Die Amygdala ist schuld, manchmal
Nachrichten geguckt. Alles geht um Rassismus und Polizeigewalt. Natürlich. Sie zeigen auch ein paar Videos von Afroamerikanern, die eine Begegnung mit der Ordnungshut nicht überleben.
Vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich für P.M. ein Interview mit Prof. Robert Sapolsky geführt, einem Neurowissenschaftler aus Stanford.
Dabei ging es auch um Polizeigewalt und die Rolle des Gehirns. Spoiler-Alert: Manchmal ist die Amygdala an allem schuld. Hier ein Auszug aus dem Transkript, ohne Bearbeitung.
JM: In unserer visuellen Wahrnehmung spielt die Amygdala eine interessante und manchmal folgenreiche Rolle. Bevor unsere Hirnrinde diese Informationen verarbeitet hat, landet eine sehr grobe Kopie in unserer Amygdala. Sie schlägt innerhalb von Millisekunden Alarm, wenn uns zum Beispiel ein Mensch begegnet, der eine andere Hautfarbe hat als wir.
RS: Ja, hier haben wir einen der stärksten Beweise für die Vorstellung, dass eine Vielzahl unserer Entscheidungen, auch unserer moralischen Entscheidungen, in viel stärkerem Maße von Emotionen geleitet sind, als wir das gerne hätten. Anders gesagt: Es sind oftmals Gehirnareale wie die Amygdala, die unsere Entscheidungen treffen. Und die rationaleren Teile unseres Gehirns liefern danach nur noch eine vernünftig klingende Begründung. Emotional entscheiden wir in Sekundenbruchteilen. Die Begründung kommt später. Und die Daten aus der Neurobiologie passen wunderbar zu dieser Hypothese. Wenn wir uns jetzt diese konkrete Geschichte ansehen: Ja, die Amygdala bekommt einen sehr privilegierte Zugang zu unseren sinnlichen Informationen. Sie bekommt eine grobe Information über Reize, die Emotionen auslösen. Und zwar deutlich schneller als unser Kortex diese Daten verarbeiten kann. Wir reden hier über 100 bis 200 Millisekunden, was ein wahnsinnig kurzer Zeitraum ist. Und das ermöglicht sehr, sehr schnelle Entscheidungen, die auf sehr ungenauen Daten beruhen, weil, naja, der Kortex halt viel besser darin ist, akkurat zu arbeiten als die Amygdala. Und dann hat man plötzlich diese ganzen Geschichten, wo die Polizisten sich auf einmal sicher sind, dass der Typ, der gerade in die Tasche greift, um seinen Ausweis hervorzukramen, eigentlich eine Waffe ziehen will. Und dann, 14 Pistolenschüsse später, zeigt sich, dass er gar keine Waffe bei sich hatte. Und wir wissen heute, dass solche Missverständnisse in unglaublich starkem Maße etwas damit zu tun haben, welche Person da eigentlich nach seiner Brieftasche greift. Interessanterweise arbeite ich gerade mit einem pensionierten Polizeibeamten, der sich über dieses Phänomen große Sorgen macht und über das Ausmaß, in dem Polizeischulung solche Zwischenfälle praktisch unvermeidlich macht. Er zeigt mir dabei verschiedene Dashcam-Videos, also von Kameras, die an der Windschutzscheibe eines Streifenwagens angebracht sind und die dort alles filmen. Einige dieser Schießereien, oh, mein Gott, wissen Sie, ich bin einfach nur ein Professor, der an seinem Schreibtisch sitzt und Bücher liest. Aber das Schockierendste ist, wenn er sagt, guck dir einfach mal die Sekundenanzeige auf dem Bildschirm an. Und dann stellst du fest, dass die ganze Sache innerhalb von 1,3 Sekunden abgeht. Solche Sachen, wo du sehen kannst, dass der Polizist nach 0,7 Sekunden seine Waffe im Anschlag hat. Das ist genau das Königreich, in dem die Amygdala die vielleicht wunderbarste Sache der Welt ist, weil sie dir die Chance gibt, mit einem wahnsinnig schnellen Sprung dem Biss einer Giftschlange zu entkommen. Aber es ist ein Desaster in einer Welt, in der die Leute Knarren haben und entscheiden müssen, ob sie abdrücken oder nicht.
JM. Kann man Leuten beibringen, ihrer Amygdala zu misstrauen? Was tun wir da?
RS: Darum geht’s im letzten Kapitel meines Buches („Gewalt und Mitgefühl“, JM). Wie schafft man es, die Leute zu mehr Zusammenarbeit zu bringen? Inklusiv, zusammengehörig – und weniger aggressiv, fremdenfeindlich, ausschließend? Wenn jemand gezwungen ist, in der Nähe von jemandem zu leben oder zu arbeiten, der zu einer Fremdgruppe gehört, und selbst wenn man von Kindesbeinen an darauf konditioniert wurde, von „denen“ als „die anderen“ zu denken, dann entwickeln sich innerhalb von Wochen neue Einstellung gegenüber „denen“. Manchmal dauert es auch länger. Die kleinste Fassung dieser Geschichte lautet: Ich hasse sie. Aber ja, dieser eine Typ, der ist in Ordnung. All diese Geschichten benötigen eine Amygdala, die weniger reaktiv geworden ist.
JM: Eine meiner Lieblingsstorys ist die, wo man die Leute tippen lässt, was vermutlich das Lieblingsgemüse des anderen ist.
RS: Ja, die Brokkoli-Studie. Das ist eine ganz erstaunliche Arbeit. Diese einfache Frage zwingt dich dazu, über den anderen als Individuum nachzudenken und seine Perspektive einzunehmen. Und schon hört die Amygdala auf, diesen Menschen als Mitglied einer Fremdgruppe zu sehen. Und da kann man sehen, dass wir als Menschen die bemerkenswerte Fähigkeit haben, unsere Neurobiologie und auch unser Verhalten zu ändern. Wenn es um die Geschwindigkeit geht, in der sich diese Dinge vollziehen, ist die Brokkoli-Studie wahnsinnig faszinieren.
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