bookmark_borderDiese Moll-Scheiße zog mir komplett den Stecker

Am vergangenen Wochenende Albin de la Simone gesehen im kleinen Saal der Elphi. Beobachtungen der banaleren Art: Der Raum ist nicht gemacht für Musik mit Schlagzeug. Egal. Der Künstler selbst hat seine Lieder gesungen und charmant auf Englisch mit uns geplaudert mit seinem französischen Akzent. Man musste ihn lieb haben. In den Tagen danach noch ein paar seiner Songs auf Spotify gehört und auf der heimischen Gitarre nachgespielt. Er hat kleine, clevere Tonartwechsel mit drin, die alles so plauderig und charmant machen wie die Ansagen im Konzert. Und in manchen Momenten hat mir die Moll-Scheiße komplett den Stecker gezogen, wie Herrndorf das mal formuliert hat. Komisch. Ich hab’s den Liedern zunächst gar nicht angesehen, naja, angehört.

Einige Tage davor: Niels Frevert in der Markthalle.

Verfolgt mich auch seit Wochen, der Typ. Zum einen natürlich, weil der sehr gute Pianist der Band mit mir im Verein Tischtennis spielt. Aber irgendwie passt die Melancholie der Songs auch gerade zum Leben. Ich höre ihn jeden Tag. Mir ist dabei aufgefallen, dass Niels Frevert irgendwann angefangen hat, den Moment des Stecker-Ziehens in die C-Teile seiner Lieder zu packen, also jene Parts, die mit dem Rest des Stückes mehr verschwägert als verwandt sind. Dort, über die mit allem anderen fremdelnden Akkordfolgen, setzt er dann diesen einen Satz, der alles dreht oder verdichtet. Es gab im Konzert auch einen dieser Momente, die man vermutlich nicht gut planen kann. Wo jeder für sich auf einmal denkt: „Das sing ich jetzt mit.“ Und dann haben das auf einmal alle gemacht, ganz unaufgefordert. Und man hat den Jungs auf der Bühne angesehen, dass sie nicht damit gerechnet haben. Ich kann das schlecht beschreiben, aber ich glaube wirklich, dass in solchen Augenblicken ein eigenes Wesen entsteht, eine Art kollektives Tier, das natürlich viel größer ist, als alle zusammen. Ich glaube auch, dass Menschen für genau diese Momente so etwas wie Gottesdienste erfunden haben.
Und natürlich aus Dankbarkeit für die bunten Blumen in den kommunalen Beeten (auch wenn dieses Symbolbild aus dem Garten stammt und nicht aus dem öffentlichen Raum).

Zwei Kleinigkeiten noch, die mich erstaunt haben.
Erstens.
Ist es klug, seinen Laden nach Krankheiten zu benennen?

Zweitens: Beim Tischtennis in einer Schulturnhalle in Eppendorf gespielt. Dabei dies hier entdeckt. Wie viel Selbstironie gehört dazu, um den auf der Kanonenkugel heranreitenden Baron von Münchhausen über das Eingangsportal eines Schulgebäudes zu tackern? Verführt es die jungen Leute zum Flunkern und Schummeln? Man weiß es nicht. Kurios.

Kommt gut in die Woche!

bookmark_borderSay something – see something!

Metzger’s Michigan Monday #15

In den USA gibt es einen Satz, der die Menschen zu Zivilcourage ermuntert. „See something, say something.“ Das bedeutet: Wenn man in der Öffentlichkeit etwas sieht, das den geltenden Normen widerspricht, soll man etwas sagen, sei es durch beherztes Einschreiten oder durch einen Alarm bei der zuständigen Ordnungshut.

Da ich gerne Scherze mache, drehe ich derlei Sätze manchmal um, einfach um zu sehen, was dabei herauskommt: „Say something, see something.“ Das Bild oben ist ein Produkt von Dall-E, ich habe den Satz dort eingegeben und die KI gebeten, das Ding im Stile von Joan Miró zu malen. Cool, oder?

Jedenfalls kommen beim Sätze-Umdrehen manchmal Dinge raus, die einen länger verfolgen, als man mag. Dieser hier sitzt mir mächtig im Nacken.

Wir sagen was – und sehen es auf einmal überall.
Wir sehen dann plötzlich nix anderes mehr.

Wir sagen etwas – und glauben es auf einmal.
Wir glauben dann plötzlich nix anderes mehr.

So funktioniert der Mensch. Seit den 1960er Jahren gibt es dafür einen Begriff: Es handelt sich um einen Bestätigungsfehler, einen Confirmation Bias. Wir sehen dann nur noch, was das Gesagte bestätigt, wir übersehen, was es widerlegt. Ich vermute: Weil das einfach soooo viel Denkarbeit erspart. Der Thalamus filtert alles andere raus, wie ein Palastwächter, der die ungebetenen Gäste abwimmelt, oft auch mit Gewalt, ehe sie den Thronsaal des Bewusstseins betreten.

Selbst in der Wissenschaft droht der Bestätigungsfehler. Als Waffe dagegen lautet das Standardverfahren (eigentlich), dass man mit aller Kraft versuchen soll, die eigene These zu widerlegen. Jede Publikation, jede Studie, die eine These bestätigt, bedeutet (eigentlich): Man ist beim Widerlegungsversuch dermaßen gründlich gescheitert, dass man achselzuckend nicht anders kann, als die These anzunehmen (bis jemand kommt, dem das Widerlegen gelingt).

Nicki sagt gerade: „Ey, man könnte doch auch ’selektive Wahrnehmung‘ sagen. Für das Grundphänomen haben wir mindestens 20 verschiedene Begriffe.“ Stimmt natürlich.

Ich merke es jedenfalls im Alltag. Nicht an mir. Sondern natürlich zuerst bei meinen Mitmenschen. Die haben EINMAL was gesagt, EINMAL die Welt so und so gesehen – und schon ist alles verloren. Keine Erfahrung, keine Einsicht bringt sie wieder ab von der einmal gemachten Deutung. Völlig irre. Kennt jeder, glaub ich. Man verbeißt sich in diesen Knochen und lässt nie wieder los.

Der letzte Schritt: Ich merk’s auch an mir selbst. Aber das ist knifflig. Viel kniffliger. Weil es fürs Gehirn wahnsinnig teuer ist, wahnsinnig aufwendig. Man muss das ganze Bild neu malen. Das kriegt man selten hin.

Intellektuelle Einsichten gehören dazu. Allianzen. Freundschaften. Feindschaften. Ernährungsgewohnheiten. Schlafenszeiten. Scham. Vergebung, auch.

Vielleicht hab ich mir genau das vorgenommen: Einmal im Monat etwas sagen, ohne es hinterher zu sehen. Oder noch besser: Etwas zu sehen, obwohl ich vorher das Gegenteil gesagt habe.

Mal sehen, ob das klappt.

bookmark_borderDer Zauber einer Bibliothek vor der Erfindung des Internets

Dieser Tage musste ich an ein Abenteuer aus dem Studium denken, damals in Tübingen. Ich war im vierten Semester und eines der Seminare hieß so sinngemäß: „Wie schreibt man eigentlich einen Lexikonartikel?“ Ich so: Joa, warum nicht? – und hab mich angemeldet. Hat sich dann aber schnell gezeigt, dass die Dozentin die Sache sehr ernst meinte: Wir sollten WIRKLICH einen Lexikonartikel schreiben für ein wirkliches Lexikon. Am Ende des Semesters haben, wenn ich das richtig sehe, genau drei Teilnehmende die Sache durchgezogen. Einer davon ist jetzt Professor an genau dem Lehrstuhl, an dem wir damals studiert haben.

Der mir zugeordnete Artikel trug den Namen „Epanodos“. Es handelte sich um eine vergessene rhetorische Stilfigur, die keiner meiner verwendete und niemand mehr brauchte oder vermisste. Aber egal. Sie war nun mal da und deshalb hatten die Herausgeber ihr einen Platz zugedacht im gigantischen „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ – und zwar genau zwischen den nicht minder wichtigen Einträgen „Epanalepse“ und „Epenthese“.

Jeder musste zu Beginn des Semesters ein Referat über einen Aspekt der Figurenlehre halten und dann hat man jedem von uns eine Literaturliste in die Hand gedrückt und uns ein paar Wochen Zeit gegeben, das Material für unsere Artikel zu sammeln. In meinem Fall waren es mehr als 200 Bücher. Einige davon: antike griechische Schriften, die nur in Bruchstücken erhalten waren. Ich konnte kein Griechisch, aber ich wusste, wie meine Figur von den Griechen geschrieben wurde. Also … an die Zettelkästen gegangen, das griechische Werk über Stilfiguren rausgesucht, aha, es gab einen Band, in dem das Fragment mit abgedruckt war. Also das Buch bestellt und ausgeliehen und dann alles durchgelesen. Es war eine mühevolle Arbeit. Heute erledigt das eine Suchfunktion in weniger als einer Sekunde.

Dann tatsächlich: Da steht’s! Also die Seiten kopiert, das Buch zurückgegeben und rumgefragt … und tatsächlich einen Griechen gefunden, der damals Altphilologie studiert hat und sich mit rhetorischen Figuren auskannte. Er hat mir die Passage dann schnell beim Bier übersetzt. Und so ging’s weiter. Ich hab rund ein Dutzend antike Figurenlehren gelesen und die entsprechenden Passagen rausgeschrieben, dann ein paar Quellen aus der Spätantike, und danach ging’s über Renaissance, Barock, Aufklärung und so weiter bis heute. Die Bücher aus der Aufklärung waren besonders krass. Viele glaubten damals, dass alles mit allem zusammenhängt und man die Regeln nur finden und dem Universum sozusagen entreißen muss, um sie zu verstehen. Jede Figur, so war damals die These, ist mit einer bestimmten Gemütsregung des Menschen verbunden. Ich fand das aufregend und für einen kurzen Moment dachte ich: Genau so muss man’s machen. War aber natürlich Quatsch. Figuren und Emotionen sind nur lose miteinander verknüpft. Manchmal auch gar nicht.

Der für mich aufregendste Moment der Recherche waren die beiden Rhetorik-Bücher von Philipp Melanchthon. Melanchthon war ein wichtiger Reformator, er hat Luther dabei geholfen, die Bibel zu übersetzen. Jedenfalls hatte die alte Tübinger Bibliothek tatsächlich noch beide Rhetoriklehrbücher des Meisters irgendwo in trockenen, kühlen Speicherräumen gelagert. Und zwar: die Originalausgaben von fünfzehnhundertschießmichtot. Ich so: Okay, die muss ich lesen. Also einen Spezialantrag gestellt … und dann ging man einige Zeit später in einen sehr alten, holzvertäfelten Raum und ein alter Mann gab einem weiße Schutzhandschuhe, die musste man sich überstreifen und dann saß er daneben, während man las. Die Bücher waren furchtbar wertvoll. Und lange ungelesen: Beim Öffnen knackten Seiten und Umschlag wie die Dielen einer sehr alten und sehr unrenovierten Altbauwohnung. Es war ein heiliger Akt. Der Zauber einer Bibliothek vor Erfindung des Internets. Aber dann hatte Melanchthon, wenn ich mich richtig erinnere, nur die Passagen aus der pseudo-ciceronianischen „Rhetorica ad Herennium“ abgeschrieben wie alle anderen auch. Tja.

Was ich sagen will: Es hat Wochen gedauert, allein die ganzen Bücher zusammenzusuchen und in die Finger zu kriegen, zu lesen, abzuschreiben und wieder zurückzugeben. Fast in allen Büchern stand dasselbe. Allerdings kam es irgendwann zu einer kleinen Verschiebung. Jemand schrieb noch was anderes und ab dann haben das einige Fachleute auch mit abgeschrieben, aber ich weiß es nicht mehr genau.

Die jungen Leute können nicht erahnen, wie mühevoll der Zugang zu Wissen war, bevor Wikipedia und das Internet erfunden worden sind. Das Gedächtnis war viel wichtiger als heute.

Habe vorhin gegoogelt und gesehen, dass einige Fachbeiträge meinen Artikel zitiert haben: Da ist ein Aufsatz über mittelalterliche Kunstgeschichte, eine Dissertation über Thomas Bernhard, eine über den Minnesang, ein niederländisches Rhetorik-Lexikon. Es war also nicht alles umsonst. Und ein großes Abenteuer war es ohnehin. Es ist ein schönes Gefühl, sich daran zu erinnern. Ich habe Wochen meines Lebens mit einem versunkenen Konzept zugebracht und dabei eine Technik erlernt, die seither ebenfalls versunken ist. Und doch gibt mir all das eine andere, bessere Perspektive auf die heutige Zeit.

Ach so. Ein Beispiel für „Epanodos“ ist der Satz: „Du bist schön. Schön bist du.“ Man wiederholt einen Satz, dreht ihn dabei aber um. Man hätte sich die Sache auch sehr einfach machen können.

bookmark_borderAngeblich können wir 4000 Wörter pro Minute denken

Dies ist eine Landkarte. Wir haben sie am Eingang des Waldes entdeckt, der in der Nachbarschaft rumsteht. Man kann sich damit prima orientieren. Die Landkarte ist ein Bild. Sie ist eine Sammlung von Gedanken. Sie ist viele Gedanken zugleich. Viele Gedanken, die miteinander zusammenhängen. All das macht die Welt um uns her auf einmal erklärbar und verstehbar. Man kommt nicht mehr vom rechten Wege ab. Eine meisterhafte Erfindung. Sie macht, dass ich Stolz empfinde auf die Menschheit und all ihre Hervorbringungen.

Dieser Tage hab ich ein Buch gelesen, das im nächsten Jahr in deutscher Übersetzung auf den Markt kommt. Geht mal wieder um Psychologie. Darin lese ich von einer Studie aus den 90er Jahren. Es geht um unsere Gedenken. Diese innere Stimme, die da die ganze Zeit vor sich hin plappert. Wie schnell redet diese Stimme eigentlich? Wie schnell können wir denken? Die Studie behauptet, dass wir innerhalb einer Minute 4000 Wörter denken können. Das ist wahnsinnig viel Stoff in sehr kurzer Zeit. 13 bis 14 Buchseiten in einer Minute. Ein ganzer Schinken wie „Krieg und Frieden“ in zwei Stunden. Irre.

Trotzdem fällt mir mal wieder auf, dass es einfach unmöglich ist, sehr viele Fragen in angemessener Tiefe zu durchdenken. Man schafft das immer nur für ein paar Dinge. Bei den meisten anderen Dingen schafft man es nicht. Und dann vergisst man natürlich fast alles wieder. Oder hat es gerade nicht parat. Der Geist ist ein Schreibtisch, bis obenhin zugemüllt mit Büchern, Heften und Aktenordnern. Und klar: Da können immer nur ein paar Bücher, Hefte oder Ordner ganz oben liegen. Den Rest müsste man erstmal suchen, um drin lesen zu können.

Deshalb sind wir wahnsinnig schlau und wahnsinnig dumm zugleich.

Ob die Sache mit den 4000 Wörtern stimmt, weiß natürlich kein Mensch. Die Methode der Studie überzeugt mich nicht besonders. Wenn heute ein Forschungsteam versuchen würde, dieselbe Sachen rauszukriegen, würde vermutlich eine ganz andere Zahl rauskommen. Man darf gerade in den weichen Wissenschaften nicht alles so wörtlich nehmen.

Ne gute Story ist es trotzdem.

Ich brauch noch ein Geschenk für Weihnachten. Oder zwei.

Mein Gehirn braucht für diesen Gedanken nur den Bruchteil einer Sekunde. Aber wenn ich dran denke, dass ich das Zeug auch wirklich besorgen muss, fühle ich mich wie Coco aufm Sofa. Hundemüde.

bookmark_borderSnackable Content #1: „Maria im Speckmantel“

Im Internet gieren die Nutzenden immer stärker nach „snackable content“.

„Content“ bedeutet: irgendwelche Inhalte. Texte zum Beispiel. Oder Bilder.

„Snackable“ bedeutet: Man kann’s schnell konsumieren, schnell verstehen, schnell kopieren, schnell verbreiten. Es geht also nicht ums Vier-Gänge-Menü, sondern eher um Kartoffelchips. Daran ist nichts falsch. Auch Kartoffelchips sind wichtig für unser Wohlbefinden.

Eine Diskussion mit meinem Vater um die Kunst des Mittelalters hat mich nun auf genau solch einen schnellverzehrbaren Inhalt gebracht: nämlich ein Figuren-Ensemble mit dem Titel „Maria im Speckmantel“. Das Motiv der Schutzmantelmadonna war ja ein beliebter Topos in der bildenden Kunst seit dem 12. oder 13. Jahrhundert. Die „Dattel im Speckmantel“ kennt wohl jeder, der schon mal einen flinken Happen zum Fetenbuffet beizusteuern hatte.

Nun haben meine Schwester, mein Schwager, meine Nichte und womöglich sogar meine beiden kleinen Neffen diese Idee umgesetzt und beide Konzepte kombiniert.

So verwandeln sich klassische Krippenfiguren ruckzuck ein einen optischen Gaumenschmauß.

Internet kann so einfach sein.

bookmark_border„I have to see a man about a horse“ – unnützes (aber womöglich lustiges) Sprachwissen. Und danach noch ein Nietzsche-Zitat und eine Quizfrage

Poitou, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

Durch meine wiederholten und zunehmend ausgedehnten Aufenthalte in den Vereinigten Staaten werde ich immer mal wieder mit Redewendungen konfrontiert, die mir bislang unbekannt waren. Ich schließe dann überhastet darauf, dass viele andere Menschen aus meiner alten Heimat diese Redewendung ebenfalls nicht kennen, was mich wiederum dazu verführt, alle möglichen Leute damit zuzulabern.

Genau das hab ich auch jetzt vor. Es geht um die Redewendung: „I have to see a man about a horse.“ Sie erfüllt mich immer wieder mit der größten Freude und zwar auf mehrere Ebenen zugleich. Übersetzen würde man den Satz vermutlich mit: „Ich muss mal ums Eck.“ Oder: „… für kleine Königstiger.“ usw.

Für den historischen Ursprung von „to see a man about a horse“ habe ich zwei Erklärungen gehört. Die eine lautet: Ich will mir einen Gaul kaufen und hab jetzt ne Verabredung mit einem Anbieter. Wir reden, wir verhandeln. Vielleicht prüfe ich dabei den Gesundheitszustand des Tieres und so weiter.

Die zweite und vermutlich richtige Erklärung: Es geht um eine Wette auf der Rennbahn. Ich erwarte mir von einem bevorstehenden Treffen einen wertvollen Geheimtipp oder bin gar bereit, stehenden Fußes eine konkrete Summe auf einen bestimmten Traber, Galopper oder ein Islandpferd zu setzen, das im Tölt zum Siege eilt.

In beiden Fällen dient der Satz der Entschuldigung. Man befindet sich gerade in einer Unterhaltung und zwar in einer Art, die ein abruptes Ende des Gesprächs unangemessen erscheinen lässt. Äußere Gründe jedoch zwingen uns nun zur Eile. Wir führen genau diesen Grund ins Feld, um unseren Abschied verträglicher zu machen. Ein Pferd ist eine große Sache. Alle werden verstehen, dass wir solch einem Termin stets den Vorzug geben müssen.

Heute verwenden wir „I have to see a man about a horse“, wenn wir sehr dringend aufs Klo müssen. Das ist lustig, wie fast alle Euphemismen lustig sind. In diesem Falle erhöht es vermutlich den Reiz, dass die meisten von uns schon dabei waren, wenn Pferde urinierten und diskret auf die Wiese äpfelten. Beeindruckende Augenblicke waren das. Dieser Euphemismus, dessen Zweck ja eigentlich darin besteht, eine tabuisierte Handlung zu vernebeln, erweckt also durch die Hintertür noch extremere Fantasiebilder. So wird „I have to see a man about a horse“ zum ironischen Kommentar über den Gebrauch von Euphemismen überhaupt. Das ist ganz großer Sport, wie man ihn auf der ganzen Welt mit gutem Recht fast nur den Angelsachsen zuzutrauen pflegt.

Außerdem hab ich mir in der Bahn gestern mal wieder Nietzsche als Hörbuch reingezogen. Dabei einen schönen Satz gehört. Er ist vermutlich berühmt.

„Hütet Euch, gegen den Wind zu speien.“

Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“

Das wiederum hat mich auf die Frage gebracht, wie das eigentlich war mit Nietzsche und den Nazis. Also Wikipedia gelesen. Dazu eine Quizfrage:

Wie oft hat Hitler in seinen Reden von Nietzsche gesprochen?

a) In fast jeder Rede. Nietzsche war (mit Abstand) Hitlers Lieblingsphilosoph.

b) Es sind bislang 74 Textstellen aus privaten und öffentlichen Reden und Gesprächen dokumentiert.

c) Nie.

Die Lösung findet Ihr hier. Wir wissen von fast allem viel zu wenig.

Und? Habt Ihr richtig getippt? Oder falsch? Und wenn ja, warum? Schreibt mir einen Kommentar.

bookmark_borderWie Rauch von starken Winden

Lyrik aus der Barockzeit hat ihre Tücken. Die Sprache hat sich seither sehr verändert. Wir verstehen die meisten Sachen nicht mehr.

Und dann das Lebensgefühl! Die Leute hatten damals das Gefühl, dass alles den Bach runter geht. Naja. Es ging ja auch wirklich alles den Bach runter. Überall war Krieg. Und Hunger. Gelegentlich kam die Pest dazu. Was also tun? Die einen suchten Zuflucht in leiblichen Freuden. Sie wollten so viel Spaß wie möglich mitnehmen. Morgen schon konnte alles vorbei sein. Die anderen suchten ihr Heil in der Religion. Vielleicht gab’s ja nach dem Tod noch ein zweites Leben, das länger hielt und Besseres bot. Allen gemein war jedoch das Bewusstsein, dass das Leben flüchtig war. Nichts bleibt, nichts hat Bestand. Alles vergeht. Zack!

Andreas Gryphius hat darüber viele Gedichte geschrieben. In einem davon – es trägt den heute nicht mehr sagbaren Titel „Menschliches Elende“ (es heißt wirklich so, mit einem „e“ hinterm Elend) – zählt er auf, was unser Leben so auszumachen pflegt. Schmerzen. Falsches (weil flüchtiges) Glück. Angst. Leid. Wir sind wie Schnee, der in der Sonne schmilzt. Eine niederbrennende Kerze. Alles wie Geplapper und schlechte Gags. Das Leben: ready for Altkleidersammlung. Diejenigen, die schon gestorben sind: Wir fühlen sie nicht mehr. Keine Sau erinnert sich an sie. Man vergisst uns, wie man einen Traum vergisst nach dem Erwachen. Man kann das Leben und die Erinnerung daran nicht festhalten, wie man auch das Wasser eines Flusses nicht festhalten kann. Egal, wieviel Ruhm wir angesammelt haben – auch der wird nicht bleiben. Wer heute lebt, stirbt morgen. Wer morgen geboren wird, nun, der stirbt halt übermorgen. So geht das Gedicht.

Und in der letzten Strophe kommen dann die Sätze, die man vielleicht schonmal gehört hat und die das Gedicht über 350 Jahre lang im kollektiven Gedächtnis erhalten haben:

„Was sag ich? Wir vergeh’n, wie Rauch von starken Winden.“

Am Wochenende war ich jedenfalls auf einer Trauerfeier in meinem Heimatdorf. Es ging um Dieter Blau, der eine sehr wichtige Gestalt meiner Kindheit war und über den ich hier schon ein paar Sachen geschrieben habe. Nämlich hier. Und hier. Und hier. Und hier. Er ist mitten in der Pandemie gestorben, weshalb fast keiner dabei war, als er beerdigt wurde. Jetzt gab es einen Gedenk-Gottesdienst für ihn und danach ein Treffen im Gemeindehaus. Ich habe ein paar Leute dort gesehen, mit denen ich in meiner Kindheit regelmäßig zu tun hatte. Manche davon habe ich hinter ihren Masken nicht mehr erkannt. Und auch ohne Maske war’s nicht immer leicht.

Und ich habe gedacht: Seit unserer Kindheit sind wir alle schon oft gestorben und wieder neu geworden. Nicht nur beim Übergang in die Jugend und dann ins Erwachsenenalter. Denn auch danach geht’s ja immer weiter. Vielleicht kriegen wir Kinder und alles ist auf einmal anders. Dann werden die Kinder groß und machen ihr eigenes Ding. Vielleicht sterben die Eltern. Eine Freundin meinte mal: Sie sieht sofort, wer das schon hinter sich hat und wer nicht. Dann die Jobs. Sie kommen und gehen. Kollegen: kommen und gehen. Freunde: kommen und gehen. Partner: kommen und gehen. Und selbst wenn sie bleiben, dann ist es vielleicht die Liebe, die kommt und geht. Dann lebt man mit dem alten Partner, aber ohne die alte Liebe. Gesundheit: kommt und geht. Geschmeidige Gelenke: kommen und gehen. Wohnungen und Häuser: kommen und gehen. Geld, Wohlstand, Sicherheit: kommen und gehen. Und all das ist und war immer Teil von uns, Teil dessen, was wir „ich“ nennen. Es kommt, es geht. Und immer bleibt etwas zurück und muss etwas neu werden, was auch uns selbst wieder neu werden lässt.

Es war schön, wieder im Dorf zu sein. Aber es war auch anstrengend. Genau wie es anstrengend ist, Lyrik aus dem 17. Jahrhundert im Original zu lesen. Seit damals ist einfach ne Menge passiert.

Und klar, wir haben uns ein paar Geschichten von früher erzählt. Wir haben alte Bilder gesehen mit diesen fremden Kindern drauf, die wir einmal waren. Das war alles toll und ich bin froh, dass ein paar entschlossene Leute das geplant und durchgezogen haben, dass es überhaupt passiert ist mit dieser Feier und dass ich dabei war. Und trotzdem hab ich heute das schale Gefühl, dass wir nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt haben. Die allermeisten Dinge bleiben ja wirklich ungesagt, selbst dort, wo man sich Mühe gibt.

In der Beratung und manchen Formen der Psychotherapie gibt es diese Intervention, dass man sich hinsetzen und seine eigene Grabrede schreiben soll. Eigentlich ist das eine sehr einfache Übung. Aber sie ist auch wahnsinnig kraftvoll. Man blickt dabei auf sein ganzes Leben und zwingt sich, die eigene Existenz wie von außen zu sehen. Wer wollte ich eigentlich werden? Bin ich der geworden, der ich sein wollte? Der ich sein sollte? Die beste Version meiner selbst?

Wer seinen Weg ändern will, kann sich ja mal hinsetzen und so eine Rede schreiben. Und dann mal sehen, was alles geht. Und was alles kommt. Ein neuer Tod. Ein neues Leben. Vielleicht.

Heute denke ich: Diese Grabrede auf uns selbst, die wird vermutlich inniger sein, wichtiger, tiefer und wesentlicher als das, was dann wirklich neben unserem Sarg verlesen wird. Die selbstgemachte Rede kann wie ein Feuer aus Buchenholz sein, das im Schwedenofen knistert und die Stube tüchtig durchheizt.

Die wirkliche Grabrede ist dann eher wie der Rauch, der oben aus dem Kamin steigt. Dann kommt der Winterwind.

Und trägt den Rauch übers Dach davon.

bookmark_borderHoffen auf ein noch größeres Problem

Manchmal fällt mir das Schreiben schwer. Ich habe das nie systematisch untersucht, aber ich vermute: Es geht allen so, die mit dem Schreiben ihr Geld verdienen. Oder den meisten, da bin ich mir sicher.

Und dann, nach einiger Zeit des Elends, geht’s auf einmal halt doch.

Warum geht es plötzlich? Da gibt es mehrere Szenarien. Manchmal hat man in den Tagen der Dürre einfach genug nachgedacht. Wissen, was man sagen will – das hilft eigentlich immer.

Ein alter Prof von mir hat mal behauptet, das Elend sei nur der Ausdruck einer Regression. Dies sei der Preis, den jeder zu entrichten habe, der etwas Neues schaffen wolle. Naja. Weiß nicht, ob das stimmt. Es klingt aber schlau (und signalisiert, dass man tüchtig Freud gelesen hat; das war ihm immer wichtig; muss mal googeln, ob er noch lebt).

Mir ist gestern noch ein anderes Szenario eingefallen, das ich einige Mal selbst erlebt habe. Ganz kurios. Also. Wenn man ein Stück zu schreiben hat, aber es läuft nicht, dann fühlt man sich mies. Kennt jeder. Das Problem ist dann irgendwann nicht mehr das zu schreibende Stück selbst – sondern das, was man alles an Schlechtem über sich selbst denkt.

Eine Lösung besteht dann darin, auf ein noch größeres Problem zu hoffen. Das noch größere Problem sorgt nämlich dafür, dass man sich plötzlich um andere Dinge sorgt. Die verurteilenden Gedanken über sich selbst verschwinden. Der innere Handwerker übernimmt – und das Schreiben wird wieder zu dem, was es eigentlich ist: Das, was man halt so macht, um die Miete zu bezahlen.

Einmal hab ich das sogar als Intervention erlebt. Damals hat mich Dietmar Bittrich überredet, zum Satsang ins Goldbekhaus zu kommen. Auf der Bühne saß ein Mann namens Isaac Shapiro. Er „trottete wie ein abgeschabter Teddybär nach vorn und trank Kaffee aus einem Plastikbecher“. So hat der Kollege Bittrich die Szene einmal beschrieben. Shapiro saß dann tatsächlich im Hawaiihemd auf der kleinen Bühne und die Leute beklagten sich bei ihm über ihr Leben. Eine Frau, die ansonsten auf den Kanaren lebte, erzählte, dass der Vulkan, der ihre Insel gebildet hatte, kurz vor einem Ausbruch stand. Also: vielleicht. Jedenfalls grummelte und bebte es jetzt häufiger unter der Erde. Und die Zeitungen schrieben darüber und machten allen Angst und die Scheiß-Feriengäste aus Deutschland stornierten natürlich ihren Urlaub und brachten kein Geld mehr in den Palmengarten. „Meine ganze Existenz, es ist bald alles ruiniert“, klagte die Frau. Alle nickten. Das Leben war hart. Shapiro sah der Frau erstmal lange in die Augen und atmete tief. Und dann fing er an, von der Klimakrise zu reden. Vom Regenwald, der immer weniger wurde. Ich glaube: auch von den vielen Atomwaffen, die überall noch rumstanden. Jedenfalls machte Shapiro allen klar, dass die Menschheit vermutlich unrettbar im Eimer war. Am Ende seiner Rede meinte er: „Du hast mir von einem Problem erzählt. Und ich habe dir ein größeres Problem gegeben.“ Die Frau nickte. Sie hatte verstanden. Alle anderen hatten auch verstanden.

Manchmal ist das größere Problem genau das, was man gerade braucht. Wenn ich mal wieder nicht schreiben kann, dann werd‘ ich mir eins suchen.

bookmark_border„Küchenkriege“ – verbale Heimsuchungen

Kennt Ihr das auch? Manchmal taucht im Kopf ein Wort auf und weigert sich, wieder zu gehen. Wie ein zugelaufener Pudel. Verbale Heimsuchungen! Also seufzt man und spielt eine Weile damit. Zum Beispiel gestern. Plötzlich denkt es da in mir: „Küchenkriege“.

Könnte man googeln. Mais non! Man bemüht Gedächtnis und Vorstellung. Und schon fügt sich alles: Ahhh, die deutsch-dänischen Küchenkriege von 1857! Von vielen vergessen. Anfangs ging’s dabei ja nur um den Abwasch. Der erste Zwischenfall fand als „Scharbeutzer Spülstein-Scharmützel“ Eingang in regional-historische Abhandlungen, besonders in Jan-Jan Johannsens Standardwerk „Smørreblod“ von 1907 (gut informiert, aber auch SEHR nationalistisch).

Selbst beim Brei – wer hatte auf beiden Seiten das Sagen? Natürlich die Griestreiber! Auch die Mehlspeisen-Spezialisten witterten neue Märkte und schrien: „Zu den Waffeln!“ Fünische Fagottbläser zogen ins Tonstudio, um eine Schlachtplatte aufzunehmen. Dann ging’s um die Wurst. In Hamburg verbot man Røde Pølser – angeblich wegen der Zusatzstoffe (war natürlich reine Schikane). Endgültig vorbei war der Spaß, als die Reihe an den Hering kam: Die preußische Seite forderte den nordischen Nachbarn auf, die schlanken Fische ab jetzt ausnahmslos einzulegen – in eine saure Brühe aus Essig und Öl, mit Zwiebeln, Senfkörnern und Lorbeerblättern drin („Bismarckhering“; Bismarck gilt bei den Dänen sowieso als der schlimmste Typ aller Zeiten, is wirklich so). Ansonsten habe man der Gegenseite „nichts weiter zu sagen“ (mitgeteilt durch die berühmte „Rollmops-Depesche“ vom 13. Juli 1857). Ab da gab’s kein Halten mehr. Der Däne schlug los – und mit was für üblen Werkzeugen! Man sah Beile aus Vejle, Schilde aus Roskilde, Kanonen aus Ballerup! Das Blut der Gefallenen mischte sich mit der weißen Gischt der stürmischen Ostsee, stolze Recken, zerhackt zu Rødgrød med Fløde.

Mit dem Ruf „Nie wieder Æbleskiver“ griff man zu den Waffeln

Endlich – nach drei hartgekochten Monaten – einigte man sich auf ein Unentschieden. Offiziell. Denn natürlich hatten die Deutschen (naja: die Preußen und ihre Verbündeten) mal wieder den Kürzeren gezogen. Und bei Penny in Barmbek standen jetzt reihenweise Carlsberg-Kanister, Tuborg-Dosen und Faxe-Flaschen im Regal. Keine Frage: Mit dem „Hotdog-Frieden von Helsingør“ vom 30. Oktober 1857 (siehe Johannsen, S. 789) begann die dänische Küche ihren Siegeszug um die ganze Welt. Er dauert an bis heute.

So. Musste mal raus.

Meine Empfehlung: Sollten Eure Kinder in der Schule nie was über die Sache gelernt haben, dann wird’s mal Zeit für einen gepfefferten Brief an den Geschichtslehrer. Mit Zwiebelringen obendrauf!

bookmark_borderWas ist Doomscrolling?

Seit einigen Wochen wird meine Partnerin von diversen Journalisten-KollegInnen kontaktiert. Alle wollen wissen, was es mit diesem „Doomscrolling“ auf sich hat.

Das Bild oben habe ich selbst gemacht. Es ist natürlich selbstironisch gemeint. Es transportiert alles, was „Doomscrolling“ meint: Man kann nicht aufhören, Social-Media-Inhalte in sich reinzufressen. Und zwar solche, die einem versichern, dass die Welt jetzt endgültig im Arsch ist. Man reagiert womöglich mit Entsetzen.

Wie lange gibt es den Begriff schon? Bei derlei Fragen konsultiere ich stets Google Trends. Dort kann man sehen, wann und wo ein Begriff wie häufig bei Google nachgefragt wurde. Tolles Werkzeug! Hier die entsprechende Grafik zum Thema Doomscrolling (bezogen auf die USA):

Die Grafik besagt: Die Leute in Amerika haben erst ab dem 12. April angefangen, „doomscrolling“ zu googeln. Es handelt sich also um einen Begriff, der erst mit der Pandemie in die Alltagssprache gekommen ist. Für Deutschland gibt es für den April übrigens zu wenige Einträge, um daraus überhaupt eine Grafik bauen zu können. Soll also keiner behaupten: „Wir in Berlin sagen das schon seit Weihnachten.“

Nach und nach sind jedenfalls diverse Artikel erschienen, in denen Nicki ihren Senf zu diesem Tun abgeben durfte. Erst kam was von Fastcompany, dann von Wired. Andere Medien haben auch schon angerufen, aber noch nix veröffentlicht. Die Zitate tauchen jedenfalls jetzt überall im Netz auf. Man schreibt sie einfach ab. Auf Französisch, auf Chinesisch, auf Spanisch. Schon interessant, wie Informationen so durchs Netz wandern.

Fastcompany und Wired machen einen guten Job. Manche der anderen Artikel scheinen mir folgendermaßen zu entstehen: Eine Maschine übersetzt die Arbeit anderer aus dem Englischen in irgendeine andere Sprache. Eine andere Maschine übersetzt sie wieder zurück. So wird aus guten Sätzen ein Haufen Unsinn – und aus der „School of Information“ auf einmal das „College of Files“. Man kichert.

Interessant auch, dass von den KollegInnen kaum wer fragt, ob es Doomscrolling überhaupt gibt. Ist das ein Massenphänomen? Das setzen alle voraus. Es läuft ein bisschen wie früher beim ontologischen Gottesbeweis. Der ging so: Dass wir von Gott reden können, dass wir einen Begriff von ihm haben, beweist, dass es ihn auch geben muss. Wir wissen natürlich längst, dass der ontologische Gottesbeweis Käse ist. Man kann ja auch von einem fliegenden Einhorn reden, ohne dass es fliegende Einhörner gibt. Der ontologische Doomscrolling-Beweis ist genau so Käse. Trotzdem kommt man noch immer damit durch.

Ob Doomscrolling ein Massenphänomen ist, das weiß heute, wenn ich das richtig sehe, kein Mensch. Es gibt keine ordentlichen Studien dazu. Und falls doch, dann habe ich sie nicht gefunden. Alles was wir dazu haben, sind Meinungen. „Educated guesses“, wie die Amerikaner sagen.

Warum doomscrollen wir überhaupt? Meine Lieblingserklärung: Es läuft ein bisschen wie früher im Krieg. Man liest Zeitung, hört Radio – aber man quatscht halt auch über den Gartenzaun mit den Nachbarn. Dort werden anderen Dinge verbreitet. Gerüchte, manche davon wahr, andere unwahr, wieder andere: irgendwo dazwischen. Das sind wichtige Informationen. Kleine Steinchen, mit denen man – im Zusammenspiel mit all den anderen Informations-Trümmern – ein irgendwie passendes Mosaik erstellen kann.

Genau das machen wir vermutlich auch beim Doomscrolling. Es handelt sich um eine Art der kollektiven Weltdeutung. Collective sense-making. Dieses Verhalten wird besonders wichtig in Zeiten, in denen man zum einen nicht weiß, was Sache ist und der es zum anderen um eine Menge geht – womöglich um die eigene Existenz. Weiß man auch schon aus der Psychologie des Gerüchts. Das war schon immer so – schon vor Facebook und Twitter.

Naja. Wenn ich das richtig sehe, ist Doomscrolling nicht mehr als ein Buzzword, ein Modewort, über das man jetzt für ne Weile reden kann. Manchmal hört man so was und denkt: Darüber werden die jungen Leute bald ihre Doktorarbeiten schreiben. Beim Doomscrolling würde ich darauf aber keine großen Summen verwetten.

Aber.

Ich liege bei solchen Dingen oft falsch. Also: Mal abwarten. Und im Juli 2021 wieder danach googeln.

Nicki sagt zu all dem: „Wenn Du das so schreibst, verpasst Du die Chance, etwas Interessantes zu erklären. Doomscrolling ist ein Begriff, der irgendwie hängen bleibt. Das stimmt. Aber warum tut er das? Weil er uns neugierig macht. Er spricht etwas an, womit viele Leute was anfangen können. Das Gefühl, MEHR wissen zu wollen. Unzufrieden zu sein mit den Informationen, die man uns füttert. Aber der Begriff ist zu flach und zu billig. Weil es sich eigentlich um ein ganzes Gewebe von Abläufen und Phänomenen handelt. Das Wort „Doomscrolling“ aber tut so, als sei da nur ein einziger Faden.“

Hm. Vielleicht wird’s in Zukunft doch Dissertationen zu diesem Thema geben …