bookmark_borderCoco, die Natur und das Bildungssystem

Coco, the dog

Coco ist Nickis Schäferhündin und sie hat sich beschwert. 

Wir haben am Samstag eine Wanderung durch ein nahes Naturschutzgebiet unternommen, das Palo Alto Baylands Nature Preserve

Das ist eine große, von Gräben, Kanälen und Teichen durchzogene Feuchtfläche unten an der San Francisco Bay, eine verblüffend heile Gegenwelt zur nahen Hightech-Industrie – die Firmenzentrale von Google liegt gleich in der Nachbarschaft. 

Da! Unter dem Pfeil bauen sie gerade das neue Googleplex

Coco träumt manchmal davon, dort im Park von der Leine zu gehen und ihren Erzfeinden, den Kanadagänsen, ein nachmittägliches Workout zu verpassen.

„Gänse, wir kriegen Euch“, denkt Coco

Leider haben die Ranger an allen Zugängen lustige Schilder aufgestellt. Sie besagen: Cocos Jagden wären teure Freuden. Jetzt ist die Gute beleidigt und eine erklärte Gegnerin des westlichen Bildungssystems: Könnten ihre Menschen nicht lesen, wäre ihr Leben erheblich besser. Tja. So was nennt man in Amerika „unintended consequences“ – der Fluch einer jeden Neuerung. 

Mal sehen. Den Pfad verlassen: 250$; Hund von der Leine: nochmal 250$; Tiere stören: 500$; den Hund auf Tiere loslassen: nochmal zweihunderfuffzich. Macht: nen runden Tausender. Mein Urteil: zu teuer! Cocos Urteil: doof!

Trotzdem war das ein ganz erstaunlicher Ausflug. Über uns fliegen die Flugzeuge von drei nahen Flughäfen: Von San Francisco im Norden, San Jose im Süden – und dann sind da noch die vielen Sportflugzeuge, die an den Wochenenden rund um den kleinen Flugplatz von Palo Alto ihre Trainingsflüge absolvieren (Uff! Sieben Mal eine Form von „Flug“ oder „fliegen“ in einem Absatz; war nicht leicht. Ging aber trotzdem!).

Von der Sorte haben wir heute locker ein Dutzend über uns rüberfliegen sehen. Naja. Die meisten waren noch ein bisschen kleiner

Auch die ersten Schwalben haben sich eingefunden. Und zwar viele davon. Die Jahreszeiten sind hier in der Bay Area ohnehin eine merkwürdige Angelegenheit. Im November haben sich manche Bäume herbstlich bunt gefärbt (ganz so, wie man das als Europäer erwartet). Gleichzeitig kam aber auch der Regen nach langer Dürre. Die braunen, verbrannten Hügel haben sich innerhalb weniger Tage in ein sattes Frühlingsgrün gefärbt. Gefühlt hatten wir also Herbst und Frühling zugleich. Auch die entsprechenden Düfte haben sich vermischt. Psychologen nennen so etwas eine kognitive Dissonanz: Die Welt passt nicht recht zusammen. Was macht der Kopf? Er rückt sie so lange zurecht, bis wieder alles seine Ordnung hat! In meinem Fall hat der Kopf sein inneres Programm auf „Frühling“ gestellt. Der Zustand hält noch immer an. 

Seht Ihr die kleinen schwarzen Punkte? Nein. Es ist kein Schmutz. Das sind die Schwalben!

Das Naturschutzgebiet ist jedenfalls ein ganz seltsames Gelände. Es liegt halb im Tidegebiet der Bay (mit tüchtig unterschiedlichen Wasserständen zwischen Ebbe und Flut). Im Wasser schwimmen Enten und Rallen; Reiher stehen am Ufer. Manchmal sieht man Pelikane. Heute fliegt ein Truthahngeier durch die Luft. Zwei Kalifornische Ziesel huschen über die Wege. Ein Weißschwanzaar (White-tailed Kite) flattert über das Marschland. Ein ausgesprochen eleganter Vogel ist das. Ganz am Ende sehen wir noch einen Kalifornischen Eselhasen (Lepus californicus), dessen halber Körper aus Ohren zu bestehen scheint – und einen Kolibri, der links des Weges in den Büsche chillt.

Seht Ihr den Kolibri?

Vor ein paar Wochen haben wir hier – nach einem unfreiwilligen Irrweg durch die Binsen – Bill getroffen, einen Naturfreund und ehemaligen Vietnamkrieg-Gegner, den die lokale Presse als „the fox guy“ bezeichnet. Bill hat an der entlegenen Seite der Feuchtgebiete Kamerafallen aufgestellt, um das Schicksal eines Graufuchspaares zu dokumentieren, das die Binsen zu seinem Jagd- und Lebensraum gewählt hat. Hier hat die Kamera zum Beispiel die Begegnung eines der Füchse mit einer Katze dokumentiert. Coole Sache, schlauer Fuchs. Und wie man hören kann: Die Autobahn zwischen San Jose und San Francisco ist gleich um die Ecke. Verrückte Welt. 

Coco hat die Sache genossen. Aber ihre Klagen über unser Bildungssystem … die werd‘ ich mir jetzt noch über Wochen anhören müssen. Irgendwas is immer.

„Mir stinkt’s!“, sagt Coco

bookmark_border„There is no shortcut for synthesis“: beim Stanford-Besuch der Autorin Tressie McMillan Cottom

Dieser Tage waren Nicki und ich auf dem wirklich beneidenswert schönen Stanford-Campus, um uns die Diskussion zwischen der Soziologie-Professorin und Autorin Tressie McMillan Cottom und dem Stanford-Professor Adam Banks anzuhören. Motto des Abends: „What Is A Public Intellectual Today?“

Ich kannte Tressie nicht. Aber das hat nichts zu sagen. Mein Wissen – verglichen mit dem, was die Menschheit weiß – entspricht höchstens einem Stecknadelkopf in einer Turnhalle. Tressie ist jedenfalls ein Star. Die Hütte war voll. Im Raum gab‘s Platz für knapp 200 Leute und nur ganz hinten in den letzten Reihen blieben ein paar Stühle frei. 

Im Eingangsbereich wurde ihr neues Buch „Thick“ feilgeboten.

Man muss etwas über die Covergestaltung sagen. Das breite „H“ hat mich zunächst verwirrt. Aber dann ein Blick auf den Buchrücken. Aha! In der gestürzten Schrift wird aus dem breiten „H“ auf einmal ein „I“ – also „ICH“. 

Die Amazon-Reviews dazu sind wunderlich. Denn Tressie – soviel wird schnell klar – ist witzig, schnell, originell, super schlau, kämpferisch, meinungsfreudig, subversiv. Das ist keine Kombination, die immer alle Menschen im Publikum glücklich macht. Aber dann: So gut wie niemand sagt auf Amazon ein schlechtes über sie. Ganz bemerkenswert. Warum ist das so?

Ich schreibe sieben Sachen auf, die ich mir bei der Diskussion gemerkt habe und die mir aufgefallen sind.

1. Sowohl ihre Rhetorik als auch Adams Rhetorik kommt von den schwarzen Predigern der USA. Ich fühle mich wie in einer Kirche, in der ich als Jugendlicher gerne gesessen hätte. Beide stellen in ihren Reden Gemeinschaft her, sie kommentieren die Rede des anderen mit zustimmenden Zwischenrufen und Fingerschnipsen. Tressie sagt: „Rhetorik ist ein Ort gemeinschaftlicher Recherche.“ Sie sieht alles, was sie schreibt, als ein Werk des Kollektivs. Das ist ein anderes Konzept der Autorenschaft, als ich es aus meiner europäischen Tradition kenne. (Eine gemeinsame Freundin von Nicki und mir kommentiert später: „Klingt fast wie Roland Barthes.“) Es gefällt mir jedenfalls, es ist eine sehr lebendige, gemeinschaftsstiftende Art mit Denken und Schreiben umzugehen. Sie sagt: „Man ist immer eingebettet in etwas Größeres.“ Im Grunde hat sie einen religiösen Begriff vom Denken und vom Schreiben. Ich weiß aber nicht, ob sie das auch so sieht.

2. Tressie sagt: „Ohne Mut kannst Du nichts Gutes schreiben. Und um mutig zu sein, brauchst Du ein gewisses Maß an Sicherheit.“ Sie ist Professorin. Das hilft schon mal. Sicherheit. Die hat aber ihren Preis. Sie sagt: Die Uni radikal und vollständig kritisieren kann sie nicht, selbst wenn sie wollte, weil sie Teil des Systems ist. „Man darf sich da nichts vormachen.“ So denken die Leute in der Soziologie.

3. Tressie ist in sehr einfachen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen. South Carolina, eine halbe Stunde weg von der Küste. Der Boden besteht aus „Dreck, auf dem eine Sandschicht liegt, weil halt das Meer in der Nähe ist“. Ihre Ur-Oma (die selbst unter Erwachsenen groß geworden, die als Sklaven geboren worden sind) hat jeden Abend die Straße vor dem Haus gefegt. Den Sand auf dem Dreck. „Oma, warum machst Du das?“, fragt Tressie. „Weil ich dann besser denken kann“, sagt die Oma. Im Regal stand eine Sammlung „schwarzer“ Literatur. „Ich habe das Buch bestimmt 100 Mal gelesen. Von dort kommt meine Sprache, der Rhythmus in den Sätzen.“

4. Tressie ist eine „Public Intellectual“, sie schreibt Leitartikel für die Presse und haut auf Twitter dauernd irgendwelche Sachen raus. Deshalb kennen sie viele. Aber eigentlich ist sie Professorin für Soziologie. In ihrem Grundstudium gab‘s keine Soziologiekurse. Sie sagt: „Du musst einer Schwarzen in Amerika nicht lange erklären, dass es Strukturen gibt, die darüber entscheiden, was aus Dir werden kann und was nicht.“ Auch interessant.

5. Sie sagt: „Wenn Du schreiben willst, musst Du wissen, für wen Du schreibst. Wer ist Dein Publikum? Die meisten von uns (Profs) stellen diese Frage nicht, weil wir insgeheim fürchten, dass da gar keiner sitzt, der liest, was wir schreiben.“ Die meisten Leute im Publikum studieren noch – entweder als Undergrads oder im PhD-Programm. Sie sind im Durchschnitt alle viel besser angezogen als ich. Tressie sagt: „Wartet nicht drauf, das Euch das Publikum findet. Sucht Euch das Publikum, das Ihr haben wollt. Es gibt nämlich viele davon.“

6. Über Kreativität sagt sie: „Alles, das was taugt, dauert ungefähr vier Mal länger, als man vorher gedacht hat. There is no shortcut for synthesis.“

7. Sie twittert. Wie geht sie mit den Trollen um? „Das ist eine Technik. Das muss man lernen. Es ist keine Charakterfrage oder Talentsache und schon mal gar nichts für blutige Anfänger.“ Außerdem hat sie mit ihrer Familie und ihren Freunden einen Notfallplan ausgearbeitet. „Alle wissen, was zu tun, wenn auf einmal 5000 Leute pro Tag anrufen.“

Ich habe ihr Buch nicht gelesen. Aber ich bin ein Fan. Tressie McMillan Cottom hat Charisma, sie hat einen Auftrag und sie denkt übers Schreiben anders nach als die meisten Leute, die ich kenne. Das war ein guter Abend. 

bookmark_borderWas uns aggressiv macht

Auch Primaten werden wütend. Wirklich böse jedoch ist nur der Mensch. Der berühmte Neuroforscher Robert Sapolsky erklärt woran das liegt – die Ursache wohnt tief in unseren Köpfen. Außerdem, so glaubt er, spielt „stuff“ eine Rolle, also die Entdeckung der Landwirtschaft und damit des sozioökonomischen Status‘, der sich anhäufen, stabilisieren und sogar ererben lässt.
Robert Sapolsky war schwer erkältet, als wir uns unterhielten. Er klang wie Tom Waits am Morgen nach einem tüchtigen Gelage. Ein Jammer, das Print dergleichen kaum einzufangen vermag.
(P.M.-Magazin, 5/2018)