern.

Toll, oder? Ich bin nur ein Mensch von knapp 7,8 Milliarden. Und das da oben ist allein meine Vernetzung auf dem Globus. Dasselbe 7,8 Milliarden Mal. Alles hängt mit allem zusammen. Irre kompliziert, das alles.

Die Pandemie macht uns so fertig, weil sie uns zeigt, dass wir nichts im Griff haben. Die meisten Dinge – auch ein paar von den ganz wichtigen – liegen nicht in unserer Hand. Sie funktionieren, aber wir können nichts dafür. Wir haben es nicht gemacht. Trotzdem haben wir an den meisten Tagen das Gefühl, dass wir planen können und selbst entscheiden, was als nächstes kommt. Es ist eine Illusion. Die Illusion von Kontrolle. Sie hilft uns dabei, am Morgen aufzustehen und am Abend nicht auszurasten. Nicht jede Täuschung ist schlecht. Eine Täuschung ist es trotzdem.

Ich habe nichts im Griff.

Ich habe keine Pläne für die Zukunft. Das gab’s noch nie. Als in den 1980ern die ganzen Tiefflieger in Überschalltempo über unsere Köpfe flogen, hab ich irgendwann mal gelesen, wie die Piloten das überhaupt hinkriegen: Sie konzentrieren sich auf Zielpunkte. Den Kirchturm in Freiburg, den Fernsehturm auf der Hornisgrinde usw. Man kann sich in einem Kampfjet nicht auf dieselbe Art orientieren, wie man das auf einem Fahrrad tut.

Im Leben machen wir genau dasselbe. Da sind ein paar Zielpunkte, an denen wir uns orientieren. Am nächsten Urlaub, zum Beispiel. Am nächsten Quartalsbericht. Der Frankfurter Buchmesse. Dem runden Geburtstag von irgendwem. Der nächsten Fußball-EM. Keine Ahnung. Im Moment sind diese Dinge alle weg. Und wir fliegen trotzdem weiter. Überschall ohne Zielpunkt. Keine Kontrolle. Keine Illusion.

Das mag auch ein Grund dafür sein, dass mir Nicki diesen Gin aus der hiesigen Destille geschenkt hat. Er schmeckt ausgezeichnet und die Flasche ist schön gestaltet.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die an mich gedacht haben. Das war sehr schön. Und ich fühle mich gerade gut – auch in der Gewissheit, die Dinge nicht im Griff zu haben.

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