Am vergangenen Wochenende Albin de la Simone gesehen im kleinen Saal der Elphi. Beobachtungen der banaleren Art: Der Raum ist nicht gemacht für Musik mit Schlagzeug. Egal. Der Künstler selbst hat seine Lieder gesungen und charmant auf Englisch mit uns geplaudert mit seinem französischen Akzent. Man musste ihn lieb haben. In den Tagen danach noch ein paar seiner Songs auf Spotify gehört und auf der heimischen Gitarre nachgespielt. Er hat kleine, clevere Tonartwechsel mit drin, die alles so plauderig und charmant machen wie die Ansagen im Konzert. Und in manchen Momenten hat mir die Moll-Scheiße komplett den Stecker gezogen, wie Herrndorf das mal formuliert hat. Komisch. Ich hab’s den Liedern zunächst gar nicht angesehen, naja, angehört.
Verfolgt mich auch seit Wochen, der Typ. Zum einen natürlich, weil der sehr gute Pianist der Band mit mir im Verein Tischtennis spielt. Aber irgendwie passt die Melancholie der Songs auch gerade zum Leben. Ich höre ihn jeden Tag. Mir ist dabei aufgefallen, dass Niels Frevert irgendwann angefangen hat, den Moment des Stecker-Ziehens in die C-Teile seiner Lieder zu packen, also jene Parts, die mit dem Rest des Stückes mehr verschwägert als verwandt sind. Dort, über die mit allem anderen fremdelnden Akkordfolgen, setzt er dann diesen einen Satz, der alles dreht oder verdichtet. Es gab im Konzert auch einen dieser Momente, die man vermutlich nicht gut planen kann. Wo jeder für sich auf einmal denkt: „Das sing ich jetzt mit.“ Und dann haben das auf einmal alle gemacht, ganz unaufgefordert. Und man hat den Jungs auf der Bühne angesehen, dass sie nicht damit gerechnet haben. Ich kann das schlecht beschreiben, aber ich glaube wirklich, dass in solchen Augenblicken ein eigenes Wesen entsteht, eine Art kollektives Tier, das natürlich viel größer ist, als alle zusammen. Ich glaube auch, dass Menschen für genau diese Momente so etwas wie Gottesdienste erfunden haben. Und natürlich aus Dankbarkeit für die bunten Blumen in den kommunalen Beeten (auch wenn dieses Symbolbild aus dem Garten stammt und nicht aus dem öffentlichen Raum).
Zwei Kleinigkeiten noch, die mich erstaunt haben. Erstens. Ist es klug, seinen Laden nach Krankheiten zu benennen?
Zweitens: Beim Tischtennis in einer Schulturnhalle in Eppendorf gespielt. Dabei dies hier entdeckt. Wie viel Selbstironie gehört dazu, um den auf der Kanonenkugel heranreitenden Baron von Münchhausen über das Eingangsportal eines Schulgebäudes zu tackern? Verführt es die jungen Leute zum Flunkern und Schummeln? Man weiß es nicht. Kurios.
Fragt mich nicht, warum wir dort waren. Es war eine Verkettung seltsamer Umstände und es war nur für ein paar Tage. Jedenfalls: Key West, Florida, südlichster Punkt der Festland-USA. Es gab einen Strand dort und ein Meer, dessen Wasser sehr salzig geschmeckt hat. Ich war beim Schnorcheln auf einmal von fast einem Dutzend Barrakudas umringt, hab fischende Pelikane beobachtet und in der Sonne gelegen, während die Truthahngeier über den Pinien kreisten.
Key West ist wie Westerland, nur mit besserem Wetter.
Überall laufen wilde Hähne und Hühner rum. Man soll sie nicht füttern. Die Hähne krähen bereits um fünf auf der Straße.
In den Touristenshops verkaufen sie T-Shirts mit alten Sprüchen, in denen es um ranzige Sexfantasien geht, Schusswaffengebrauch und exzessiven Alkoholkonsum.
Politisch hat man sich auf eine trumprepublikanische Stammkundschaft eingestellt. Nicki beim Blick auf ein T-Shirt: „Was bedeutet #FJB?“ „Fuck Joe Biden“, sagt eine vorbeischlendernde Stimme, ohne Blickkontakt aufzunehmen.
Insgesamt wird in Key West extrem viel gesoffen. Auf dem Schnorchelboot schenkt eine junge Frau im Bikini Mimosas aus auf dem Weg zurück zum Hafen. Um 16 Uhr haben die meisten Gäste in den Bars und Restaurants schon richtig gut einen im Kahn. Überall singt jemand zur Gitarre, zum Teil sehr gute Leute, für deren Einstellung ich nichts als Bewunderung empfinde. Die Sängerin im „The Bull“ haut sich durch ihr Abendset, als hätte sie den ausverkaufte Madison Square Garden unter sich. Sensationell. Woher nimmt die bloß ihre Energie?
Erst auf dem Heimweg gen Michigan fällt mir auf, dass der ganze Ort, das ganze Nest namens Key West seit mehr als hundert Jahren, auf einem einzigen, raffinierten Geschäftsmodell beruht. Aber der Reihe nach.
Wenn man wie ich, sein Geld mit dem Schreiben verdient, geht man natürlich zum „Ernest Hemingway House“ in der Whitehead Street. Eintritt: 17 Dollar. Man akzeptiert nur Bargeld. Lässt sich mit dem Finanzamt einfach besser abrechnen, nehme ich an. Ich hab hier schon vor Zeiten mal ein paar Takte über Hemingways Sprache rausgehauen.
Der Meister hat acht Jahre lang in Key West gewohnt und es scheinen nicht seine schlechtesten gewesen zu sein. Heute leben dort 58 Katzen, vielen von denen haben an den Vorderfüßen sechs Krallen. Angeblich befuhren ihre Ahnen die Weltmeere als Mäusefänger auf US-Schiffen. Mehr Krallen, mehr Beute, so die Logik. Vielleicht auch mehr Aggression? Manche Touristen versuchen, die Katzen zu streicheln. Keine gute Idee. Der junge Mann, der uns durchs Haus führt, trägt mehrere schlecht vernarbte Kratzwunden an den Armen.
Jedenfalls hat Hemingway das Haus nicht selbst gebaut. Das hat ein gewisser Asa Tift getan. Das war zu seiner Zeit der reichste Mann von Key West. Er besaß Schiffe und Lagerhäuser. Beides waren goldene Investitionen. Denn immer wenn – Unglücke geschehen – ein Schiff die Leuchtfeuer der Insel falsch gedeutet und das Riff gerammt hatte, rückte der gute Asa aus, um Besatzung, Ladung und Schiff vor dem Untergang zu retten. Manchmal, wie man hört, sogar in genau dieser Reihenfolge. Es muss ein irrsinnig einträgliches Geschäft gewesen sein. Und das, obwohl sich die Allgemeinen Geschäftsbedingungen fürs Handwerk schon während Asas Kindheit deutlich verschlechtert hatten: 1822 fing die US-Regierung nämlich an, Geld einzutreiben und damit staatliche Signaltürme auf den Keys zu bauen. Ein Jahr später stellte Florida das Setzen falscher Leuchtfeuer unter Todesstrafe. Asa jedenfalls war ein sehr reicher Mann und sein Haus geriet entsprechend protzig. Nach seinem Tod stand es lange leer, angeblich weil niemand auf der Insel den hohen Kaufpreis bezahlen konnte.
Das ging so lange, bis Hemingway mit seiner zweiten Ehefrau hierher kam. Beide mochte das Klima und Hem konnte regelmäßig ins Sloppy Joe’s (hier der links zur live cam) rüberwanken, um mit seinen Kumpels am Tresen für seine nächste Kurzgeschichte zu recherchieren. Im Hemingway-Haus hängt tatsächlich dieser (deutschsprachige) Donald-Duck-Comic, der den Dichter beim Weg in sein Stammlokal zeigt. Heute ist das Sloppy Joe’s eine Bierbar der gröberen Sorte, wie man sie in Hamburg am Hans-Albers-Platz findet.
Hemingway konnte andauernd zum Fischen raus aufs Meer fahren. Er hat gut gefangen, wie die Fotos bezeugen, die man überall in den verschiedenen Kneipen rund um die Duval Street und unten an der Marina bewundern kann. Wie hätte Freud wohl den Rutenhalter kommentiert, den sich Hemingway auf dem Foto vors Gemächt geschnallt hat?
Auf dem Grundstück findet sich auch ein schmuckes Nebengebäude mit großzügigem Arbeitszimmer im ersten Stock und anliegendem Klo.
Hier hatte Hemingway seine guten Einfälle: Mehr als die Hälfe seiner zu Lebzeiten veröffentlichten Werke soll er in Key West geschrieben haben. Sagen sie zumindest in Key West.
Und damit sind wir beim Thema. Ich hab früher ja häufiger mal Reisegeschichten geschrieben, was mir seither manchen Urlaub versaut hat. Man läuft dann durch die Straßen und hat immer diesen einen Gedanken im Kopf: „Wo ist die Geschichte?“
Hier beginnt die Geschichte so: Das Hemingway-Haus ist eigentlich gar nicht das Hemingway-Haus. Der alte Angeber hätte sich die Hütte niemals leisten können. Bezahlt hat sie „Uncle Gus“, der reiche Onkel von Hems zweiter Ehefrau Pauline Pfeiffer. Gus besaß damals eine ziemlich gut laufende Pharmafirma, die über mehrere Stufen inzwischen in eine noch besser laufende Pharamafirma namens Pfizer aufgegangen ist. Als Hemingways Ehe dann 1940 geschieden wurde, war’s für den Dichter vorbei mit fürstlichem Arbeitszimmer, täglichen Angeltrips und eigenem Box-Ring unter Palmen. Die Bezeichnung „Hemingway-Haus“ ist natürlich nicht komplett gelogen. Aber so richtig wahr ist sie eben auch nicht. Sie ist eine Art „false Light“, ein falsches Leuchtfeuer wie aus den Tagen der Strandräuberei, um Fremde ein wenig vom Weg abzubringen und ihnen tiefer in die Taschen greifen zu können. Genau das ist: Key West.
So auch auf der Duval Street, der Vergnügungsmeile der Insel. Was einem dort sofort auffällt, sind die vielen, vielen Coffeeshops. Sie werben mit großen, grünen Hanfblättern überm Eingang. Hm. Seltsam. Hier riecht es so gar nicht nach Amsterdam. Wir also rein in einen Laden und den Mann hinterm Tresen gefragt. Ich so: „Ist Cannabis denn legal in Florida?“ Er so: „Nö, ist es nicht.“ Man nimmt einfach Hanf, das keine berauschenden Stoffe enthält, rollt die Blätter zu Joints und verkauft sie an arglose Touristen. „Den Rest erledigt die Placebo-Wirkung“. Eine dieser Sport-Zigaretten kostet 20 Dollar – ein richtig gutes Geschäft.
Dasselbe mit den Zigarren. Mehrere Läden prahlen damit, Zigarren aus Kuba zu verkaufen. Sie werben mit kubanischen Marken, kubanischer Flagge und allem. Ich also rein in so einen Laden und den Verkäufer gefragt: „Kommen die Dinger echt aus Kuba?“ Er so: „Nein, nein, wir haben doch noch immer unser Embargo gegen Kuba.“ Und ich so: „Hmmm, Euer Schild da draußen sagt aber …“ Er winkt ab: „Naja, ein paar der Tabak-Setzlinge waren früher tatsächlich mal auf Kuba. Dann hat man sie in die Dominikanische Republik verfrachtet und dort erledigt man heute den ganzen Rest.“ In einem anderen Laden behauptet der Verkäufer, sie würden den getrockneten Kuba-Tabak nach Honduras schippern und dort dann zu Zigarren rollen lassen. Kurz gesagt: Man verkauft kubanische Zigarren, die gar nicht aus Kuba kommen. Für 22 Dollar das Stück. Ein richtig gutes Geschäft.
Dasselbe Spiel beim kubanischem Kaffee. Natürlich kommt der Kaffee, wenn man nachfragt, nicht wirklich aus Kuba. „Wir haben doch das Embargo.“ Das Pfund kostet jedenfalls 20 Dollar. Ein sehr gutes Geschäft.
Dasselbe mit den Seekühen. Die gibt es tatsächlich in der Gegend. In der Marina hängen überall Schilder, die auf diesen Meeressäuger hinweisen. Ich frage einen Kellner: „Habt Ihr hier denn Seekühe?“ Er so: „Naja, direkt hier natürlich nicht … aber anderthalb Meilen weiter in dieser anderen Marina …“ Als wir dann anderthalb Meilen weiter verschwitzt an dieser anderen Marina stehen, gibt’s dort natürlich auch keine Seekühe. Dafür, so verrät uns eine Website, müsste man am besten nochmal ein paar Meilen weiter durch die Sonne latschen. Aber auch da braucht man Glück. Und am besten mietet man eh ein Boot mit Guide.
Immerhin: Die Sache mit den Seekühen war umsonst. Gekostet hat sie uns lediglich Schweiß. Mit einigem Nachdenken lässt sich bestimmt auch daraus noch ein richtig gutes Geschäft machen.
Ich will aber nicht meckern. Mir hat es gefallen da unten. Man trifft interessante Leute, die einem ihre komplette Lebensgeschichte erzählen, und am Ende muss man zugeben, dass alle was zu erzählen haben. Jeder Mensch: ein Universum.
Hier noch ein Bild vom Sonnenuntergang. Er war auch ohne Filter ganz schön. Ich hab den Schuss aber vorsichtshalber durch meine Sonnenbrille gemacht. Sah damit noch cooler aus. In Key West, da gehört sich das einfach so.
Das hier ist die Bühne des Hill Auditorium in Ann Arbor. Auf der Bühne stehen die Berliner Philharmoniker und lassen sich beklatschen. Sie haben gerade Mahlers 7. Sinfonie abgerissen. Ich hab die Combo vorher noch nie live gesehen und … naja … es ist schon seltsam, ausgerechnet für ihr Gastspiel in Michigan zum ersten Mal Tickets zu haben. Ich mochte schon vorher ein paar andere Sachen von Mahler, die Rückert-Lieder, das Adagietto aus der 5. Sinfonie. Die 7. kannte ich nicht, hab sie mir aber vor dem Konzert häufiger angehört, um mehr von der Musik zu kapieren. Das hat sehr geholfen; viele der Themen sind nach einiger Gewöhnung sogar ziemlich eingängig und Pop auf ne gewisse Art.
Ins Hill Auditorium passen angeblich 3500 Leute, der Laden war ausverkauft, vor der Abendkasse standen die Studierenden in langen Schlangen im Schnee, um auf kurzfristige Covid-Absagen zu hoffen. Wer geht zu den Berliner Philharmonikern? Nun. Zum einen Menschen, die irgendwann ab dem 3. Satz unwiederbringlich eingeschlafen sind. Wirklich. Es liegt an einem Mix aus mangelnder Vorbereitung und langen Arbeitswochen. Nur so ne Vermutung, ich weiß es nicht genau. Fest steht: Ich habe an diesem Abend viele Kombinationen aus geschlossenen Augen und halbgeöffneten Mündern gesehen. Ein Jammer.
Dann ein Wort zur Demografie: Vor mir leuchteten viele graue Häupter. Sie gehörten zu längst verrenteten Intellektuellen mit verfeinertem Musikgeschmack. Und dann: junge Menschen bis zum Abwinken. Kinder reicher Leute, nicht selten in Fernost aufgewachsen. Sie alle studieren hier an der Uni und haben eine rosige Zukunft vor sich. Darüber hab ich neulich mit einem berühmten Persönlichkeitspsychologen gesprochen. Seine Daten ergeben, dass die intelligenten und fleißigen Kids aus den wohlhabenden Familien ziemlich gute Chancen auf sehr gute Noten haben. Tja, wer hätte das gedacht? Genau diese Kinder sitzen an diesem Abend im Hill Auditorium und summen im Kopf heimlich die Linien der Oboen mit.
Als wir den Konzertsaal verlassen – die Philharmoniker haben astrein abgeliefert – hat Schneefall eingesetzt, der Wagen steht zehn Blocks entfernt und wir werden tüchtig eingeseift.
Tags zuvor noch lange gearbeitet. Am Abend gehen wir in einen Laden in Downtown namens „Live„. Dort spielt eine Band, die ich sehr mag. Sie nennen sich „Jive Colossus„, eine Art Santana-Band mit stilprägendem Bläsersatz. Man muss einfach tanzen dazu. Und genau das machen die Leute auch. Ich bin mit meinen 53 eindeutig in der jüngeren Hälfte des Publikums. Da tanzen Menschen, die sich allem Anschein nach schon so manches Gelenk haben ersetzen lassen. Sie tanzen in Paaren, sie tanzen allein, mancherorts wird geflirtet, als läge die Bachelorprüfung noch weit in der Zukunft. In der Ecke kippt einer der Pensionäre halb vom Sessel; er hatte zur Happy Hour schon manches Getränke und dann vermutlich zu starkes Gras geraucht.
Was noch? Ach so! Die Wahlen sind vorbei. Die Gouverneurin wurde wiedergewählt. Vor den Wahlen hat sie mir täglich Wahlkampfsachen zugemailt, keine Ahnung warum. Jetzt hat sich mich – wieder per Mail – daran erinnert, dass am Donnerstag Thanksgiving ist. Ich soll darüber abstimmen, welchen Truthahn sie begnadigen soll. „The winning name will be announced this Monday.“ Ich kann’s kaum erwarten.
Hab dieser Tage meine Gitarre umgestimmt: Alle Saiten einen halben Ton tiefer, nur die G-Saite nicht. Man hätte auch nur die G-Saite einen Halbton höher stimmen können, klar, aber dabei gehen wegen der hohen Spannung viele G-Saiten kaputt und das behagt mir nicht.
Jedenfalls ist so eine umgestimmte Gitarre immer eine interessante Intervention. Sie zwingt dazu, mit den Fingern ungewöhnliche Dinge zu tun. Die neuen Akkorde entstammen dann eher dem Zufall und der Intuition und weniger einer rationalen Harmonielehre, sie erwachen wie von selbst und so entsteht die Chance, einem bislang verborgenen Teil der eigenen Seele einen neuen Ausdruck zu geben. Ein neues Lied. Ich schreibe es und nehme es auf und höre es an. Beim ersten Mal denke ich: Aha, ein Song über eine Fahrt an die See. Beim zweiten Mal denke ich jedoch: Ein Song übers Sterben. Interessant.
Ansonsten versperrt die Bahn gerade überall die illegalen Fußwege über die Gleise nach Chicago. Mal sehen, ob sie damit Erfolg haben.
Musste dann beim Spaziergang mit dem Hund an eine Folge aus unserem Audible-Podcast „Sag mal, du als Psychologin“ denken. Mich erreichen dazu immer wieder Anfragen von Hörern und Hörerinnen. Und diesmal ging die Erinnerung um eine Anekdote, die ich in unserer Folge zum Thema „Lampenfieber“ geteilt habe.
Und zwar. Spiele ich ja seit Ewigkeiten Tischtennis im Verein und mache auch Ligaspiele mit und all sowas. An diesen Wettkämpfen hab ich über die Jahre aber immer mehr die Freude verloren. Denn ich wurde dabei immer extrem nervös und habe zunehmend schlechter gespielt.
Seit etwa einem Jahr hab ich dazu aber einen neuen Gedanken, der vieles für mich verändert hat. Er besagt: Ich allein kann diese Sportart nicht ausüben. Ich brauche wen, der mitspielt. Dieser Mensch auf der anderen Seite der Platte ist in diesem Moment mein bester Freund. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mit mir spielt. Wenn er einen guten Ball schlägt, dann freu ich mich darüber, als wär ich sein Trainer. Ich coache meine Gegner inzwischen, während ich mit ihnen spiele. Ich habe den Gedanken von Konkurrenz und Gegnerschaft verwandelt in einen Gedanken von Gemeinschaft. Das hat mir viel Freude am Sport zurückgegeben.
Es läuft wie mit der offen gestimmten Gitarre: Auf den ersten Blick schwäche ich mich selbst. Ich coache meinen Gegner. Ich stimme die Gitarre so, dass die mühsam erlernten Griffe keine schönen Akkorde mehr ergeben. Ich muss neue Griffe erlernen, damit es schön klingt. Aber es verändert das ganze System und bringt wie von selbst die Freude am Lernen und am Spielen zurück.
Aber es gibt auch Schatten. So bei einem Erlebnis hier in Michigan, wo dieser Tischtennistrick nicht gezogen hat. Ich habe gegen jemanden gespielt, der aus einem Kriegsgebiet kam. Das ist mir erst nach unserem Spiel aufgefallen. Schon beim Warmspielen habe ich gemerkt, wie alle Freude des Miteinanders, alle gute Energie den Raum verließ. Es hat keinen Spaß gemacht und war kein schönes Spiel. Später hab ich mit ihm geredet und ihm dabei in die Augen geblickt. Ich habe noch nie solche Augen gesehen. In ihnen war kein Leben und keine menschliche Verbindung. Da war nichts. Es war sehr unheimlich. Ich habe nicht nachgefragt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mann schlimme Dinge erlebt und vielleicht auch schlimme Dinge getan hat. Mein Instinkt hat mir geraten, mich besser von ihm fernzuhalten und ich bin diesem Rat gefolgt.
Als Student habe ich einmal politische Reden aus dem Deutschland der späten 1920er Jahre analysiert. Häufig bestand die Quelle aus den Mitschriften der heimlich anwesenden Polizei. Sehr oft stand am Ende der Vermerk, dass die Leute im Saal nach der Rede immer lauter diskutiert und sich danach ordentlich geprügelt haben. Es war eine gewalttätige Gesellschaft. Viel gewalttätiger als unsere Gesellschaft heute. Denn fast alle jungen Männer hatten hundertfach den Tod gesehen und selbst den Tod heraufbeschworen über andere. Sowas wird man nie mehr ganz los.
Und in der Ukraine läuft genau dafür gerade wieder ein sehr großes Trainingslager.
Bei meinen Psilocybin-Visionen von neulich habe ich auch den Krieg gesehen und eine sehr archaische Notwendigkeit für Mauern, Wälle und Waffen, um nicht gefressen zu werden. Ich würde gerne schreiben, dass es bestimmt einen Weg gibt, nie wieder kämpfen zu müssen und nie wieder Krieg zu haben. Aber in diesen Tagen glaube ich nicht mehr daran. Es ist alles so viel älter als wir selbst.
Liebe ist eine gute Antwort. Was für ein Satz. Man braucht so viel Glück, um ihn sagen und sehen und leben zu können.
So. Am Sonntag hab ich zum ersten Mal Magic Mushrooms genommen. Es war eine leichte Dosis für vorsichtige Anfänger. Ich war auch beim Setting eher besonnen und hatte überdies, um die Erfahrung zu dokumentieren, permanent ein Audio-Aufnahmegerät mitlaufen. Inzwischen habe ich meine freien Minuten dazu verwendet, die Aufnahme zu transkribieren, was mehrere Effekte hatte: Ich habe viele der inneren Bilder ziemlich lebendig wiedergesehen, auch einige der Emotionen in schwächerer Form aber ähnlicher Qualität wiedererlebt. Das war und ist toll, ich kann mir vorstellen, dass das für manche Menschen ein guter therapeutischer Ansatz wäre, der bei der Integration hilft.
Ich werde in den nächsten Tagen etwas dazu schreiben: Welche Erkenntnisse mir beim Abtippen gekommen sind, welche beim Erlebnis selbst, welche Bilder ich gesehen habe und so weiter.
Heute aber mal was vergleichsweise Leichtes, auch für mich selbst. Man will sich nicht permanent überfordern. Ich habe nämlich – Nicki hatte es mir bereits angekündigt – SEHR viel über die Musik geredet, welche mir die klassische Johns-Hopkins-Playlist auf die Ohren gegeben hat.
Um es vorweg zu sagen: Meine Ausdrucksweise war nicht immer fein. Aus Chronistenpflicht lasse ich das oft unverändert und bitte um Verzeihung. Ich befand mich innerlich sozusagen im Krieg, wo in Worten mehr erlaubt ist als zu anderen Zeiten.
Wenn Ihr auf Spotify geht, könnt Ihr auf der Playlist auf das jeweilige Stück klicken und es parallel zur Lektüre laufen lassen, um ein bisschen Kontext zu erschaffen. Ist auch tolle Musik dabei, wirklich.
Manchmal rede ich Englisch, weil Nicki mit mir gesprochen hat, um mich rauszuholen aus den Tiefen. Dann rede ich mit ihr statt vor mich hin.
Also, los geht’s, chronologisch und in Auszügen.
Edward Elgar – Enigma Variationen (1898) Die Geigen gehen auf Moll gerade, sehr schön, sehr getragen alles. Fühl mich ein bisschen zittrig. Oh ja, jetzt kommt Bewegung in die inneren Bilder. Nur Muster. Es ist eine weiße, zentrale Rauchwolke. Jetzt sterben.
Morten Lauridsen – O Magnum Mysterium (1994) Und das erste Chorstück, es zieht mir auch die Socken aus. Mir wird ein bisschen schlecht gerade. What the fuck! Die Akkorde sind ja der Hammer! Ich sehe eine Straße durch den Schnee in die Berge hinein. Da ist Wald! Jetzt ist es wie ein Wasserfall, der unter mir weggeht, es ist alles schwarz, alles monochrom und negativ. Huschhhhhhhh!
Henryk Górecki – 3. Sinfonie, I. Lento (1976) Die Streicher gehen so auch … Ranken … wie ineinander. Ist auch tolle Musik. Es ist ein zittriges Gefühl. Als würd‘ ich frieren Ja, ich bin kalt. Ich bin ganz kalt.
Johannes Brahms – Selig sind, die da Leid tragen (1865) Mag ich jetzt nicht so Ah. Brahms. Igitt!
Johannes Brahms – Denn alles Fleisch, es ist wie Gras (1865) Ich sehe jetzt bedrohliche Dinge aufsteigen. (…) Es ist wie das Böse. (…) Es ist sooo riesengroß. Drachenhaft. Während die Männer und Frauen bei Brahms singen von Freude oder irgendwas. Das Dur ist gelogen. Es ist nur gespielt. Erbrechen. Ekel.
Johannes Brahms – Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth (1865) Alter, was ist das denn für düstere Musik schon wieder.
Johann Sebastian Bach – h-Moll-Messe, Kyrie (1733) Diese Holzblaströten!!! Wie viel Gewalt in ihnen drin ist. Dieser Zwang, dieser Zwang, diese Enge! So viel Gewalt. Die arme Oboe, Oboe ist Folter. Wer hat sich das ausgedacht?
Antonio Vivaldi – Gloria“ in D-Dur (1716) Schön! Das klingt wie Vivaldi. Trotzig! Es ist so trotzig. Man schreit es über die Burgmauern hinweg auf den Feind. Und man weiß, dass es nicht stimmt. Es ist so viel kontrafaktisches Singen und Musizieren. Es ist Kriegsmusik Vor der Schlacht. Um sich aufzupushen. (sic!) Wahnsinn. I hear the phoniness in major triads and how people felt something completely different when they wrote it.
Johann Sebastian Bach – Komm, süßer Tod (1736) Okay, jetzt kommt Hellgrün mit den Streichern, ohhhh süüüüüß, ohhhh, ne Flöte. Und ich höre, ich glaube, da ist ne Flöte drin und fuuuuck, die muss so kämpfen. Aber sie kriegt sie gerade noch so, oben im Rauch. Oach, toll! Hauchzart! Jaja. (…) Ich weiß gar nicht, was diese Blechdinger wollen alle! Alle Posaunen haben PTSD, wirklich. Für den Krieg gemacht und jetzt ist Frieden und was macht man mit denen? Und sie wissen nicht mehr, was sie sollen in der Welt. Und … es klingt immer scheiße. (…) Ooooochh ist das schön gerade. Oh Gott. Och, herrlich, ey, Wahnsinn. Die Sonne geht auf über den Bergen und ich werde gesegnet. Ich hab ne Fahne in der Hand. Aber ich kann nicht sehen, was drauf ist, und es weht ein starker Wind von vorne, es ist saukalt.
Wolfgang Amadeus Mozart – Laudate pueri Dominum (1780) Was machen die da? Diese Penner! Ich höre diese Musik und denke: Ihr habt’s nicht kapiert! Euch fehlt so viel! Ihr lasst die schönen Töne weg in der Mitte und dann kommt dieser Mist dabei raus. Ich sehe Verhaue aus Fichten und Dunkelheit. Man wappnet sich wieder. (…) Hahhh, ich spüre Tränen. Jaja, Drohen. Es ist auch Drohen dabei. Oh, ja, die Musik ist Erbe, es ist Erbe, es sind alte Geschichten, es sind alte, alte, alte Geschichten. Oh, Scheiße, war das schlimm. Es kommt alles wieder. Es ist alles da.
Henryk Górecki – 3. Sinfonie, II. Lento e Largo (1976) Jemand singt auf Ungarisch. Massiiiiiive Streicher. Fucking Shit. (Lautes ausatmen) Auch das, das Zusammenklingen. Es ist wie sich großmachen und ein großes Wesen erschaffen. Groß genug, groß genug, jaja. (…) (weint laut) Honey, I felt the quality of the too-earliness of dying. (weint laut) „Cry with me“, says the song. „Moan with me.“
Edward Elgar – Serenade in e-Moll, II. Larghetto (1892) It’s also ridiculous. Everything is ridiculous, too. It’s laughable, that’s it! (lacht laut) We should be scared every second. And we can also laugh at it. That’s the whole thing. It’s true at the same moment. Nothing is better. Honey, that’s the insight. There’s another side. Something beyond fear. Pretty amazing.
Gabriel Fauré – Requiem (1887) The music’s great! Now’s where the soul enters paradise.
Wolfgang Amadeus Mozart – Klarinettenkonzert in A-Dur, II. Adagio (1791) That’s music I like. Mozart. I feel ashamed. It’s so pop. Ha, es ist so seltsam. Ich bin in einer Heiterkeit. In einer Heiterkeit, die fast nicht zu schlagen ist. Wahnsinn! Eine … fast eine metallene Heiterkeit. (…) Ich sehe Pfauenfedern. (…) Jetzt, jetzt hab ich einen Moment, in dem ich sooo glücklich bin.
Arvo Pärt: Cantus in Memoriam Benjamin Britten (1977) Oh, jetzt, Kirchenglocken und ineinander sich verwebende … siehste, die Schweine haben tatsächlich Mandalas in die Geigen mit reingemischt. Ich erzähl mir gerade den Witz, dass man Kriegsgeigen hat. (lacht laut) Geigen sind sooo Musik des Friedens. Ey, Ich möchte ein Stadion haben, in dem völlige Stille herrscht. Und die Geigen spielen Musik in der 20. Minute, wie gespenstisch das wäre! In der 20. Minute. And it scares the SHIT out of everyone. Oder vorm Elfmeterschießen. Ich weiß nicht, was DAS für Musik ist aber … dünne Spinnweben, jeder Ton. Jetzt wachsen wieder Dornen aus den Blättern. Vielleicht Zähne. Krallen. Gefahr. Überall. Diese Musik sagt dir: Passt auf, Leute! Passt bloß auf, es ist überall! Fuck. Wer hat das bloß geschrieben? Aber das ist wirklich das Greifen von überall nach dir. (…) Und jetzt siehst du die ganzen Zähne. Es ist wieder ein Insekt. Riesengroß. Ohhh, die Obertöne der Glocke. Es ist schon der Hammer.
Ludwig van Beethoven – 5. Klavierkonzert, II. Adagio (1809) Wenn das nicht Wien ist, weiß ich auch nicht. Woah. Die Harmonien am Ende, tausend Mal gehört, aber es ist schon clever gemacht. Wände aus Klängen. Ich glaube, das ist jetzt wirklich ne Nummer zu dolle mit dem Klavier. Der Klavierspieler ist ja wie ein Zirkuspferd. Wie ein Dressurpferd, das JEDEN Finger einzeln präzise … Ne! Es tut mir leid. Pirouette. Neenenene. Buäh! Ich möchte nicht. Es ist sooo viel Zwang und Dressur in dieser Musik. Fucking Beethoven! Uähhhh! Es ist so Inhibition. Ich höre wieder, wie die Flöten KÄMPFEN müssen. Für die Flöten ist das Spiel mit den anderen zusammen eine Tortur. Ich höre, wie hart es ist, diesen Ton zu halten für die ganzen Holzbläser, die armen Holzbläser tun mir so leid. Es ist das Lächeln, das falsche Lächeln der Stewardess. Das gequälte, falsche Lächeln der Stewardess ist in der Flöte. Und der dressierte Dressurmeister am Klavier!
Charles Gounod – Cäcilienmesse, Sanctus (1855) Ohhh, jetzt kommt aber ein heftiger Chor. Es gibt mir eine Wärme und ein Gefühl von Stärke, es ist unglaublich. (…) Muss ich denn schon WIEDER in den Krieg? Kann ich nicht einfach schlafen? Ey, wenn DAS ne kleine Dosis, will ich nicht wissen, wie ne große aussieht. Mir reicht das vollkommen.
Russill Paul – Om Namah Shivaaya (2008) Und jetzt komm ich in eine Schwerelosigkeit hinein. Siehste. Ich habe losgelassen. Auf einmal spür ich eine Leichtigkeit, eine Schwerelosigkeit … als würde mein Körper schweben für einen Moment. (…) Ohhhhhh. Wie KRASS es sich anfühlt, den eigenen Kopf zu berühren. OHHHHH! Meine Arme werden riiiiesenlang dabei. Shiiiit. (…) Ich hab Hunger. (…) Ohhh, geile, geile Harmonien. Krasse Harmonien. (Fingerschnipsen, singt mit, reibt sich die Hände) Sind das abgefahrene Harmonien! Ich tanze, ich tanze in der Küche, ich stehe auf meinen Füße fest. Oh, jetzt wird’s schnell! (…) Ohhh, und noch schneller! Shuffle!!! Seid Ihr denn wahnsinnig? (singt Rhythmus mit) Krass.
Richard Wagner – Tristan und Isolde, Vorspiel (1865) This is beautiful music. Das ist auf jeden Fall coole Musik. (…) Ich hab gerade das Horn ne Oberstimme spielen hören, es ist unfassbar gut. (…) Okay, was ist das für ne Jahrmarktsmusik jetzt? Klingt ja wie’n Zirkuskarussell. (sic) (…) Das ist hier schon Kapitalismus. In der archaischen Musik spielen die Musikanten um ihr Leben. Die hier spielen für Geld.
Wolfgang Amadeus Mozart – Ave verum corpus (1791) Oh. DAS ist wunderbar. Versöhnlich, mütterlich, bergend. Tröstlich. Okay, aber kraaaaassse tiefe Streicher. Was ist das denn? Oh. Ave verum corpus Mozart, siehste. In den Armen der Mutter liegt er. Tot. Er haut uns das um die Ohren. Nicht subtil. Voll in die Fresse. Super! Fucking Mozart! He’s not very subtle, he’s in the face. I imagine folks like Mahler and all the other Vienna guys after Mozart … they listen to that stuff and think: „Son of a bitch! I could have done that!“ (…) ALTER! Der Akkord hat mich gerade so weggehauen!
Gustav Mahler – 5. Sinfonie, IV. Adagietto (1904) Haaaah! Nein! Sie spielen Mahler (singt mit) Ahhhh, herrlich … wunderbar! (singt) (atmet tief) Im Moment fühlt es sich an, als wäre ich in Kontrolle. Ohhhhh. (singt) Und es ist dann schon wieder der Schmelz. Peter Alexander … ist nur einen Schritt weiter in manchen Passagen. Wahnsinn! (…) Jetzt wird es schon schwächer. (die Wirkung der Substanz)
<Ende>
Interessant, oder? Es gab eindeutig Phasen der Überwältigung. Und am Ende wird daraus eher ein freieres Assoziieren und Klugscheißerei.
Für Geo hab ich mich mehrere Wochen lang damit befasst, wie Psilocybin (die Substanz in Magic Mushrooms) dabei helfen kann, die Symptome einer Depression zu lindern. Ich hab mir auch ein paar andere (quasi-)psychedelische Substanzen angesehen, mit vielen Leuten geredet, ne Depressionsklinik besucht, sehr viel gelesen, ne Menge gelernt dabei und bin inzwischen ziemlich überzeugt, dass die Methode für viele Menschen funktioniert. In ein paar Jahren wird Psilocbyin einen festen Platz in der psychopharmakologischen Therapie einnehmen, all das ist nur noch eine Frage der Zeit, und ich sehe nicht, wie das Projekt noch scheitern kann.
In Ann Arbor sind Magic Mushrooms seit Anfang 2021 dekriminalisiert. Die Polizei unternimmt nichts, wenn sie Pilze bei dir findet. Man darf die Pilze anbauen, pflegen, besitzen und konsumieren.
Ich habe bei lockeren Gesprächen jedenfalls von einem Laden in der Stadt gehört, der die Pilze verkauft. Also bin ich hingefahren, um mit den Leuten dort zu reden. Der Mann hinterm Tresen heißt Dave. Er reagiert völlig entspannt und offen, als ich ihn nach der Sache frage. Tatsächlich: Einige der Produkte liegen ganz unversteckt in der Glasvitrine neben der Kasse. Er sagt, dass mehr als 300 Menschen regelmäßig vorbeikommen, weil die Pilze ihnen helfen. Viele sind depressiv, leiden an einer Angststörung oder an PTSD. Dave sagt, dass er bisher nur von einer Kundin gehört hat, für die die Pilze nichts gebracht haben, obwohl sie wohl mit mehreren Dosierungen experimentiert hat. Man muss dazu sagen: Die großen klinischen Studien, die bisher vorliegen, erzielen deutlich weniger hohe Erfolgsquoten. Aber dort arbeitet man auch unter verschärften Bedingungen, die mit dem Alltag von Patientinnen und Patienten relativ wenig zu tun haben. Zudem verwendet man dort einen synthetischen Wirkstoff. Manche Leute sind skeptisch, ob man damit dasselbe erreicht wie mit den Pilzen selbst. Nun. Das mag alles so oder so sein.
Jedenfalls hab ich meine Geschichte geschrieben, ohne jemals selbst eine psychedelische Erfahrung gemacht zu haben. Ich möchte das gerne ändern. Nicht, um eine Depression zu linden, sondern aus Neugier. Dave erzählt mir ein bisschen davon, wie die Sache bei ihm funktioniert. Er verfügt über diverse Gerätschaften, um die Pilze auf ihren Wirkstoffgehalt zu untersuchen. Am Ende gibt er mir ein Stück Schokolade, das genau ein Gramm getrockneter Pilze enthält. „Die Pilze selbst schmecken nicht besonders gut. Viele mögen die Schokolade lieber“, sagt er.
Ich frage ihn, ob er sich keine Sorgen macht, irgendwann Ärger zu kriegen. Denn die Dekriminalisierung deckt den Handel mit Pilzen nicht ab. Er sagt: „Bisher ist es gutgegangen, und wir helfen so vielen Menschen, die ansonsten keine Hilfe kriegen. We are doing the right thing.“ Ein tapferer Kerl ist das, so viel steht schon mal fest. Ohnehin. Ich hab in den vergangenen Monaten mit relativ vielen Menschen gesprochen, die was mit der psychedelischen Renaissance zu tun haben. Die sind sich in vielen Dingen überhaupt nicht einig – aber alle sind sehr davon überzeugt, das komplett Richtige zu tun. Pilze sind für sie eine Berufung und vor so was hatte ich schon immer Respekt. So fahre ich jedenfalls durch die Sonne zurück nach Hause.
Heute Morgen hab ich dann die Schokolade gegessen. Sie schmeckt wie Schokolade. Sehr cremig. Man schmeckt nicht, dass da noch mehr drin ist.
Alle Menschen mit Erfahrung haben mir vorher ein paar Dinge eingeschärft: Die Pilze allein machen den Job nicht. Die unmittelbare Umgebung rührt kräftig mit an der Seelenrezeptur. Und wie Du gerade drauf bist, das schmeißt auch noch ein paar Zutaten mit ins Ragout. „Set und Setting“. Jaja.
Ich habe mich also vorbereitet: Die Lebensgefährtin gefragt, ob sie meine Sitterin sein will, also aufpassen, falls mich die Panik überfällt und ich dumme Sachen machen will und so weiter. Sie hat zugestimmt, was mich mit großem Dank erfüllt. Der Typ aus dem Trüffel-Shop in den Niederlanden meinte: „Dafür fragst Du am besten wen, dem Du komplett vertraust.“ Gut so. Gut so. Nicki war da während des Trips und es gab ein paar Momente, wo mir das sehr geholfen hat.
Dann die Musik. Einige der besten frühen Psilocybin-Studien der neueren Generation kommen von der Johns Hopkins University. Die haben ihren Freiwilligen während des Trips eine Playlist auf die Ohren gegeben. Es gibt auch Studien dazu, ob womöglich eine weniger westlich orientierte Playlist in einer Therapie zu besseren Ergebnissen führt. Antwort: Es ist relativ egal. Vielleicht braucht man am Ende eine personalisierte Musikauswahl, man weiß das aber nicht so genau. Ich jedenfalls lade mir auf Spotify die Klassik-Playlist der Johns-Hopkins-Leute herunter und stelle dann mein Handy auf Flugmodus.
Dann die Schokolade. Ich setz‘ mir eine Augenbinde auf, weil mich die Geister der Innenwelt viel mehr interessieren als die womöglich lustigen Effekte der äußeren Wahrnehmung. Dann stell ich die Musik an und lege mich ins Bett.
Ich hatte während der Reise einen Audiorekorder mitlaufen und bin schon gespannt, was ich unterwegs alles erzählt habe. Werde in den kommenden Tagen mehr darüber schreiben.
Jetzt schon mal ein paar grobe Dinge aus der Vogelperspektive.
Mir war die ganze Zeit ein bisschen schlecht. In Amsterdam haben sie neben jeden Coffeeshop nen Waffelladen gesetzt. Das läuft mit Pilzen nicht. Man will womöglich kotzen, aber sicher nicht essen.
Körperlich fühlt es sich lange an wie ein Mix aus „sehr betrunken“ und „39,8 Grad Fieber“.
Die erste Stunde war alles andere als schön. Die englische Überschrift über meine Visionen lautet: „Being food“. Ich habe sehr, sehr viele sehr große Zähne gesehen. Jetzt: Mitgefühl mit allem, was gegessen wird.
Ich hatte extrem tiefe emotionale Phasen, die sich in atemberaubenden Tempo abgewechselt haben. Nicht alle Emotionen waren drin in dem Mix. Längst nicht alle. Aber anders als MDMA hat der Pilz irrsinnig viele Gesichter.
So ein Trip ist keine sehr soziale Veranstaltung. Man ist erstmal allein. Auch hier: ganz anders als MDMA.
Immer wieder Zorn auf die Musik. Auf große Terzen, dann auf das Fehlen von Terzen, auf Holzbläser, Blechbläser. Tiefe Erkenntnisse über die harte Arbeit des Flötenspiels und die Intonation im Orchester. Arme, arme Holzbläser. Nicki sagt: „Du hast sooo viel über Musik geredet.“ Später mehr.
Und dann: Krieg. Kampf. Mauern, um das Böse fernzuhalten. Sterben. Überleben. Feuer. Es war alles nicht schön. Aber es musste sein.
Ich hatte eine Reihe von Erkenntnissen. Jede Erkenntnis sagt: „An mir kommt ab jetzt niemand mehr vorbei.“ DAS ist das BESTE an der ganzen Sache. Auch hier: später mehr.
So. Ich bin noch immer in der Ausklingphase. Ich hatte nur ein Gramm, eine Hasenfußdosis für Anfänger. Drei Gramm sind ein erwachsener Trip, nach allem, was man mir so erzählt, und in der Depressions-Behandlung arbeiten sie auch mit viel höheren Dosen.
Der Pilz ist keine sanfte Droge. Er schont nicht. Er ist nichts, was ich zum Vergnügen machen würde. Aber er öffnet Türen. Die Türen führen tiefer nach unten, als ich im Alltag steigen kann. Manche führen auch nach oben. Bin froh, dass ich dabei war.
Es gab diesen einen Moment, wo die ganze Last abgefallen ist in einem großen Gelächter. Und all das war wahr zugleich in diesem Augenblick: Das Elend war wahr. Das Gefressenwerden war wahr. Der Kampf gegen das Monster war wahr – und das Gelächter über mein Leben als Mensch war wahr und dass alles schwerelos ist und wunderbar leicht.
Jetzt schnapp ich mir den Hund und dann machen wir einen Spaziergang.
Ach ja: Die bunten Bilder aus den psychedelischen Filmen, wo sich Dinge verformen und krassen Farben kriegen – davon hab ich Null mitbekommen. Im Gegenteil. Wenn die Bilder im Inneren zu heftig waren, dann hab ich die Augenbinde abgenommen und in den Garten geschaut und dort war es schön und friedlich und alles sah aus wie immer.
Ums gleich zu sagen: Der Winter in Michigan ist zäh. Mir schlägt das aufs Gemüt. Vielleicht ist es auch der Krieg in Europa. Oder die Anzahl der Covid-Fälle in Deutschland. Alle scheinen gerade krank oder krank gewesen zu sein. Irre. Mir fällt das Schreiben jedenfalls schwer in diesen Tagen, was natürlich doof ist, wenn man damit a) sein Geld verdient und b) auch noch freiberuflich arbeitet, die Einkünfte also sehr direkt abhängig vom eigenen Output sind. Und man will auch keinen im Regen stehen lassen. Aber nun. Niemand soll behaupten, ich würde jammern. Ich sag’s bloß.
Vergangene Woche hat mein Kumpel Scott mich angeschrieben. Ich soll am Samstag kurz vor fünf abholbereit sein und meine Gitarre einpacken. Ich so: Geht klar. Nicki so: Wohin geht’s? Ich so: keine Ahnung.
Und genau so war’s dann am Ende auch. Wir sind ungefähr ne Stunde später irgendwo in Ohio in der Mitte von nirgendwo an einer sehr einsamen und sehr geraden Landstraße links in ein sehr einsames Grundstück eingebogen. Es gab da keine richtigen Nachbarn, nur ein Haus und eine Scheune daneben. In der Scheune stand unten ein Pferd. Es bekommt dort sein Gnadenheu, wenn ich das richtig verstanden habe. Das Dachgeschoss der Scheune hat das Paar, denen die Scheune gehört, jedenfalls zu einer schmucken Räumlichkeit ausgebaut. Und genau da hat Kara ein paar Bilder aufgehängt und in stillen Auktionen zum Verkauf angeboten.
Kara ist eine Bekannte von Scott. Alle im Raum kannten Kara. Manche schon seit Jahrzehnten. Eigentlich kamen alle im Raum aus derselben Kreisstadt im Süden von Michigan. Und dann war da noch Scott. Und dann war da noch ich. Wir haben uns in einer Ecke auf Barhocker gesetzt und ein paar Bluegrass-Stücke gespielt. Scott spielt Banjo, wie ich ja vor Zeiten schon erwähnt habe.
Ja. Wir durften uns Getränke aus dem großen Kühlschrank holen. Aber alles in Maßen. Im Raum hingen zwei Fernseher. Im einen lief College-Basektball, im anderen ein Eishockeyspiel der dritten oder vierten Liga. Die Heimatstadt der Anwesenden spielte um eine Meisterschaft. Es war ne große Sache.
Ich hätte beinahe ein Bild gekauft, wurde aber kurz vor Schluss überboten. So ist das Leben.
Es war ein sehr schöner Abend.
Interessant waren auch die Gespräche. Sie waren anders als die Gespräche in Ann Arbor. Zum Beispiel Corona. Niemand hat über Corona gesprochen. Niemand hat eine Maske getragen. Man muss dazusagen, dass es hier im Moment so gut wie keine Fälle gibt.
Und dann die Ukraine. Niemand hat darüber gesprochen. Oder. Vielleicht hat schon jemand davon gesprochen, aber ich hab’s nicht gehört.
Die Leute haben etwas betrieben, was man im Englischen als „catching up“ bezeichnet: einander auf den neuesten Stand bringen. Ich hab mal ne Geschichte drüber geschrieben. Es gibt ein paar empirische Hinweise darauf, dass „catching up“ zu den drei wichtigsten Sprechakten gehört, um die Gelenke, Muskeln und Sehnen einer Freundschaft geschmeidig zu halten.
„Wie geht’s eigentlich Deiner Cousine?“ „Danke, sehr gut. Sie lebt jetzt mit ihrem Mann in New Mexico.“ „Jaja, toll. Ich bin ja mit ihr in die Grundschule gegangen.“ „Weiß ich doch, weiß ich doch.“ „New Mexico ist toll“. „Ja, New Mexico ist toll. „ (zu mir) „Weißt Du, dass allein in Detroit mehr Leute leben als in ganz New Mexico?“ (ich): „Nö, wusste ich nicht. Heftig.“ „Jaja, kannste mal sehen. Schön ist es da in New Mexico. Aber miese Schulen. Niemand dort geht zur Schule.“
Wie gesagt: Es war ein sehr schöner Abend.
In der Überschrift hab ich versprochen, was über die Medien zu sagen, also muss ich das Ei jetzt auch legen. Die Medien also. Wie soll ich sagen? Ich meide seit einigen Tagen die amerikanischen Fernsehnachrichten. Etwas behagt mir nicht an ihnen. Nämlich: Dass es die Guten gibt und die Bösen. Und dass es sich so gut anfühlt. Hab ich schon mal gesagt. Aber es stimmt noch immer. Mein Kumpel Sören hat es auch gesagt, als wir am Wochenende telefoniert haben. Es ist ganz seltsam. Warum fühlt sich die Sache mit Gut und Böse so gut an? In der Psychologie gibt es die Faustregel, dass wir, sobald wir in eine Story die Kategorien Gut und Böse einbauen, – zack – mit einem Schlag 20 IQ-Punkte verlieren. Ich glaub nicht, dass es Studien dazu gibt, aber der Satz klingt einfach zu gut, um ihn für sich zu behalten. Jedenfalls: Die Nachrichten im Moment machen dumm.
Ich weiß: Irgendwie sind gerade alle im Krieg. Und im Krieg gelten andere Regeln. Trotzdem: Was ich hier sehe, ist keine Berichterstattung, sondern Propaganda. Und die Sendungen folgen allen Regeln, die jemals darüber geschrieben wurden. Hier: echt Menschen mit Namen und Schicksalen, die kein menschliches Herz kalt lassen. Dort: Maschinen. Flugzeuge. Panzer. Lastwagen. Kanonen.
Es ist alles wieder wie damals im kalten Krieg.
Klar, das ist nur eine Facette von vielen. Man könnte noch viele andere Dinge sagen. Information ist eine Waffe. Also schärfen wir die Äxte. Vielleicht dient alles einem guten Zweck.
Aber es gefällt mir nicht. Und ich schalte nicht mehr ein.
Obwohl ich weiß, dass das natürlich auch keine Lösung ist.
Hab ich gesagt, dass mir das Schreiben dieser Tage schwer fällt? Es ist schwer, weiter alles ernst zu nehmen, was die Leute so treiben in ihrem Leben.
Ansonsten: Ein Streifenhörnchen ist heute der Katze vor der Nase rumgetanzt und hat Glück gehabt, nicht gefressen zu werden.
Gestern hat mir Nicki eine TV-Offenbarung beschert und per Streaming ein paar Folgen der amerikanischen Serie Schoolhouse Rock über den Schirm flimmern lassen. Das sind trippige Zeichentrick-Filme zu interessanten Popsongs aus den frühen 1970er Jahren. Kann sein, dass die eh jeder kennt. Ich jedenfalls sehe sie zu ersten Mal. In den Texten geht es um Mathe, Landeskunde oder Grammatik. Ganz toll finde ich zum Beispiel den Song Conjunction Junction, in dem die grammatische Kategorie der Konjunktion erklärt wird. tldr: Mit „und“, „oder“ und „aber“ ist man stets auf der sicheren Seite. Zack – fertig! In einem entsprechenden Song über die „Interjektion“ heißt es: Nach der Interjektion kommt ein Ausrufezeichen. Oder ein Komma, wenn die Emotion dahinter nicht sehr stark ist. Bin völlig begeistert.
Ansonsten: Weil die Coronazahlen niedrig sind, hab ich zum ersten Mal in den USA ein Tischtennis-Turnier gespielt – in einem Städtchen namens Davison bei Flint (Michigan). Flint kennt man aus den Nachrichten wegen des versuchten Trinkwassers dort. Ganz traurige Story um die tiefdunklen Seiten des Kapitalismus. Jedenfalls veranstaltet der „Davison Athletic Club“ regelmäßig kleine Turniere, was ich sehr zu schätzen weiß.
Über dem Eingangstresen hat man, wie das hier üblich ist, einige Flaggen aufgehängt: das Land, der Staat, die Gemeinde. Immer wieder erstaunlich finde ich die Tatsache, dass die Flagge von Michigan einen lateinischen Wahlspruch enthält, der zugleich die Lieblichkeit der Halbinsel besingt und einen Hang zur klassischen Bildung demonstriert: „Si Quaeris Peninsulam Amoenam Circumspice.“
Erstaunlich auch die Architektur. Im Athletic Club steht jede Tischtennisplatte in einem eigenen Raum. Man hat sie vor Turnierbeginn einfach in eine Art Squash-Zelle geschoben. Das ist toll, weil anders als sonst niemals querfliegende Bälle aus anderen Matches den Spielfluss unterbrechen. Die Stimmung während der Spiele ist allerdings schwer zu beschreiben. Man hat das Gefühl, ganz allein in einer Privatgarage oder einem Hobbykeller zu spielen, nur halt mit mehr Platz drumrum. Was dabei völlig fehlt, ist die Atmosphäre von Öffentlichkeit, die ich von Turnieren aus Deutschland kenne.
Auch interessant: Wenn man (wie ich) zum ersten Mal in den USA spielt, kann man per Definition nicht gewinnen, weil man nämlich noch kein „Rating“ hat und deshalb mit der Ziffer „0“ eingestuft wird. Denn was ergibt eine Multiplikation mit 0? Eben! Hat trotzdem Spaß gemacht. Der Turnierorganisator hat mir Väterlich die rechte Pranke auf die Schulter gelegt: „Tröste dich, nach diesem Turnier hast du ein eigenes Rating – und beim nächsten Mal kannst Du dann auch ne Medaille kriegen, wenn du dich anstrengst.“ Sport ist toll, weil die Welt darin ganz klein wird, ganz einfach und unkomplex. So verbindet sich die körperliche Bewegung mit einer Erleichterung fürs Gehirn – mehr Eskapismus geht nicht.
Viele Dinge sind beim Tischtennis in den USA aber genau wie bei uns. Für mich das Wichtigste: Auf einmal kommt man mit Leuten zusammen, denen man ansonsten niemals über den Weg laufen würde. Wir kommen aus allen Ecken der Welt, aus Korea, China, Indien, Pakistan, Nepal, aus Europa, aus den USA (mit Vorfahren von überall). Da spielen Medizinstudenten, Marketingleute, Köche, Ingenieure, Freiberufler, Angestellte, Unternehmer, Rentner, Schulkinder … alle auf einem Haufen. Okay, es gibt eine gewisse Häufung von Menschen, die irgendwas mit der Automobilindustrie zu tun haben, aber das scheint mir bei der Nähe zu Detroit nicht weiter verwunderlich.
Nicki sagt: Die Sache erinnert sie an das Argument von Robert Putnam in seinem Buch „Bowling Alone„, in dem er sich die nachbarschaftlichen Bowling-Ligen angesehen hat und wie sie Brücken schlagen zwischen getrennten sozialen Gruppen. „Bridging social capital“ ist das, was Gemeinschaften erst zu Gemeinschaften macht. In Deutschland übernehmen das die Vereine, deren Bedeutung man deshalb gar nicht hoch genug einschätzen kann.
Gleich wieder Schnee schaufeln. Bowling alone – aber immerhin für einen guten Zweck.
Gestern hat mich Scott besucht, um Hausmusik mit mir zu machen. Er hat sein neues Banjo mitgebracht, auf das er mit Recht sehr stolz ist. „Weißt Du, warum es wie Gold glänzt? Weil sie dafür echtes Gold verwendet haben!“ Jawohl. Hier stimmt sie noch die alte und leider längst vergessene Weisheit: Was wie Gold glänzt, das ist auch aus Gold!
Scotts Banjo klingt wahnsinnig gut. Nicht nur, weil er es gut und mit Liebe spielt. Sondern auch, weil es sich um ein „Ome“-Banjo handelt. Ome, das ist ein kleines Familienunternehmen aus Colorado. „Die bauen nur ein paar Instrumente pro Jahr“, sagt Scott. Er hat durch einen Zufall (nämlich: den Originalkaufbeleg, der noch mit im Koffer des Instruments lag) eine musikalische Verwandtschaft mit dem Erstbesitzer des Instruments festgestellt. Er MUSSTE es einfach kaufen, das Schicksal hat es so gewollt.
Und so bin ich gestern – durch eine Verkettung günstiger Zufälle – zu einer Bluegrass-Session gekommen, obwohl ich von Bluegrass keine Ahnung habe. Hier ein kleiner Ausschnitt. Man kann dazu tanzen oder sich einfach drüber freuen, dass Menschen miteinander Musik machen. Ist das nicht schön?
Im Hintergrund sieht man übrigens Theo, den Kater. Katze Sasha und Hund Coco lagen davor auf dem Teppich. Manchmal haben sie mit den Pfoten den Takt mitgewippt, es war eine Freude.
Im Übrigen sagt Scott, dass ich aufhören soll mit diesem WhatsApp-Quatsch. „Damit verletzt Du eine ganze Reihe sozialer Normen hier bei uns. Besorg Dir gefälligst ne amerikanische Telefonnummer.“
Eigentlich weiß man das schon. Trotzdem verrückt, dass hier in den Staaten kaum jemand WhatsApp verwendet. Das machen nur die Ausländer. Tja.
Außerdem hab ich mich beruflich gestern mit einem Mathematiker-Streit im 18. Jahrhundert beschäftigt. Das Zwischenmenschliche kann ich verstehe. Aber die Mathematik dahinter? Man weiß im Grunde überhaupt gar nichts.
Am Freitag bin ich aus den USA wieder nach Hamburg gekommen. Risikogebiet. Also Quarantäne. Alles schon erzählt.
Am Wochenende dann versucht, das Rote Kreuz zu erreichen. Dort kann man sich angeblich auf eigene Kosten auf das Virus testen lassen. Jemand von der Hamburger Corona-Hotline hat mir am Freitag erzählt, dass ein negativer Test mir vorzeitigen Freigang verschafft. „Wenn Sie denn jemanden finden, der sie testet.“
Ein AB verrät mir, dass das Telefon am Wochenende nicht besetzt ist. Aber dafür an allen anderen Tagen von 8 bis 20 Uhr.
Aus diesem Grunde schmeiße ich hier noch das Bild eines Regenbogens mit rein. Hab ich am Sonntag geschossen. Ist es nicht verwegen, dieses Symbol der Hoffnung ausgerechnet in Schwarzweiß abzubilden? Mit diesem Kniff transportiert man zwei gegensätzliche Gefühle auf zugleich: Optimismus. Ja. Aber auch Skepsis. Clever!
Also am Montag ab 8 Uhr dann die Nummer des DRK gewählt. Dort läuft ein Band mit Musik und einer Ansage. „Leitstelle Hamburg. Bitte legen Sie nicht auf. Wir sind sofort für Sie da.“ Dann wieder Musik. Dann ein kurzer Cut – und Sache beginnt wieder von vorn. Die Schleife dauert 18 Sekunden, die Musik spielt in G-Dur. Ich hatte gestern und heute genau 134 mal die Chance, mir die Sache anzuhören. Keine Beschwerde. Nur eine Feststellung. Eine einzige Nummer für eine Stadt wie Hamburg. Unter normalen Zeiten ist das viel. In einer Pandemie ist es wenig. Zum Mittag: Rote Bete mit Kartoffelstampf. Lecker!
Aber gegen 17 Uhr – ich versuche mein Glück immer mal wieder, aber nie für viel länger als zehn Minuten am Stück – ist die Leitung plötzlich frei. Ich erwarte in der Stimme am anderen Ende jenen Ton von Zermürbtheit, der sich oft einstellt, wenn man dieselben Dinge immer und immer wieder sagen muss. Aber nichts da. Man spricht freundlich und hilfsbereit. Ja, es gibt die Möglichkeit, mich zu testen, ja, es sind noch Kapazitäten frei. Aber. Ich brauche eine „Ausnahmegenehmigung“ vom zuständigen Gesundheitsamt. „Sonst machen Sie sich strafbar – Sie stehen unter Quarantäne.“
Also kontaktiere ich wieder die Corona-Hotline der Stadt Hamburg. Auch dort läuft eine Maschine. Musik in C-Dur. Eine Schleife dauert hier 60 Sekunden, enthält aber dafür auch mehr Informationen. „Wir bedienen Sie so schnell wie möglich“, heißt es zum Beispiel. Man hört die Nummer des Bereitschaftsdienstes. Dort soll kann man anrufen, wenn man Symptome hat. Oder bei seinem Hausarzt. Dann kommt noch ein Verweis auf die Website des Robert-Koch-Instituts. Immerhin.
Nach etwa fünf Minuten meldet sich wer. Man gibt mir eine E-Mail-Adresse, bei der ich meine Ausnahmegenehmigung beantragen kann und versichert mir, dass man in der Tat schon von Fällen gehört hat, bei denen eine solche Erlaubnis auch tatsächlich erteilt wurde. Also schreibe ich eine Mail ans Amt und stelle meinen Antrag.
Am Abend flattert ein Falter durchs Fenster. Was für einer? Wer weiß es? Ich nicht. Hübsch sieht er aus.
Heute – kurz vor dem Mittagmahl – erreicht mich dann eine Mail vom Gesundheitsamt. Dort steht:
Bitte nutzen Sie die Informationen in diesem Link, unter Punkt 9 finden Sie die Antworten auf Ihre Fragen: https://www.hamburg.de/faq-reisen/
Wenn ich auf Punkt 9 klicke, komme ich bei einem Link heraus, den ich vorgestern schon hier in meinem Blog gepostet habe. Dort steht, dass ich mich beim Roten Kreuz auf eigene Kosten testen lassen kann. „Die Privatpersonen fahren mit dem eigenen PKW zur Abstrichentnahme.“ Ich soll also einfach da hingehen und mich testen lassen. Hm. Interessant.
Also wieder beim DRK angerufen. Dort läuft Musik und eine Sprachansage. 18 Sekunden. Aber schon nach 7 Minuten und 50 Sekunden nimmt jemand ab – Jackpot gleich beim ersten Versuch! Sofort kommt die Frage: „Haben Sie denn schon eine Ausnahmegenehmigung vom Gesundheitsamt?“
Ich so: „Die haben mir vorhin eine Mail geschickt. Da steht, ich kann mich bei Ihnen testen lassen.“
Und dann nimmt man auf der anderen Seite auch schon meine Daten auf, gibt die Adresse durch (beim Berliner Tor), verweist darauf, dass die Sache was kostet (93 Euro; 25 zahlt man vor Ort, das ist fürs Rote Kreuz; für den Rest kriegt man dann später einer Rechnung vom Labor; auch dies: keine Beschwerde, ich schreibe nur auf, was passiert) – und gibt mir einen Termin.
Wenn ich Glück habe, erfahre ich also noch diese Woche, ob mich das Virus erwischt hat oder nicht. Und wenn ich Glück habe, geht’s danach zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder runter an die Elbe.
Für meine Stimmung würde ich jetzt am liebsten noch mal den Regenbogen von oben einblenden: Hoffnung, ja. Aber auch Skepsis. It’s the pandemic, man!
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