bookmark_borderDas größte Klingelschild der Stadt in Chicago

Heute und morgen bin ich in Chicago, um für Psychologie Heute einen (zumindest in Fachkreisen) berühmten Forscher zu treffen. Der Fußweg zum Hotel führt mich vorbei am größten Klingelschild der Stadt (siehe oben). Bald kriegt der Mann seinen Twitter-Account zurück und dann geht der ganze Mist wieder von vorne los und man hat wieder keine Energie mehr, um sich um das zu kümmern, was wirklich gerade dran wäre. Ein Wahnsinn.

Immerhin: Ich bin mit dem Zug angereist. Man könnte ne Menge dazu erzählen. Die Sitze sind breiter und nicht unbequemer als im ICE und der Zug kam pünktlich an. Meine Freunde sagen: Das passiert selten. Aber so war es eben heute. Ich kann deshalb nicht meckern.

Der Bahnhof in Chicago wirkt, wenn man dort ankommt, als wäre man am Set eines dystopischen Science-Fiction-Films gelandet. Ganz düster. Ganz unfreundlich. Als wär man irgendwie auf der falschen Seite des Zuges ausgestiegen – der richtige Bahnsteig ist bestimmt auf der anderen Seite. Aber: Auf der anderen Seite ist auch kein richtiger Bahnsteig. Ganz bedrohlich wirkt das.

Dann frisst man sich Schicht für Schicht zu den immer prunkvoller werdenden Teilen der Anlage. Irgendwann hängen dann überall Schilder: Man kann am Bahnhof seine Wahlzettel abgeben. Kein Witz: Die Wahlurne ist definitiv leichter zu finden als der Ausgang. Im Fernsehen am Abend haben sie in den Werbepausen des Football-Games dann auch Wahlwerbung gezeigt. Furchteinflößende Athleten sagen: „Geh wählen!“ Wer würde da zu Hause bleiben? Ob’s am Ende hilft, muss man abwarten.

Ansonsten zum ersten Mal im Field Museum unten am See gewesen. Viele ausgestopfte Tier, eine Sonderausstellung über den Tod, die mir gefallen hat. Insgesamt aber zu teuer. Als ich das Gebäude verlasse, steht bereits der Mond überm Wasser. Hab dann festgestellt, dass die Sache in Wirklichkeit viel schöner aussieht als auf dem Foto. Also: ordentlich Filter draufgekloppt. In Amerika ist das an allen Orten erlaubt, von denen aus man ein Trump-Hotel sehen kann.

Dasselbe Spiel dann ein paar Meter weiter an der „Bean“. Irgendwie muss man das Ding knipsen, wenn man schon mal dort ist. Mehr Pop geht nicht. Trotzdem irgendwie cool.

Und dann nochmal mit mir. Wenn alle anderen Selfies machen, muss ich das schließlich auch. Der Mensch -> ein Herdentier.

Es ist auf ne Art ein erbärmlicher Kommentar, aber ich mag die Stadt. Ich finde die Hochhäuser schön. Ich reagiere emotional auf die Schluchten um den Fluss und die Ausflugsboote und alles. Es ist wie Hamburg, nur mit viel mehr Glas nach oben hin. Außerdem haben die invasiven Muscheln das Ökosystem so abgefuckt, dass der See jetzt glasklares Wasser hat und leuchtet wie die Karibik. Gruselig und schön zugleich.

Bei der Ausstellung über den Tod gab es ein Objekt, das mir sehr gefallen hat. Ich hab vor Jahren mal drüber geschrieben, aber zu viele Sätze gebraucht, um das auszudrücken, was die hier kinderleicht und super kompakt aufgemalt haben: Wenn jemand namens X stirbt, dann gehen die sozialen Netzwerke kaputt, in denen sich X bewegt hat. Menschen sehen und hören einander dann nicht mehr. Denn X feiert keinen Geburtstag mehr und bringt seine Leute nicht mehr zusammen. Aber! Dann können Trauerorte und Trauerrituale einspringen, den Verlust ersetzen und das kaputte Netzwerk heilen. Das ist Kultur. Wunderbar, oder?

Beim Abendbrot dann noch ein paar Studien meines morgigen Interviewpartners gelesen. Er forscht seit 20 Jahren – und das hatte ich bisher viel zu wenig beachtet – über Narzissmus. Und damit schließt sich der Kreis. Wenn man Narzissmus in der Psychologie messen will, dann holt man einen Fragebogen raus und legt den Probanden folgende Aussagen vor:

„Ich weiß, dass ich toll bin. Die Leute sagen mir das andauern.“
„Wenn ich der Bestimmer bin, wird die Welt ein besserer Ort.“
„Ich bin ein ganz besonderer Mensch.“
„Es fällt mir leicht, andere zu manipulieren.“
„Alle lieben meine Geschichten.“
„Ich bin ein geborener Anführer.“
„Ich werde Erfolg haben.“

Jetzt mal ehrlich: Wenn Ihr EINEN Menschen nennen müsstet, der bei all diesen Aussagen komplett zustimmt? An wen würdet Ihr da denken?

Ich kenne Eure Antwort nicht. Aber irgendwie fällt mir gerade wieder ein, dass ich vorhin am größten Klingelschild der Stadt vorbeigelaufen bin.

Mal sehen, wie morgen die Wahlen ausgehen.

bookmark_borderEin gepfefferter Wahlkampf

Metzger’s Michigan Monday #5

Am 8. November steigen hier in den USA die so genannten Halbzeitwahlen (Midterms). Habe jetzt durch Zufall mitbekommen, dass der gepfefferte Wahlkampf sogar schon die Welt der Gewürze erreicht hat. Und zwar ging das so: Nicki kauft viele ihrer Gewürze online von einem Hersteller namens Penzeys. Ich habe gestern mit einem Kumpel gesprochen, der sein Geld mit gewürzten Lebensmitteln verdient. Er sagt: Die Gewürze von Penzeys haben eine unerreichte Qualität. Vor Jahren hat er selbst seine Gewürze von dort bezogen. Irgendwann hat die Firma aber aufgehört, ihre Waren in großen Mengen an andere Unternehmen zu verkaufen. Man kriegt jetzt nur noch die kleinen Packungen für den Einzelhandel, für ihn ist das natürlich viel zu teuer. Er hat das sehr bedauert.

Jedenfalls verkauft Penzeys jetzt eine neue Gewürzmischung mit dem Namen „Outrage“. Für Nicki war das zunächst ein privater Insider-Gag. Denn wir haben eine Reisebegleitung: Piglet. Manchmal kocht Piglet Pasta für uns wie im Bild unten. Meist aber geben wir Piglet eine eigene Stimme und üblicherweise ist der Sprechmodus purer „Outrage“: Piglet kriegt mit Piepsstimme einen Wutanfall nach dem anderen und endet jede Tirade mit dem Satz: „It’s outrageous!“

Albern. Aber lustig. Und eine erprobte psychologische Intervention: Ein Gedanke belastet uns –> wir sprechen ihn laut aus in einer Piepsstimme –> wir können uns besser von diesem Gedanken distanzieren und hören auf, sozusagen dieser Gedanke zu sein.

Jedenfalls freuen wir uns über dieses Gewürz. Erst als wir das Kleingedruckte auf dem Label lesen, fällt uns auf, dass es hier nicht um Spaß geht, sondern um etwas Größeres.

„Die fortlaufenden Bestrebungen der Republikaner, die Demokratie zu beenden, ist empörend“, heißt es dort. „Wann hört eine Partei auf und wann beginnt Faschismus? Wenn die guten Leute aufhören, wütend zu sein. Eure Liebe ist stark; nutzt sie, um die Empörung am Leben zu halten.“

Das sind Sätze, wie ich sie auf einer kommerziellen Gewürzverpackung bisher selten gelesen habe. Nicki schickt mir bald darauf den aktuellen Newsletter, den Bill, der Besitzer des Würzunternehmens, an seine Kundschaft verschickt. Offenbar hat Bill vergangene Woche folgende Botschaft verschickt: „Don’t be mean. Don’t vote Republican.” Er hat anscheinend ein paar scharf gewürzte Antworten von konservativer Seite erhalten. Jetzt schreibt er: Wer Republikaner wählt, ist „nicht mehr mit der wirklichen Welt verbunden“. Und weiter: „Es liegt jetzt am Rest von uns, unsere Meinung zu sagen, solange unsere Stimmen noch gezählt werden. Am 8. November haben wir die Möglichkeit. Sorgt dafür, dass jeder, den ihr kennt, einen konkreten Plan dafür hat, auch hinzugehen. Nehmt sie im Auto mit, wenn es sein muss. Diese Wahl zählt wirklich.“

Im Wikipedia-Eintrag des Unternehmens lese ich, dass Bill Penzey schon länger politisch aktiv ist. Zum Beispiel hat er im Januar 2022 das „Martin Luther King Jr. Day sale weekend“ in „Republicans are racist weekend“ umgetauft. Angeblich hat er dadurch auf einen Schlag 40.000 Kundinnen und Kunden verloren – dafür aber aus dem anderen Lager 30.000 neue Leute dazugewonnen. Auf einer konservativen Anti-Penzeys-Seite habe ich eine Angabe gefunden, wonach er durch seine politischen Äußerungen seinen halben Jahresumsatz eingebüßt hat. Der Eintrag dort stützt sich auf einen „anonymen Insider“. Kann sein, dass die Zahl frei erfunden ist, man weiß es einfach nicht.

Ich glaube ja noch immer dran, dass man im Prinzip mit den meisten Menschen reden kann. Penzeys Aktion wird hier in Ann Arbor weithin beklatscht, sie scheint mir insgesamt aber eher spaltend zu wirken.

Wir haben „Outrage“ jedenfalls auf unsere gedämpften Maiskolben gestreut und es hat sehr gut geschmeckt und dem Mahl einen gewissen Kick verliehen.

bookmark_borderWahlkampf in Michigan – es ist alles noch schlimmer

Metzger’s Michigan Monday #4

Im November wird in Amerika abgestimmt. Und zwar über ne ganze Menge. Ich hab nachgezählt: In unserem Teil von Ann Arbor entscheiden die Menschen über 26 verschiedene Ämter, Verfassungszusätze und dergleichen. Eine der wichtigsten Wahlen bestimmt, wer die nächste Gouverneurin von Michigan wird. Das ist wie bei uns Ministerpräsidentin von … sagen wir mal: Rheinland-Pfalz. Sechs Personen bewerben sich für das Amt. Hat mich überrascht, ich dachte immer, es wären nur zwei – je eine Person für die beiden großen Parteien. Aber nein! Auf dem Wahlzettel steht auch wer von der „Libertarian Party“ (sehr liberal), von den „US Taxpayers“ (religiös-konservativ), von den Grünen und von „Natural Law“, einer Partei, die auf die Kraft der transzendentalen Meditation setzt.

Vergangene Woch nun lief im Fernsehen die Debatte der beiden wichtigsten Kandidatinnen. Auf der einen Seite: Gretchen Whitmer von den Demokraten, die Amtsinhaberin.

Auf der anderen Seite: Tudor Dixon für die Republikaner, sie wird unter anderem von Donald Trump unterstützt.

Sorry für die miesen Fotos.

Mir sind während der Sendung ein paar Dinge aufgefallen. Ich wollte eigentlich noch viel mehr schreiben, aber man verzettelt sich schnell dabei. Die Kurzfassung lautet so: Mir war klar, dass es schlimm wird, aber es war alles noch viel schlimmer. Hier die wichtigsten Punkte, so rein subjektiv gesprochen:

1. Die beiden Kandidatinnen tun nicht mal so, als würden sie miteinander oder mit dem Moderator sprechen. Alle Ansagen gehen einfach direkt in die Kamera. Das ist im Grunde keine Debatte, sondern eine Serie von sorgsam vorbereiteten Werbeansagen. Sehr seltsam. Haben wir so ein Format im deutschen Fernsehen? Ich glaube nicht.

2. Keine der beiden Kandidatinnen kümmert sich um die Fragen des Moderators. Sie hauen einfach das Statement raus, das ihr Team ganz grob zum jeweiligen Thema ausgearbeitet hat. Seine Fragen sind zum Teil sehr präzise gestellt. Wird alles ignoriert. Ich habe Teile eines 1:1-Live-Podcasts gesehen, den Dixon dem Reporter Charlie LeDuff in Detroit gegeben hat. Das war viel härter und viel riskanter als das hier (und hat ihr auch ne Menge Ärger eingebracht, wie man zugeben muss).

3. In mehreren Statements sagen Whitmer und Dixon, dass die jeweilige Rivalin im Grunde nicht mehr ist als eine dreckige Lügnerin. 

4. Sowohl Whitmer als auch Dixon würzen ihre Statements mit völlig lächerlichen Positionen, die die jeweils andere Kandidatin angeblich vertritt, mit bescheuerten oder empörenden Plänen, die dort angeblich in der Schublade liegen usw. Es ist alles ganz unglaublich und ich schäme mich, während ich zusehe.

5. Ironischerweise wird Punkt 3 dadurch weniger unwahr, als einem lieb sein kann.

6. Whitmer wirkt in manchen Momenten recht emotional. Bin mir nicht sicher, ob ihr Team glücklich darüber ist.  

7. Dixons Wangen sind während der Debatte nie gerötet. Sie moderiert selbst die übelsten Sachen mit eisernem Fernsehlächeln in die Kamera. Nicht sympathisch, aber professionell.

8. Whitmer wird die Wahl vermutlich gewinnen. Sie hat den Bonus der Amtsinhaberin und führt deutlich in den Umfragen. Dixon vertritt außerdem eine ziemlich radikale Position in der Abtreibungsdebatte, was ihr vermutlich schadet. 

9. Ich sehe die ganze Veranstaltung mit ausgesprochen gemischten Gefühlen. Der TV-Sender ist offenbar in keiner starken Position, sondern auf Knien dankbar, dass die beiden Kandidatinnen überhaupt erscheinen. So jedoch geht Demokratie in die Tonne. So geht’s nicht weiter. Aber wie kommt man von da wieder weg? Von einem Stil, in dem’s reicht, die politische Gegnerin als das Böse auf Beinen darzustellen? Ich weiß es auch nicht. Aber ich bin enttäuscht.

Demnächst poste ich nette Bilder von den Landschaften hier. Denn wir waren gerade im Norden von Michigan und es ist super schön dort. Die Leute sind auch freundlich, man kann mit allen reden. Das versöhnt mich dann wieder.

Aber insgesamt verspüre ich Sorge.

bookmark_borderSoftball und die Kunst des Nichtstuns

Metzger’s Michigan Monday #2

Letzte Woche habe ich aktiv an einem Sportereignis teilgenommen. Und zwar. Haben die Leute aus Nickis Institut für so ne Art bunte Liga im Softball gemeldet und waren dankbar für Unterstützung. Softball ist wie Baseball, nur großzügiger.

Zum Beispiel ist die Keule, mit der man den Ball schlägt, nicht aus Holz, sondern aus Aluminium, was den Schwung erleichtert. Ich hab mir also so einen Schläger in die Hand drücken lassen und mein Glück versucht. Der Mensch, der einem den Ball zuwirft, spielt für die andere Mannschaft. Man kriegt den Ball deshalb selten so, wie man ihn gerne hätte. Ich habe all meine ersten Versuche vermasselt und war dann sofort raus.

Das Bild oben zeigt einen der wenigen Versuche, wo die Sache gut für mich ausging. Ich hab den Ball getroffen, hab’s auf die erste Base geschafft. Und nach tüchtigen Schlägen meiner anderen Teamleute bin ich dann tatsächlich „nach Hause“ gelaufen, was dem Team einen Punkt beschert hat. Ich mag das Bild sehr, man sieht, wie ich kurz davor bin, mit dem linken Fuß die Homebase zu berühren, also den Punkt zu machen. Rechts oben sieht man einen gelben Punkt – den Ball. Dahinter liegt unscharf ein bärtiger Mann quer in der Luft. Er hat den Ball hechtend geworfen, mit maximalem Einsatz. Die Frau neben mir wartet darauf, den Ball zu fangen. Wenn sie ihn fängt, ehe ich die Base erreiche, bin ich raus. Aber die Sache geht gut für mich aus, es war ein toller Moment. Entsprechend jubelnd zeigt mich das nächste (leider unscharfe) Bild:

Die eigentliche Lehrstunde hat mir jedoch eine andere Frage beschert: Was tun, wenn der Ball mir nicht gut zugeworfen wird? Dafür gibt es strenge Regeln. Der Ball darf nicht zu hoch sein, nicht zu flach, nicht zu weit rechts, nicht zu weit links. Pitcher sein – das ist ein schwieriger Job. Und die Faustregel bei so einem schlechten Ball lautet: Du machst gar nichts! Der Pitcher kriegt einen Fehler aufgeschrieben. Wenn er drei davon gemacht hat, darfst du ganz umsonst zur ersten Base marschieren. Und, Junge, HABEN mir meine Leute das eingebläut! „You don’t swing!“ Natürlich muss man vorher trotzdem so TUN, als würde man draufhauen. Wie ich hier im nächsten Bild. Bei all meinen Fehlversuchen meinten meine Leute: „Das Dastehen sah schon mal ganz gut aus.“

Das war sehr höflich. Überhaupt: Ich mag das Jubeln und Anfeuern sehr – es ist immer noch Amerika! Mein größtes Problem bestand darin, dann auch WIRKLICH nicht zu schlagen. Ich konnte es nicht.

Denn: Ich WILL diese blöde Kugel treffen, es ist ein Reflex, auch wenn die Kugel schlecht geworfen ist! Man haut dann natürlich vorbei – nach dem zweiten Fehlversuch ist man raus. Meine Leute verbergen ihre Gesichter schamvoll in ihren Händen. „Anfängerfehler“, meint Nicki trocken.

Und damit sind wir bei der großen Weisheit des Tages: Nichtstun ist eine Kunst. Es ist sehr schwierig, absichtsvoll nichts zu tun – zumal, wenn die Situation nach Aktion schreit, nach Lösung und Handlung. Ich beschäftige mich ja seit Jahren mit den möglichen Interventionen von Regierungen. Aus der Psychologie kommen dazu ganz interessante Ideen, wie man das ohne viel Aufwand machen kann und ohne die Freiheit der Menschen zu stark zu beschränken. Ein paar kluge Leute aus England haben über eine Art und Weise nachgedacht, dieses Regierungshandeln einzuordnen. Sie haben acht Stufen des Eingreifens ausgemacht. Die unterste Stufe – und das war damals ein großer Aha-Moment für mich – lautet: „Wir machen gar nix.“ Das bewusste Nichtstun ist AUCH eine Form der Intervention, eine Art des Eingreifens. Man entscheidet sich fürs Nichtstun – und das ist manchmal das Allerbeste überhaupt. Wie beim Softball, wenn die Kugel schlecht geworfen wurde.

Damals, vor Urzeiten, hab ich mich in meiner Magisterarbeit ja mit der Rednerschule der Nationalsozialisten in den späten 1920ern und frühen 1930ern befasst. Ich habe dabei auch ne Menge über die Führungsstrukturen der Partei gelernt. Es gab andauernd Zank zwischen irgendwelchen Abteilungsleitern und dann haben alle den großen Vorsitzenden angeschrieben und gesagt: „Jetzt tu doch endlich mal was!“ Man findet das auch in den Tagebüchern von Goebbels: Alle paar Seiten jammert er darüber, dass Hitler mal wieder NICHTS TUT und Probleme nicht auflöst. Ihm war entgangen, dass das Nichtstun komplett Absicht war und sozusagen das Machtprinzip seines Meisters. Sollen die andern sich doch kloppen! Soll der Ball doch fliegen und der Pitcher nen Fehler aufgeschrieben kriegen! Seit jenen Tagen hab ich in der Zeitung immer wieder Klagen gelesen über Menschen mit großer politischer Verantwortung. Über ihr Aussitzen. Ihre Unsichtbarkeit und all das. Tja.

Nichtstun ist eine Kunst. Und niemand sollte unterschätzen, wie sehr es gegen unsere Impulse geht. Man muss Respekt davor haben, wenn jemand das gut hinkriegt.

Dennoch bevorzuge ich persönlich natürlich die Aktion. Das Tun macht mir mehr Freude als das Nicht-Tun. Und so habe ich Nicki dazu überredet, ein Gericht auszutesten, das ich noch nie gekostet habe. Also sind wir mit der inzwischen nicht mehr stinkenden Schäferhündin in die Innenstadt marschiert, um bei Zingerman’s zwei „Knishes“ zu bestellen. Es handelt sich um ein Gebäck, das man mit gewürztem Kartoffelbrei oder anderen Sachen gefüllt hat.

Die Teigkissen waren im Januar Stadtgespräch, als die hiesige Uni ihren Präsidenten gefeuert hat. Er hatte ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin. Zusammen mit der Absetzung hat man gleich noch ein paar hundert Emails ins Netz gestellt, die die beiden einander zugeschickt hatten. Ich fand die Veröffentlichung einigermaßen schäbig, eine Aktion mit ranzigem Beigeschmack, sozusagen. War natürlich trotzdem unterhaltsam. Ein Satz des Präsidenten aus der Korrespondenz hat es sogar in die Headline der Berichterstattung geschafft: „I can lure you to visit with the promise of a knish?

Knishes, so viel kann ich sagen, sind nahrhaft und lecker. Preis: 4,99 $ das Stück.

bookmark_borderNationale Selbstüberschätzung? Gibt’s überall. Aber in Russland vermutlich mehr als anderswo

Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll, aber seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine hat es mir irgendwie die Sprache verschlagen. So viele Gedanken im Kopf. Aber dann: Wenn alle ne Meinung äußern, neige ich zum Schweigen und warte ab, bis ein Gedanke kommt, den nicht eh schon jeder andere zwei oder drei Mal öffentlich geäußert hat.

Gestern hat mich so ein Gedanke heimgesucht und ich wundere mich, dass er so lange gebraucht hat, um sich bei mir zu melden.

Ende 2020 hab für Psychologie Heute eine Geschichte geschrieben, in der es um kollektiven Narzissmus und nationale Selbstüberschätzung ging. Dieser Tage hab ich mich für ne andere Story wieder mit Selbstüberschätzung befasst und vermutlich hat das meine Erinnerung an diesen Forschungszweig wieder aufgefrischt.

Jedenfalls. Gab es da diese Studie im Journal of Applied Research in Memory and Cognition, wo man in 35 Ländern gefragt hat: Wie groß ist eigentlich der Anteil DEINES Landes an der Weltgeschichte? Am bescheidensten hat dabei die Schweiz abgeschnitten. Die Schweizerinnen und Schweizer waren der Ansicht, dass ihr Land 11,3 Prozent der Weltgeschichte geprägt hat. Das ist ein relativ hoher Wert für ein Land, das 0,11 Prozent der Weltbevölkerung stellt. Man könnte sagen, dass das nationale Selbstbild der emsigen Eidgenossen ungefähr 100 Mal größer ist als das Land selbst. Wie gesagt: Nirgendwo sonst war man bescheidener.

In Deutschland lag die Selbsteinschätzung übrigens bei 30 Prozent der Weltgeschichte – das bedeutet einen Platz im soliden Mittelfeld. Nix, worauf man stolz sein könnte: Es ist ein Wert, der an Wahnsinn grenzt. Ein einziges Land stellt in der Studie einen krassen Ausreißer nach oben dar. Dort war man der Ansicht: „Für mehr als 60 Prozent der Weltgeschichte sind WIR verantwortlich.“

Und wenn man jetzt raten müsste, dann würden die meisten vermutlich auf die USA tippen.

Aber daneben. Dieser Ausreißer nach oben war: Russland.

Tja.

Wenn ich in den Medien diese vage Hoffnung vernehme, dass die russische Bevölkerung ihres geltungssüchtigen Anführers bald überdrüssig werden könnte – dann hab ich da wenig Hoffnung. Klar, man soll nicht voreilig schließen. Aber ich würde mal vermuten, dass man den Leuten dort im Staatsfunk genau das füttert, was sie eh schon glauben.

Genau wie uns halt auch.

Darüber aber dann mehr am Wochenende.

bookmark_borderCoronatest in Michigan: mit Geduld und Spucke

Nach drei bis fünf Tagen, so sagen die US-Behörden, soll man sich als Einreisender testen lassen. Also machen Nicki und ich einen Termin. Wir haben uns gleich das erste Zeitfenster des Tages geben lassen. 8 bis 9 Uhr. Später soll es angeblich lange Wartezeiten geben. Mit Geduld und Spucke wird’s schon klappen.

Wie funktioniert das hier mit dem Test? Natürlich wie bei McDrive! Auf einem Parkplatz an der Wagner Road haben sie ein Zelt aufgebaut. Der ganze Prozess läuft so, dass man in keiner Sekunde das Auto verlassen muss. Also: Erstmal in die Schlange fahren. Nicki beeilt sich sehr dabei, wie man unten sehen kann. Wir sind so flink unterwegs, dass schlechterdings kein scharfes Bild zu schießen ist.

Wir haben vorher im Netz alle möglichen Daten angegeben und Dokumente hochgeladen: Perso, Krankenversicherungsnachweis usw. Wie das irgendwann mit der Abrechnung laufen soll, ist mir schleierhaft. Aber, hey, darum kümmer‘ ich mich später.

Nach sieben, acht Minuten fahren wir dann selbst ins Zelt.

Dort gibt es zwei Schalter. Man winkt uns an den hinteren der beiden. Dann den QR-Code aufm Handy zeigen, ein junger Mann reicht uns unsere Testkits durchs Fenster. Wir fahren aus dem Zelt heraus und in eine Parklücke. Überall stehen Schilder, die einem zeigen, wie der Test funktioniert.

Aha! Es handelt sich um einen Spucktest. Ich hab bisher immer nur Popeltests gemacht. Wir säubern unsere Hände mit einem Reinigungstuch, fummeln Röhrchen und Trichter aus den Plastiktüten und spucken hinein, bis das Röhrchen halbvoll ist. Interessant, wie viele Luftblasen sich dabei bilden.

Dann das Röhrchen zuschrauben und in die entsprechende Tüte packen. Alles andere kommt in die Restetüte. Fertig.

Dann ausparken, ein paar Meter weiter stehen zwei Tonnen. Eine für die Probe, eine für den Müll. Man schmeißt seine Sachen ein – fertig.

In der Folgenacht kriegen wir die Ergebnisse zugeschickt. Das heißt: eine Mail mit einem Link. Man klickt auf den Link, eine Website öffnet sich, man muss sich identifizieren und dann kriegt man sein Ergebnis. Negativ. Wie schön.

Coronatests verlaufen vermutlich überall gleich. Nur halt überall ein klein wenig anders. Hier läuft es wie beschrieben. Auch mal interessant.

Heute, am achten Tag nach meiner Ankunft, werde ich zum ersten Mal in geschlossenen Räumen Menschen treffen, die nicht Nicki sind. Freu mich schon sehr drauf.

Was ist sonst so los?

In Michigan hat ein 15-jähriger Junge an seiner Highschool vier Mitschüler erschossen. Die Story ist seit Tagen Aufmacher in den Abendnachrichten. Die Staatsanwältin will die Eltern des mutmaßlichen Schützen drankriegen wegen fahrlässiger Tötung. Ich glaube nicht, dass sie damit durchkommt, trotzdem werden durch die Berichterstattung viele Menschen über Verantwortung reden und vielleicht kann das für die Zukunft was bewirken.

Was ist passiert? Offenbar haben die Eltern dem Jungen die Knarre zu Weihnachten gekauft. Hm. Er hat wohl aus der Schule heraus per Handy Munition bestellt, was einer Lehrkraft aufgefallen ist. Die Lehrkraft hat die Eltern verständigt. Die Mutter schreibt ihrem Jungen daraufhin: „Lol. Ich bin nicht sauer auf Dich. Du musst lernen, Dich nicht erwischen zu lassen.“ Puh. Dann hat wohl eine andere Lehrkraft Zeichnungen des Jungen gefunden, in dem eine Knarre, Patronen und Tote zu sehen sind – und daneben die Worte „überall Blut“ und „die Gedanken hören nicht auf, helft mir“. Man hat die Eltern wohl darüber informiert, aber weder haben die Eltern den Jungen aus der Schule rausgeholt, noch hat ihn die Schule nach Hause geschickt. Auch seltsam. Später am selben Tag hat er dann das Feuer eröffnet.

Die Eltern haben sich auch im Anschluss nicht wirklich mit Ruhm bekleckert. Sie haben wohl eine Vorladung bekommen, sind dann aber nicht erschienen, sondern haben sich irgendwo in Detroit in einem Gewerbegebäude versteckt, wo die Polizei sie gestern aufgestöbert hat. Wie gesagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Eltern verurteilt werden. Auch die ganzen Rechtsexperten hier sagen, dass die Anklage sehr, sehr ungewöhnlich ist. Man regt sich aber trotzdem drüber auf.

Die ganze Sache mit den Schusswaffen hier ist für mich eh nur sehr schwer zu verstehen.

…………………

Eine Kleinigkeit noch aus dem kleinen, privaten Leben. Nicki hatte ein Paket von HelloFresh im Kühlschrank. Das haben wir gestern zubereitet. Ich hab so was noch nie gemacht und bin, glaub ich, von meinen Werten her auch nicht die richtige Zielgruppe dafür. Interessant war’s trotzdem.

Das Konzept von HelloFresh geht so: Sie schicken Dir genau die Zutaten, die Du für ein bestimmtes Rezept brauchst. Genau abgemessen, zum Teil schon vorgeschnitten. Sie überbrücken sozusagen den halben Weg vom geschriebenen Rezept zum Kochtopf. Wie IKEA, nur halt für Essen. Oder wie ne Backmischung von Dr. Oetker, aber mit mehr eigener Arbeit.

Die Botschaft auf der Tüte ist interessant. Sie sagen: „Was wir hier tun, ist gut für die Welt, weil keine Lebensmittel mehr weggeschmissen werden. Wir packen Dir exakt das ein, was Du tatsächlich brauchst.“ Das stimmt. Andererseits: Weil viele Zutaten trotz kleinster Mengen in Plastik verpackt sind, fällt ganz sicher viel mehr Müll an, als wenn man seine Sachen wie üblich im Supermarkt kauft.

Das Rezept ist idiotensicher beschrieben. Handwerklich gut gemacht, würde ich sagen. Viele nehmen das selbstverständlich, aber in meinen Jahre bei verschiedenen Frauenzeitschrift hab ich gelernt, dass Kochrezepte kein banales Genre sind. Man kann dabei ne Menge falsch machen, weshalb ich ein gutes Rezept durchaus zu würdigen weiß.

Am Ende ist das Essen gelungen, wir hatten tatsächlich keine Reste und geschmeckt hat es auch. Außerdem fühlen wir den Stolz, etwas Gutes zumindest zum Teil selbst erschaffen zu haben. In der Verhaltensökonomie nennt man das den IKEA-Effekt: Möbel werden emotional wertvoller, wenn wir sie selbst zusammengeschraubt haben. Essen macht uns stolz, wenn wir’s selbst gekocht haben.

Nicki sagt: Die Konkurrenz von HelloFresh ist der Lieferservice, der Dir ne Pizza bringt. Das hab ich so noch nie gesehen, aber vermutlich hat sie Recht.

HelloFresh ist interessanterweise ne Firma aus Deutschland. Zuletzt hatte sie aber schlechte Presse, weil die Arbeitsbedingungen zumindest hier in den USA angeblich unterirdisch sind und die Firma sich sehr dagegen sträubt, dass die Angestellten sich gewerkschaftlich organisieren.

Ich glaube nicht, dass ich Fan davon werde.

bookmark_borderDer teuerste Wahlbrief meines Lebens

Hab dieser Tage den teuersten Wahlbrief meines Lebens verschickt. Und das ging so.

Wie neulich schon erwähnt, sind meine Briefwahlunterlagen am Wochenende hier in Michigan angekommen. Die Papiere aus Hamburg haben eine ganze Weile gebraucht. Ich hatte also nur noch wenig Zeit, sie zurückzuschicken. Wär‘ mit der normalen Post nicht gegangen. Keine Chance.

Also hab ich am Montag bei FedEx angerufen. Der Chef des örtlichen Büros hat einen sehr deutschen Namen und deutsche Wurzeln, weshalb wir uns, um mein Anliegen angemessen abzuhandeln, spaßeshalber meiner Muttersprache bedient haben. Lustig.

Ich so: „Kriegt Ihr die Unterlagen bis Samstag nach Hamburg?“
Er so: „Ja, FedEx kann das. Wird aber nicht billig.“

Also bin ich hingefahren. War dann aber doch nicht so einfach. Denn die Postleitzahl der Kreiswahlleitung Hamburg-Mitte ist bei FedEx nicht im System verzeichnet. Vielleicht handelt es sich um eine temporäre Postleitzahl, die nur bei Wahlen genutzt wird? Man kann bei FedEx jedenfalls nicht einfach ne Postleitzahl draufschreiben und hoffen, dass alles gut geht. Wir haben das Ding dann ans Bezirksamt in der Caffamacherreihe adressiert, ich hab noch einen Aufkleber mit den Worten „Wahlbrief – eilig“ draufgeschrieben (auch damit der Zoll den Brief nicht versehentlich abfängt, was wohl gelegentlich vorkommt).

Tja. Und jetzt hab ich über die FedEx-Seite gesehen, dass der Brief schon am Mittwoch zugestellt wurde. Teufelskerle sind das.

Ich habe also gewählt.

Der Brief hat 75 Dollar gekostet. „You are a good citizen“, hat der Typ hinterm Schalter gemurmelt, und da wollte ich nicht widersprechen.

Was ich eigentlich damit sagen will: Wenn ich von hier aus meinen Zettel in die Urne kriege und dabei so einen Aufstand mache, dann könnt Ihr das auch. Oder?

Jetzt am Sonntag, 26. September, irgendwann zwischen 8 und 18 Uhr.

bookmark_borderWarum Joe Biden die Wahl gewinnt – Besuch bei Gerd Gigerenzer

Vergangene Woche war ich in Berlin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, um Gerd Gigerenzer zu treffen. Er war dort 20 Jahre lang Direktor und ist einer der bekanntesten Psychologen Deutschlands, ach was: der Welt.

Wir haben viel gelacht, auch ein paar Streitpunkte entdeckt und ansonsten über alles Mögliche geredet: Sex, Drugs, Rock’n’Roll, Innovation, psychologische Theorien, ein wenig Klatsch – und natürlich auch über die anstehende Präsidentschaftswahl in den USA.

Gerd Gigerenzer – das muss man vorausschicken – ist ein Freund von Heuristiken. Er sagt: In der Welt gibt es Risiko und Ungewissheit. Risiko meint: Man weiß nicht, wie’s ausgeht, aber man kennt die statistischen Wahrscheinlichkeiten. Beim Würfeln ist das so. Beim Roulette. Sogar beim Schach.

Und dann gibt es noch die Ungewissheit. Die herrscht überall dort, wo man auch nicht weiß, wie’s ausgeht, aber auch die Wahrscheinlichkeiten nicht kennt. Etwa, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen, oder weil das Kräfteverhältnis dieser Faktoren sich permanent ändert, weil die Welt von morgen vielleicht nach anderen Regeln läuft als die Welt von gestern und dergleichen mehr. Das ist zum Beispiel in der Finanzwelt der Fall.

Gigerenzer glaubt: Wenn man die Situation einigermaßen kennt („Risiko“), fährt man am besten mit Big Data, mit Machine Learning und komplizierten Modellen. Wenn die Situation aber chaotisch ist („Ungewissheit“), braucht man einfache und robuste Modelle, so genannte Heuristiken, also Faustformeln, die man leicht verstehen und nachvollziehen kann.

Wir alle erinnern uns an die Wahlprognosen aus dem Jahr 2016. Damals haben alle Modelle einen Sieg für Hillary Clinton vorhergesagt. Gerd Gigerenzer hat mich jetzt auf einen Typen hingewiesen, der damals korrekt auf Trump getippt hat. Und der auch bei allen anderen Präsidentschaftswahlen seit den 1980er Jahren richtig lag. Der Typ heißt Allan Lichtman und ist Historiker. Die Details seiner Prognose für 2020 findet man hier in einem Video der New York Times.

„Lichtman arbeitet nicht mit Big Data, sondern mit einer einfachen Heuristik“, sagt Gigerenzer. Genauer: Lichtman hat 13 „Schlüssel zum Weißen Haus“ identifiziert. Jeder Schlüssel ist eine einfache Aussage, die man mit „wahr“ oder „falsch“ beantworten kann. Wenn sechs oder mehr dieser Aussagen „falsch“ sind, verliert der Kandidat der Regierungspartei.

Ulkig: Den Anfang für Lichtmans Arbeit machte eine ungewöhnliche Begegnung. Lichtman wurde von einem russischen Forscher angesprochen, der bis dahin Erdbeben-Vorhersagen gemacht hatte. Und genau so funktioniert auch Lichtmans Heuristik. Stabilität ist gut für die Regierung. Zu viel Unruhe gleicht jedoch einem Erdbeben – sie reißt ein, was ist und fordert etwas Neues. Naja. Zumindest in der Tendenz.

Jedenfalls prophezeien Lichtmans „Schlüssel zum Weißen Haus“ derzeit: Trump wird verlieren, Biden gewinnen. Und wenn man genauer hinschaut, merkt man: Schuld daran sind weder Trumps Lügen noch Bidens Mitgefühl. Sondern in erster Linie Corona. Ohne die Pandemie hätte Lichtmans Heuristik einen Sieg des Amtsinhabers vorhergesagt. Tja. So kann’s gehen. Zufall regiert die Welt.

„Laut Lichtman gewinnt Biden“, sagt Gerd Gigerenzer. „Falls Trump nicht noch einen Krieg anzettelt. Denn dann sind die Amerikaner geschlossen hinter ihm.“

Man lernt immer was, wenn man interessanten Leuten begegnet.

bookmark_borderLangweilige Lebensbilder

In den sozialen Medien teilen Menschen dieser Tage Schwarzweißbilder ihres Alltags. Spannend. Meine Bilder sind dagegen langweilig – genau so wie weite Teile meines Lebens. Auf Facebook heißt es: Keine Erklärung zu den Bildern. Das geht natürlich nicht. Ich bin ein Mann des Wortes. Oben also: Jochen arbeitet an einem neuen Projekt und verzweifelt daran.

Buddha sagt: Alles ist eins. Geschirr benutzen, Geschirr abwaschen, Geschirr wegräumen, Geschirr benutzen usw.

Buddha sagt … ach, hatten wir schon. Also: Oben der Topf, unten die Schüssel. Alles ist eins.

Aber sauber muss alles sein!

Apropos. Heute hatte ich doch glatte DREI Diskussionen darüber, wer eigentlich die bekanntesten Deutschen sind. Mit meinem Sohn zusammen getippt: Beethoven, Goethe, Hitler (sorry).

Dann zwei Mal bei Leuten aus Michigan nachgefragt. Sie sagen ALLE erstmal Hitler. Unglaublich, eigentlich. Dann kommen nach einigem Nachdenken: Beethoven und Goethe, der für Amerikaner aber schwer auszusprechen ist.

Außerdem hörte ich: Bach, Gutenberg, Wernher von Braun – und Friedrich der Große. Und Angela Merkel. Und Hermann Hesse. Und auf Nachfragen kriegt man auch noch ein Nicken für Thomas Mann. Aber nur, weil man es in Ann Arbor mit verdammten Intellektuellen zu tun hat. Schon Bismarck kennt keine Sau. Auch Schiller nicht. Freud kennen alle. Aber: Österreicher.

Also jetzt. Für Beethoven: das Klavier.

Und weil mit Bach ein zweiter Komponist genannt wurde, schmeiß ich auch noch die Gitarre mir rein.

Außerdem. Die USA sind ein gespaltenes Land. Der gelehrte Richard Florida hat kürzlich gesagt: Wir Amerikaner müssen akzeptieren, dass wir nicht mehr miteinander reden können. Dass wir über uns viele Dinge niemals werden einigen können. Wir können uns nur darüber einigen, wie man Schlaglöcher repariert. „There’s no republican or democratic way to pave the roads.“ Heißt: Auf lokaler Ebene kann man praktisch nicht unterscheiden, zu welcher Partei ein Bürgermeister eigentlich gehört. Die Erfahrung hab ich in Deutschland auch gemacht. Erst auf Staatsebene laufen die Meinungen so richtig auseinander. Deshalb sollte man mehr Macht von der Zentralregierung abziehen und an die Kommunen, Kreise, Bundesländer geben. Keine Ahnung, ob das so komplett bis zum Ende durchgedacht ist. Aber interessant ist es doch.

Einstweilen leben die Leute halt zusammen wie Hund … 

… und Katze.

Am Morgen trinkt man seinen Kaffee … 

… spät am Abend putzt man sich die Zähne.

Und so wird aus Abend und Morgen ein neuer Tag. Alles ist eins. Sagt Buddha.

bookmark_borderAmerika ist auch eine Art Religion

Gestern war hier Unabhängigkeitstag. Wir saßen bei Freunden und Bier auf der Terrasse vor dem Haus und haben Musik gemacht, während in der Einfahrt die zwei Jungs ihre Feuerwerkskörper abgefackelt haben. Wir hatten einen sehr schönen Abend. Vor genau einem Jahr war ich auch schon mal hier. Da haben sich hunderte von Leuten im Park versammelt und dann gab’s ein fettes Feuerwerk. In diesem Jahr: alles drei, vier Nummern kleiner. Angemessen! Ab und zu ist ein Auto vorbeigefahren, manche der Fahrer haben kurz angehalten mit heruntergelassener Fensterscheibe und uns ein paar aufmunternde Worte zugerufen wegen der Musik. Fremde Leute anlabern – das ist hier viel üblicher als bei uns und das ist auch ein Grund, warum es mir hier gefällt. Ich laber‘ nämlich auch gerne fremde Leute an.

Einer der Kracher kam in eher fragwürdiger Gestalt daher. Es handelte sich um einen Panzer aus Pappe in den Farben der Nationalflagge, aus dessen Rohr Qualm und bunte Funken nach vorne schossen. Leider vergessen, ein Foto zu machen. Ironischerweise lief das ganze Kracher-Paket unter dem Label „safe & sane“.

Am Abend zuvor die Rede Trumps am Mount Rushmore gehört. Die ganze Veranstaltung trug kirchliche Züge. Amerika ist auch eine Art Religion. Trumps Rede war eine Kriegserklärung und der Anfang des Wahlkampfs im engeren Sinne. Alle paar Sätze ein Codewort, eine in die Erde gerammte Flagge. Er hat einige seiner politischen Gegner schon mal vorsichtshalber zu Feinden Amerikas erklärt. Ganz bedenklich. Ich fürchte: Die Sache wird – trotz eines sehr harmlosen Joe Biden – noch sehr hässlich werden. Trotzdem. Ich hab meine Magisterarbeit ja vor vielen Jahren über Propaganda geschrieben. Und ich muss sagen: Aus dieser Perspektive war das keine ganz ungeschickte Rede. Trump hat eine Reihe konservativer Grundwerte angesprochen, die hier in Amerika vielen was bedeuten. Ich empfehle das Stück allen Lehrern, die was über politische Rhetorik im Unterricht machen wollen. Da gibt’s ne Menge zu lernen und ne Menge zu analysieren.

Und dann das Publikum. Die Leute saßen so eng auf den Stühlen, als gäb’s keine Pandemie. So sahen die Reihen übrigens aus, bevor das Volk aufs Gelände durfte. Design ist alles.

Die allermeisten Leute haben keine Masken getragen. Das ist in den Augen vieler Trump-Anhänger nur was für Weicheier und Feiglinge.

Manche Dinge sind für mich schwer zu verstehen.