
Heute und morgen bin ich in Chicago, um für Psychologie Heute einen (zumindest in Fachkreisen) berühmten Forscher zu treffen. Der Fußweg zum Hotel führt mich vorbei am größten Klingelschild der Stadt (siehe oben). Bald kriegt der Mann seinen Twitter-Account zurück und dann geht der ganze Mist wieder von vorne los und man hat wieder keine Energie mehr, um sich um das zu kümmern, was wirklich gerade dran wäre. Ein Wahnsinn.
Immerhin: Ich bin mit dem Zug angereist. Man könnte ne Menge dazu erzählen. Die Sitze sind breiter und nicht unbequemer als im ICE und der Zug kam pünktlich an. Meine Freunde sagen: Das passiert selten. Aber so war es eben heute. Ich kann deshalb nicht meckern.
Der Bahnhof in Chicago wirkt, wenn man dort ankommt, als wäre man am Set eines dystopischen Science-Fiction-Films gelandet. Ganz düster. Ganz unfreundlich. Als wär man irgendwie auf der falschen Seite des Zuges ausgestiegen – der richtige Bahnsteig ist bestimmt auf der anderen Seite. Aber: Auf der anderen Seite ist auch kein richtiger Bahnsteig. Ganz bedrohlich wirkt das.

Dann frisst man sich Schicht für Schicht zu den immer prunkvoller werdenden Teilen der Anlage. Irgendwann hängen dann überall Schilder: Man kann am Bahnhof seine Wahlzettel abgeben. Kein Witz: Die Wahlurne ist definitiv leichter zu finden als der Ausgang. Im Fernsehen am Abend haben sie in den Werbepausen des Football-Games dann auch Wahlwerbung gezeigt. Furchteinflößende Athleten sagen: „Geh wählen!“ Wer würde da zu Hause bleiben? Ob’s am Ende hilft, muss man abwarten.
Ansonsten zum ersten Mal im Field Museum unten am See gewesen. Viele ausgestopfte Tier, eine Sonderausstellung über den Tod, die mir gefallen hat. Insgesamt aber zu teuer. Als ich das Gebäude verlasse, steht bereits der Mond überm Wasser. Hab dann festgestellt, dass die Sache in Wirklichkeit viel schöner aussieht als auf dem Foto. Also: ordentlich Filter draufgekloppt. In Amerika ist das an allen Orten erlaubt, von denen aus man ein Trump-Hotel sehen kann.

Dasselbe Spiel dann ein paar Meter weiter an der „Bean“. Irgendwie muss man das Ding knipsen, wenn man schon mal dort ist. Mehr Pop geht nicht. Trotzdem irgendwie cool.

Und dann nochmal mit mir. Wenn alle anderen Selfies machen, muss ich das schließlich auch. Der Mensch -> ein Herdentier.

Es ist auf ne Art ein erbärmlicher Kommentar, aber ich mag die Stadt. Ich finde die Hochhäuser schön. Ich reagiere emotional auf die Schluchten um den Fluss und die Ausflugsboote und alles. Es ist wie Hamburg, nur mit viel mehr Glas nach oben hin. Außerdem haben die invasiven Muscheln das Ökosystem so abgefuckt, dass der See jetzt glasklares Wasser hat und leuchtet wie die Karibik. Gruselig und schön zugleich.
Bei der Ausstellung über den Tod gab es ein Objekt, das mir sehr gefallen hat. Ich hab vor Jahren mal drüber geschrieben, aber zu viele Sätze gebraucht, um das auszudrücken, was die hier kinderleicht und super kompakt aufgemalt haben: Wenn jemand namens X stirbt, dann gehen die sozialen Netzwerke kaputt, in denen sich X bewegt hat. Menschen sehen und hören einander dann nicht mehr. Denn X feiert keinen Geburtstag mehr und bringt seine Leute nicht mehr zusammen. Aber! Dann können Trauerorte und Trauerrituale einspringen, den Verlust ersetzen und das kaputte Netzwerk heilen. Das ist Kultur. Wunderbar, oder?

Beim Abendbrot dann noch ein paar Studien meines morgigen Interviewpartners gelesen. Er forscht seit 20 Jahren – und das hatte ich bisher viel zu wenig beachtet – über Narzissmus. Und damit schließt sich der Kreis. Wenn man Narzissmus in der Psychologie messen will, dann holt man einen Fragebogen raus und legt den Probanden folgende Aussagen vor:
„Ich weiß, dass ich toll bin. Die Leute sagen mir das andauern.“
„Wenn ich der Bestimmer bin, wird die Welt ein besserer Ort.“
„Ich bin ein ganz besonderer Mensch.“
„Es fällt mir leicht, andere zu manipulieren.“
„Alle lieben meine Geschichten.“
„Ich bin ein geborener Anführer.“
„Ich werde Erfolg haben.“
Jetzt mal ehrlich: Wenn Ihr EINEN Menschen nennen müsstet, der bei all diesen Aussagen komplett zustimmt? An wen würdet Ihr da denken?
Ich kenne Eure Antwort nicht. Aber irgendwie fällt mir gerade wieder ein, dass ich vorhin am größten Klingelschild der Stadt vorbeigelaufen bin.
Mal sehen, wie morgen die Wahlen ausgehen.