In den USA gibt es einen Satz, der die Menschen zu Zivilcourage ermuntert. „See something, say something.“ Das bedeutet: Wenn man in der Öffentlichkeit etwas sieht, das den geltenden Normen widerspricht, soll man etwas sagen, sei es durch beherztes Einschreiten oder durch einen Alarm bei der zuständigen Ordnungshut.
Da ich gerne Scherze mache, drehe ich derlei Sätze manchmal um, einfach um zu sehen, was dabei herauskommt: „Say something, see something.“ Das Bild oben ist ein Produkt von Dall-E, ich habe den Satz dort eingegeben und die KI gebeten, das Ding im Stile von Joan Miró zu malen. Cool, oder?
Jedenfalls kommen beim Sätze-Umdrehen manchmal Dinge raus, die einen länger verfolgen, als man mag. Dieser hier sitzt mir mächtig im Nacken.
Wir sagen was – und sehen es auf einmal überall. Wir sehen dann plötzlich nix anderes mehr.
Wir sagen etwas – und glauben es auf einmal. Wir glauben dann plötzlich nix anderes mehr.
So funktioniert der Mensch. Seit den 1960er Jahren gibt es dafür einen Begriff: Es handelt sich um einen Bestätigungsfehler, einen Confirmation Bias. Wir sehen dann nur noch, was das Gesagte bestätigt, wir übersehen, was es widerlegt. Ich vermute: Weil das einfach soooo viel Denkarbeit erspart. Der Thalamus filtert alles andere raus, wie ein Palastwächter, der die ungebetenen Gäste abwimmelt, oft auch mit Gewalt, ehe sie den Thronsaal des Bewusstseins betreten.
Selbst in der Wissenschaft droht der Bestätigungsfehler. Als Waffe dagegen lautet das Standardverfahren (eigentlich), dass man mit aller Kraft versuchen soll, die eigene These zu widerlegen. Jede Publikation, jede Studie, die eine These bestätigt, bedeutet (eigentlich): Man ist beim Widerlegungsversuch dermaßen gründlich gescheitert, dass man achselzuckend nicht anders kann, als die These anzunehmen (bis jemand kommt, dem das Widerlegen gelingt).
Nicki sagt gerade: „Ey, man könnte doch auch ’selektive Wahrnehmung‘ sagen. Für das Grundphänomen haben wir mindestens 20 verschiedene Begriffe.“ Stimmt natürlich.
Ich merke es jedenfalls im Alltag. Nicht an mir. Sondern natürlich zuerst bei meinen Mitmenschen. Die haben EINMAL was gesagt, EINMAL die Welt so und so gesehen – und schon ist alles verloren. Keine Erfahrung, keine Einsicht bringt sie wieder ab von der einmal gemachten Deutung. Völlig irre. Kennt jeder, glaub ich. Man verbeißt sich in diesen Knochen und lässt nie wieder los.
Der letzte Schritt: Ich merk’s auch an mir selbst. Aber das ist knifflig. Viel kniffliger. Weil es fürs Gehirn wahnsinnig teuer ist, wahnsinnig aufwendig. Man muss das ganze Bild neu malen. Das kriegt man selten hin.
Vielleicht hab ich mir genau das vorgenommen: Einmal im Monat etwas sagen, ohne es hinterher zu sehen. Oder noch besser: Etwas zu sehen, obwohl ich vorher das Gegenteil gesagt habe.
Was immer ich gerade in der Hand halte, wenn samstags um 17 Uhr mein Handywecker klingelt (vielleicht ist’s die Harke, um den Rasen vom feuchten Herbstlaub zu befreien; womöglich ein Holzkochlöffel, der meine Suppe rührt; oder der Hinterkopf der Liebsten, der sich schräg mir zum Kusse entgegen neigt), beim ersten Läuten lasse ich alles fahren, um im Panthersprung meinem Laptop zuzuhechten und mich auf der Seite https://wolverinepickleball.com für den kommenden Mittwoch in den Pickleball-Spielkalender einzutragen. Die Anmeldung öffnet genau 96 Stunden vor Spielbeginn.
Der Wettbewerb ist so hart und gnadenlos, wie es noch nie bei einem Freizeitsport erlebt habe. Nicht auf dem Platz selbst, dort sind fast alle Leute entspannt, wie ich bereits in einem älteren Blogbeitrag beschrieben habe („Hilfe, ich bin Teil einer Trendsportart!“). Es ist der Kampf um den Platz AUF dem Platz, aus dem ich längst nicht immer als Sieger hervorgehe. Sich einfach erst am Sonntag anmelden? Ich hab’s versucht: Man kann’s vergessen!
Auf den ersten Blick ist Pickleball ein Sport für Verlierer: weniger schick als Tennis, weniger dynamisch als Squash, weniger elegant als Badminton, viel langsamer als Tischtennis. Und dennoch handelt es sich um „America’s fastest growing sport“, wie im Februar 2022 ein Bericht auf NPR verkündete (das ist sowas wie der Deutschlandfunk der USA). In den vergangenen Jahren habe ich Pickleball immer nur in der warmen Jahreszeit gespielt – umsonst und draußen auf den öffentlichen Anlagen von Ann Arbor. Irgendwann im Sommer 2020 ist mir dort eine nette Frau in den mittleren Jahren aufgefallen. Sie spielte sehr gut und fair, lächelte viel, verteilte nach den Matches immer irgendwelche Handzettel und sammelte dabei Emailadressen von Leuten, die ihre Liebe zum Pickleball teilten. Auch ich habe ihr meine Adresse gegeben.
Und so kam es, dass am 1. Oktober 2020 folgendes Bild in meinem Maileingang lag:
Kein Zweifel: Christy und ihre Geschäftspartnerin Leslie hatten im Westen von Ann Arbor eine leere Lagerhalle gemietet und in einen Ort zum Pickleballspielen verwandelt. Man muss im Nachhinein sagen: Besser hätten sie das Timing kaum treffen können. Denn, na klar, im Oktober 2020 wütete die Pandemie. Fast alles war verboten, aber Pickleball war erlaubt. Und so kauften sich auf einmal alle möglichen Leute einen Schläger für Einsteiger und fingen an, diesem gelben Plastikball mit Löchern in der Außenhaut nachzurennen.
Mittwoch 17 Uhr. Der Einsatz vom Samstag hat sich gelohnt: Mein Kumpel William und ich haben tatsächlich für zwölf Dollar pro Nase einen Platz ergattert. Umkleiden gibt es nicht. Duschen auch nicht. Wir spielen auf sechs Plätzen; auf den beiden anderen Courts (aus den ursprünglich vier Plätzen bei Christy und Leslie sind inzwischen acht geworden) läuft irgendein Privattraining. Zwölf Doppelpaare werden jetzt zwei Stunden lang jeder gegen jeden Spielen: zwei Minuten Aufwärmen, dann eröffnet ein Signalton das Match. „Zero, zero, start“, zählt William. Punkte kann nur machen, wer das Aufschlagsrecht besitzt. Einige der erfahrenen Spielerinnen werden am Ende des Abends unseren Stil bemäkeln. Wir „bängen“ ihnen zu viel, hauen also zu dolle auf den Ball. Gelegentlich spiele ich auch einen Lob, löffle den Ball also im hohen Bogen über die Gegnerinnen, die am Netz stehen. „Diesen Schlag sehen wir hier auch nicht so gern“, sagt Christy hinterher. Nicht gänzlich unverwirrt google ich die Sache später im Netz. Aha! Der Lob zwingt zum Rückwärtslaufen und dabei kann man sich verletzen. Überhaupt: Erst kürzlich hat die New York Times eine größere Geschichte über die hohe Verletzungsgefahr beim Pickleball gedruckt. Pickleball wird meist von reiferen Semestern betrieben (ich gehöre mit meinen 53 nicht zur älteren Generation in der Halle) – und mit den Jahren steigt eben auch das Risiko, sich die Achillessehne zu reißen, einen Knöchel zu stauchen und den Meniskus zu ruinieren. An der Hallenwand von Wolverine Pickleball hängt das Werbeplakat eines Schulterspezialisten.
Mein Kumpel Søren hat mich vor Zeiten darauf aufmerksam gemacht, dass „Pickleball“ ein bescheuerter Name ist für eine Trendsportart. Er hat vollkommen Recht, aber die Sache ist nicht mehr zu retten. Drei Männer haben den Sport in den 1960er Jahren im US-Staat Washington erfunden. Einer von ihnen besaß einen Hund, der Hund hieß „Pickles“ – und weit und breit fand sich kein Marketingteam, um sich etwas Schmissigeres auszudenken. Ich finde das grundsympathisch.
Wir haben die meisten Spiele gewonnen. Allerdings haben uns Karen und Greg, ein sportliches Ehepaar in den eher späten mittleren Jahren, mal wieder ordentlich den Hintern versohlt. Entscheidend scheint der dritte Ball im Ballwechsel zu sein. Die richtig guten Leute setzen ihn so knapp hinters Netz, dass man ihn schlechterdings nicht schmettern kann. Doch ach: Wir hantieren noch immer mit den spröden Billigschläger aus dem Sportsupermarkt, mit denen derlei Kunstschüsse nur selten gelingen. Fast alle anderen schlagen den durchlöcherten Ball mit Geräten, die so irgendwas zwischen 160 und 280 Dollar kosten. Dort ist die Schlagfläche elastischer und griffiger. Man hat damit, so versichern uns alle, mehr Feingefühl und erzeugt auch mehr Effet. Vielleicht wird’s bald mal Zeit, noch mehr Geld ins Hobby zu investieren?
Dass der Sport ausgerechnet jetzt derart durchstartet, dürfte mindestens zwei Ursachen geschuldet sein. Zum einen ist da natürlich der demographische Wandel. Die Boomer gehen in Rente, und diese Kohorte hatte seit je ein Händchen dafür, sich ihr Dasein schön und bunt zu gestalten: Gras, elektrische Musik, LSD, freie Liebe und ein bisschen Revolution in der Adoleszenz – und heute eben dieser gesellige Sport, bei dem man auch mit 75 noch locker gegen aknegeplagte 18-Jährige punkten kann. „Wir empfehlen Pickleball als eine Form ernsthafter Freizeitbeschäftigung, die dem Leben älterer Erwachsener deutlich mehr Qualität verleihen und einen Beitrag zum erfolgreichen Altern liefern könnte“, resümiert eine Studie aus dem „Journal of Positive Psychology“. Und dann kam eben noch die Pandemie und schleuderte einen Molotowcocktail in den seit Jahren glimmenden Trend.
„How’s the Money?“, frage ich Leslie bei meinem jüngsten Besuch in der Halle. Sie lächelt. Es läuft bombastisch. Sie winkt mich in ihr Büro und zeigt mir ihr Buchungstool auf dem großen Computermonitor. Von 9 Uhr am Morgen bis 23 Uhr am Abend ist praktisch jeder Platz durchgebucht. Jeden Tag. Selbst an Thanksgiving war so gut wie alles voll. Wahnsinn: Pickleball ist eine Geldmaschine! Für die beiden Betreiberinnen der Halle erweist sich die demographische Zusammensetzung ihrer Kundschaft als Segen: Den fitten Rentnerinnen und Rentner ist jede Tageszeit Pickleballzeit. War und ist aber irrsinnig viel Arbeit, sagt Leslie. Als sie die Halle aufgemacht haben, standen in ihrem Emailverteiler schon weit über 1000 Adressen. Einfach ne Halle mieten und drauf warten, das wer vorbeikommt – das hätte sicherlich nicht gereicht. Derzeit bauen die beiden mit dem verdienten Geld gerade ein paar Blocks weiter an einer eigenen Pickleballhalle. Es gibt ihn noch, den American Dream. Ein Demonstrationsstein vor dem Bürofenster verrät, dass ich Sponsor des neuen Etablissements werden kann. Ein Stein im Eingangsbereich könnte meinen Namen tragen, wenn ich 150 Dollar in den Hut werfe.
In unserem Nachbarstädchen Chelsea gibt es das „Purple Rose Theatre“. Das ist ein kleines, aber sehr respektables Theater, das dem Hollywood-Schauspieler Jeff Daniels gehört. Das Stück, das dort seit September läuft, trägt den Namen „Pickleball“. Der Meister hat es persönlich geschrieben, ich habe nur Gutes darüber gehört. Karten (z.B. für die Vorstellung am Samstagabend: 52 Dollar) sind nicht immer leicht zu kriegen. Mitglieder der Theaterfreunde (Beitrag: 250 Dollar) haben die Möglichkeit, die Tickets zwei Wochen vorab zu reservieren.
Ein Samstag später. Ich bin spät dran. Um 17:03 Uhr melde ich mich an für kommenden Mittwoch. „#5 on waitlist“, heißt es hinter meinem Namen. Vermutlich gehe ich diesmal also wieder leer aus. Vielleicht muss ich doch Premiummitglied bei Wolverine Pickleball werden? Für 25 Dollar im Monat kriegt man Rabatt auf seine Spielzeiten – und kann sich schon ein paar Tage früher seinen Platz reservieren.
Fest steht jedenfalls: Pickleball ist in den USA eine Geldmaschine. Und wie die Dinge liegen, geht der Wahnsinn noch eine ganze Weile weiter. Bleibt die Frage: Wann geht die Sache in Deutschland los? Wenn ich’s wüsste, würde ich vielleicht schon mal anfangen, nach einer leeren Lagerhalle zu suchen.
Das hier ist die Bühne des Hill Auditorium in Ann Arbor. Auf der Bühne stehen die Berliner Philharmoniker und lassen sich beklatschen. Sie haben gerade Mahlers 7. Sinfonie abgerissen. Ich hab die Combo vorher noch nie live gesehen und … naja … es ist schon seltsam, ausgerechnet für ihr Gastspiel in Michigan zum ersten Mal Tickets zu haben. Ich mochte schon vorher ein paar andere Sachen von Mahler, die Rückert-Lieder, das Adagietto aus der 5. Sinfonie. Die 7. kannte ich nicht, hab sie mir aber vor dem Konzert häufiger angehört, um mehr von der Musik zu kapieren. Das hat sehr geholfen; viele der Themen sind nach einiger Gewöhnung sogar ziemlich eingängig und Pop auf ne gewisse Art.
Ins Hill Auditorium passen angeblich 3500 Leute, der Laden war ausverkauft, vor der Abendkasse standen die Studierenden in langen Schlangen im Schnee, um auf kurzfristige Covid-Absagen zu hoffen. Wer geht zu den Berliner Philharmonikern? Nun. Zum einen Menschen, die irgendwann ab dem 3. Satz unwiederbringlich eingeschlafen sind. Wirklich. Es liegt an einem Mix aus mangelnder Vorbereitung und langen Arbeitswochen. Nur so ne Vermutung, ich weiß es nicht genau. Fest steht: Ich habe an diesem Abend viele Kombinationen aus geschlossenen Augen und halbgeöffneten Mündern gesehen. Ein Jammer.
Dann ein Wort zur Demografie: Vor mir leuchteten viele graue Häupter. Sie gehörten zu längst verrenteten Intellektuellen mit verfeinertem Musikgeschmack. Und dann: junge Menschen bis zum Abwinken. Kinder reicher Leute, nicht selten in Fernost aufgewachsen. Sie alle studieren hier an der Uni und haben eine rosige Zukunft vor sich. Darüber hab ich neulich mit einem berühmten Persönlichkeitspsychologen gesprochen. Seine Daten ergeben, dass die intelligenten und fleißigen Kids aus den wohlhabenden Familien ziemlich gute Chancen auf sehr gute Noten haben. Tja, wer hätte das gedacht? Genau diese Kinder sitzen an diesem Abend im Hill Auditorium und summen im Kopf heimlich die Linien der Oboen mit.
Als wir den Konzertsaal verlassen – die Philharmoniker haben astrein abgeliefert – hat Schneefall eingesetzt, der Wagen steht zehn Blocks entfernt und wir werden tüchtig eingeseift.
Tags zuvor noch lange gearbeitet. Am Abend gehen wir in einen Laden in Downtown namens „Live„. Dort spielt eine Band, die ich sehr mag. Sie nennen sich „Jive Colossus„, eine Art Santana-Band mit stilprägendem Bläsersatz. Man muss einfach tanzen dazu. Und genau das machen die Leute auch. Ich bin mit meinen 53 eindeutig in der jüngeren Hälfte des Publikums. Da tanzen Menschen, die sich allem Anschein nach schon so manches Gelenk haben ersetzen lassen. Sie tanzen in Paaren, sie tanzen allein, mancherorts wird geflirtet, als läge die Bachelorprüfung noch weit in der Zukunft. In der Ecke kippt einer der Pensionäre halb vom Sessel; er hatte zur Happy Hour schon manches Getränke und dann vermutlich zu starkes Gras geraucht.
Was noch? Ach so! Die Wahlen sind vorbei. Die Gouverneurin wurde wiedergewählt. Vor den Wahlen hat sie mir täglich Wahlkampfsachen zugemailt, keine Ahnung warum. Jetzt hat sich mich – wieder per Mail – daran erinnert, dass am Donnerstag Thanksgiving ist. Ich soll darüber abstimmen, welchen Truthahn sie begnadigen soll. „The winning name will be announced this Monday.“ Ich kann’s kaum erwarten.
Hab dieser Tage meine Gitarre umgestimmt: Alle Saiten einen halben Ton tiefer, nur die G-Saite nicht. Man hätte auch nur die G-Saite einen Halbton höher stimmen können, klar, aber dabei gehen wegen der hohen Spannung viele G-Saiten kaputt und das behagt mir nicht.
Jedenfalls ist so eine umgestimmte Gitarre immer eine interessante Intervention. Sie zwingt dazu, mit den Fingern ungewöhnliche Dinge zu tun. Die neuen Akkorde entstammen dann eher dem Zufall und der Intuition und weniger einer rationalen Harmonielehre, sie erwachen wie von selbst und so entsteht die Chance, einem bislang verborgenen Teil der eigenen Seele einen neuen Ausdruck zu geben. Ein neues Lied. Ich schreibe es und nehme es auf und höre es an. Beim ersten Mal denke ich: Aha, ein Song über eine Fahrt an die See. Beim zweiten Mal denke ich jedoch: Ein Song übers Sterben. Interessant.
Ansonsten versperrt die Bahn gerade überall die illegalen Fußwege über die Gleise nach Chicago. Mal sehen, ob sie damit Erfolg haben.
Musste dann beim Spaziergang mit dem Hund an eine Folge aus unserem Audible-Podcast „Sag mal, du als Psychologin“ denken. Mich erreichen dazu immer wieder Anfragen von Hörern und Hörerinnen. Und diesmal ging die Erinnerung um eine Anekdote, die ich in unserer Folge zum Thema „Lampenfieber“ geteilt habe.
Und zwar. Spiele ich ja seit Ewigkeiten Tischtennis im Verein und mache auch Ligaspiele mit und all sowas. An diesen Wettkämpfen hab ich über die Jahre aber immer mehr die Freude verloren. Denn ich wurde dabei immer extrem nervös und habe zunehmend schlechter gespielt.
Seit etwa einem Jahr hab ich dazu aber einen neuen Gedanken, der vieles für mich verändert hat. Er besagt: Ich allein kann diese Sportart nicht ausüben. Ich brauche wen, der mitspielt. Dieser Mensch auf der anderen Seite der Platte ist in diesem Moment mein bester Freund. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mit mir spielt. Wenn er einen guten Ball schlägt, dann freu ich mich darüber, als wär ich sein Trainer. Ich coache meine Gegner inzwischen, während ich mit ihnen spiele. Ich habe den Gedanken von Konkurrenz und Gegnerschaft verwandelt in einen Gedanken von Gemeinschaft. Das hat mir viel Freude am Sport zurückgegeben.
Es läuft wie mit der offen gestimmten Gitarre: Auf den ersten Blick schwäche ich mich selbst. Ich coache meinen Gegner. Ich stimme die Gitarre so, dass die mühsam erlernten Griffe keine schönen Akkorde mehr ergeben. Ich muss neue Griffe erlernen, damit es schön klingt. Aber es verändert das ganze System und bringt wie von selbst die Freude am Lernen und am Spielen zurück.
Aber es gibt auch Schatten. So bei einem Erlebnis hier in Michigan, wo dieser Tischtennistrick nicht gezogen hat. Ich habe gegen jemanden gespielt, der aus einem Kriegsgebiet kam. Das ist mir erst nach unserem Spiel aufgefallen. Schon beim Warmspielen habe ich gemerkt, wie alle Freude des Miteinanders, alle gute Energie den Raum verließ. Es hat keinen Spaß gemacht und war kein schönes Spiel. Später hab ich mit ihm geredet und ihm dabei in die Augen geblickt. Ich habe noch nie solche Augen gesehen. In ihnen war kein Leben und keine menschliche Verbindung. Da war nichts. Es war sehr unheimlich. Ich habe nicht nachgefragt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mann schlimme Dinge erlebt und vielleicht auch schlimme Dinge getan hat. Mein Instinkt hat mir geraten, mich besser von ihm fernzuhalten und ich bin diesem Rat gefolgt.
Als Student habe ich einmal politische Reden aus dem Deutschland der späten 1920er Jahre analysiert. Häufig bestand die Quelle aus den Mitschriften der heimlich anwesenden Polizei. Sehr oft stand am Ende der Vermerk, dass die Leute im Saal nach der Rede immer lauter diskutiert und sich danach ordentlich geprügelt haben. Es war eine gewalttätige Gesellschaft. Viel gewalttätiger als unsere Gesellschaft heute. Denn fast alle jungen Männer hatten hundertfach den Tod gesehen und selbst den Tod heraufbeschworen über andere. Sowas wird man nie mehr ganz los.
Und in der Ukraine läuft genau dafür gerade wieder ein sehr großes Trainingslager.
Bei meinen Psilocybin-Visionen von neulich habe ich auch den Krieg gesehen und eine sehr archaische Notwendigkeit für Mauern, Wälle und Waffen, um nicht gefressen zu werden. Ich würde gerne schreiben, dass es bestimmt einen Weg gibt, nie wieder kämpfen zu müssen und nie wieder Krieg zu haben. Aber in diesen Tagen glaube ich nicht mehr daran. Es ist alles so viel älter als wir selbst.
Liebe ist eine gute Antwort. Was für ein Satz. Man braucht so viel Glück, um ihn sagen und sehen und leben zu können.
Diese Blätter hier gehören zu einem Tulpenbaum. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt, aber wir hatten Besuch von einer Frau, die sich damit auskennt. Seither sehe ich diese Blätter überall. Sie gefallen mir. Ich finde sie schön.
Generell unterhalte ich mich viel mit Menschen und bin in den meisten Dingen, die ich tue, eher schnell und hochdrehend. Seit meinem Pilztrip vom vergangenen Wochenende fühle ich häufiger das Bedürfnis, mich nicht zu unterhalten und langsam zu sein.
Gleichwohl am Lagerfeuer einen Mann getroffen. Plötzlich redet er auf mich ein und hört nicht mehr auf. Er ist Mitte 70 und man merkt, dass er selten wen hat, dem er was erzählen kann. Die Rente in den USA reicht vielen nicht, um davon zu leben. Er aber war seit je ein umtriebiger Kerl, also ist er nach Kiew gezogen, als er die 60 hinter sich hatte. Dort kostet alles nicht viel, sagt er. Man kann Dinge kaufen für kleines Geld und sie dann für mehr Geld an Leute in Amerika weiterverscherbeln. So wird ein Schuh aus allem und man lebt.
Die Stadt sei ganz toll, so erzählt er. Die Architektur, der Fluss, die Parks. Auch die Frauen. Jaja, auch das. Es hört niemals auf. Trotzdem. Die ganze Sache war eher eine Hassliebe. „Ich bin ohne Ende beklaut worden. Aus meinem Laden sind Sachen weggekommen. Bestimmt zwanzig Mal.“
Dann der Krieg. Ein paar Blocks weiter ging die erste Rakete runter. „Ich habe den Blitz gesehen und die Erschütterung unter meinen Füßen gespürt.“ Der Einschlag – er schaut nach am Folgetag – hat wohl ein ordentliches Loch geschlagen. „In den Nachrichten hieß es dann: ,Wir haben ein russisches Flugzeug über der Stadt abgeschossen, deshalb kam da was runter.‘ War aber alles gelogen. Wird eh viel gelogen dieser Tage. Wir erfahren kaum, was wirklich abgeht da drüben.“
Danach hat er zwei Koffer gepackt, ein paar Klamotten, die Zahnbürste, die wichtigsten Wertsachen. „Den Rest hab ich dort gelassen.“ Der Weg nach Hause hat mehrere Tage gedauert. Es war alles nicht lustig. Jetzt sitzt er irgendwo auf dem Land auf einem Bauernhof am Arsch der Heide. Ein kleiner Raum, in dem er schlafen kann. Ich vermute: Er hilft dafür ein bisschen mit bei der Ernte oder im Verkauf oderwasweißichwo.
Die Kinder reden nicht mehr mit ihm. „Die Mutter“, sagt er und seufzt und macht diese Quassel-Bewegung, bei der man mit dem Daumen von unten gegen die anderen Finger der flachen Hand schlägt. Düsteres Zeug danach über Wiedergeburt, Nostradamus, Hunger, Gewalt, die Unverbesserlichkeit der menschlichen Natur, über Nationalseelen, die über Generationen gereinigt werden müssen und so weiter.
Tags davor haben wir eine Nachbarstadt besucht und fanden uns plötzlich in einem Laden, der Tarotkarten feilbot, indianische Kräuter, keltische Symbole, ägyptische Symbole, Utensilien zur Ausübung des Hexenhandwerks und allerhand Tüddelkram. Fränkische Klangschalen der Firma Meinl. Eine Frau war bereit, einem für 25 Dollar nähere Informationen über die eigene Zukunft zukommen zu lassen. Ich hab im Geschäft mehrere Runden gedreht und mir alles angesehen. Kein Bedürfnis nach Gesprächen mit dem Fachpersonal – aber gucken wollte ich doch. An der Wand hingen ein paar Gemälde und ich dachte sofort: „Der Typ hat doch Pilze genommen!“ Dann die Biografie des Künstlers gelesen … und in der Tat. Kann natürlich sein, dass das läuft wie mit den Tulpenbäumen. Man ist so gut darin, die Dinge nicht zu sehen, auf die man sich nicht konzentriert. Und dann, wenn man einmal drauf achtet, sind die Dinge plötzlich überall und sie waren es seit je.
Was ich aber eigentlich sagen will: In Ann Arbor verwickelt man mich häufig in Debatten über Statistik, Theorien, aktuelle Studien und all so was. Das Kognitive regiert die Stadt. Die Welt scheint dann für kurze Momente beherrschbar und berechenbar. Junge Leute arbeiten mit Computermodellen, um das Verhalten bestimmter Proteine im menschlichen Körper vorherzusagen.
Aber schon ein paar Schritte nach Westen, Osten oder sonstwohin – und man landet in einer völlig anderen Welt, in der auf einmal auch ganz andere Dinge möglich sind und zum Alltag gehören. Und am Dienstag dürfen alle darüber abstimmen, wer in den nächsten Jahren zum Beispiel Gouverneurin wird.
Coco liegt im trockenen Herbstlaub und will, dass ich endlich den Ball werfe. Sie holt mich dann immer wieder zurück in die Welt der einfachen Dinge. Fast wie bei Heine:
Da bellt Hund schon früh am Morgen und hechelt fort die deutschen Sorgen.
Für Geo hab ich mich mehrere Wochen lang damit befasst, wie Psilocybin (die Substanz in Magic Mushrooms) dabei helfen kann, die Symptome einer Depression zu lindern. Ich hab mir auch ein paar andere (quasi-)psychedelische Substanzen angesehen, mit vielen Leuten geredet, ne Depressionsklinik besucht, sehr viel gelesen, ne Menge gelernt dabei und bin inzwischen ziemlich überzeugt, dass die Methode für viele Menschen funktioniert. In ein paar Jahren wird Psilocbyin einen festen Platz in der psychopharmakologischen Therapie einnehmen, all das ist nur noch eine Frage der Zeit, und ich sehe nicht, wie das Projekt noch scheitern kann.
In Ann Arbor sind Magic Mushrooms seit Anfang 2021 dekriminalisiert. Die Polizei unternimmt nichts, wenn sie Pilze bei dir findet. Man darf die Pilze anbauen, pflegen, besitzen und konsumieren.
Ich habe bei lockeren Gesprächen jedenfalls von einem Laden in der Stadt gehört, der die Pilze verkauft. Also bin ich hingefahren, um mit den Leuten dort zu reden. Der Mann hinterm Tresen heißt Dave. Er reagiert völlig entspannt und offen, als ich ihn nach der Sache frage. Tatsächlich: Einige der Produkte liegen ganz unversteckt in der Glasvitrine neben der Kasse. Er sagt, dass mehr als 300 Menschen regelmäßig vorbeikommen, weil die Pilze ihnen helfen. Viele sind depressiv, leiden an einer Angststörung oder an PTSD. Dave sagt, dass er bisher nur von einer Kundin gehört hat, für die die Pilze nichts gebracht haben, obwohl sie wohl mit mehreren Dosierungen experimentiert hat. Man muss dazu sagen: Die großen klinischen Studien, die bisher vorliegen, erzielen deutlich weniger hohe Erfolgsquoten. Aber dort arbeitet man auch unter verschärften Bedingungen, die mit dem Alltag von Patientinnen und Patienten relativ wenig zu tun haben. Zudem verwendet man dort einen synthetischen Wirkstoff. Manche Leute sind skeptisch, ob man damit dasselbe erreicht wie mit den Pilzen selbst. Nun. Das mag alles so oder so sein.
Jedenfalls hab ich meine Geschichte geschrieben, ohne jemals selbst eine psychedelische Erfahrung gemacht zu haben. Ich möchte das gerne ändern. Nicht, um eine Depression zu linden, sondern aus Neugier. Dave erzählt mir ein bisschen davon, wie die Sache bei ihm funktioniert. Er verfügt über diverse Gerätschaften, um die Pilze auf ihren Wirkstoffgehalt zu untersuchen. Am Ende gibt er mir ein Stück Schokolade, das genau ein Gramm getrockneter Pilze enthält. „Die Pilze selbst schmecken nicht besonders gut. Viele mögen die Schokolade lieber“, sagt er.
Ich frage ihn, ob er sich keine Sorgen macht, irgendwann Ärger zu kriegen. Denn die Dekriminalisierung deckt den Handel mit Pilzen nicht ab. Er sagt: „Bisher ist es gutgegangen, und wir helfen so vielen Menschen, die ansonsten keine Hilfe kriegen. We are doing the right thing.“ Ein tapferer Kerl ist das, so viel steht schon mal fest. Ohnehin. Ich hab in den vergangenen Monaten mit relativ vielen Menschen gesprochen, die was mit der psychedelischen Renaissance zu tun haben. Die sind sich in vielen Dingen überhaupt nicht einig – aber alle sind sehr davon überzeugt, das komplett Richtige zu tun. Pilze sind für sie eine Berufung und vor so was hatte ich schon immer Respekt. So fahre ich jedenfalls durch die Sonne zurück nach Hause.
Heute Morgen hab ich dann die Schokolade gegessen. Sie schmeckt wie Schokolade. Sehr cremig. Man schmeckt nicht, dass da noch mehr drin ist.
Alle Menschen mit Erfahrung haben mir vorher ein paar Dinge eingeschärft: Die Pilze allein machen den Job nicht. Die unmittelbare Umgebung rührt kräftig mit an der Seelenrezeptur. Und wie Du gerade drauf bist, das schmeißt auch noch ein paar Zutaten mit ins Ragout. „Set und Setting“. Jaja.
Ich habe mich also vorbereitet: Die Lebensgefährtin gefragt, ob sie meine Sitterin sein will, also aufpassen, falls mich die Panik überfällt und ich dumme Sachen machen will und so weiter. Sie hat zugestimmt, was mich mit großem Dank erfüllt. Der Typ aus dem Trüffel-Shop in den Niederlanden meinte: „Dafür fragst Du am besten wen, dem Du komplett vertraust.“ Gut so. Gut so. Nicki war da während des Trips und es gab ein paar Momente, wo mir das sehr geholfen hat.
Dann die Musik. Einige der besten frühen Psilocybin-Studien der neueren Generation kommen von der Johns Hopkins University. Die haben ihren Freiwilligen während des Trips eine Playlist auf die Ohren gegeben. Es gibt auch Studien dazu, ob womöglich eine weniger westlich orientierte Playlist in einer Therapie zu besseren Ergebnissen führt. Antwort: Es ist relativ egal. Vielleicht braucht man am Ende eine personalisierte Musikauswahl, man weiß das aber nicht so genau. Ich jedenfalls lade mir auf Spotify die Klassik-Playlist der Johns-Hopkins-Leute herunter und stelle dann mein Handy auf Flugmodus.
Dann die Schokolade. Ich setz‘ mir eine Augenbinde auf, weil mich die Geister der Innenwelt viel mehr interessieren als die womöglich lustigen Effekte der äußeren Wahrnehmung. Dann stell ich die Musik an und lege mich ins Bett.
Ich hatte während der Reise einen Audiorekorder mitlaufen und bin schon gespannt, was ich unterwegs alles erzählt habe. Werde in den kommenden Tagen mehr darüber schreiben.
Jetzt schon mal ein paar grobe Dinge aus der Vogelperspektive.
Mir war die ganze Zeit ein bisschen schlecht. In Amsterdam haben sie neben jeden Coffeeshop nen Waffelladen gesetzt. Das läuft mit Pilzen nicht. Man will womöglich kotzen, aber sicher nicht essen.
Körperlich fühlt es sich lange an wie ein Mix aus „sehr betrunken“ und „39,8 Grad Fieber“.
Die erste Stunde war alles andere als schön. Die englische Überschrift über meine Visionen lautet: „Being food“. Ich habe sehr, sehr viele sehr große Zähne gesehen. Jetzt: Mitgefühl mit allem, was gegessen wird.
Ich hatte extrem tiefe emotionale Phasen, die sich in atemberaubenden Tempo abgewechselt haben. Nicht alle Emotionen waren drin in dem Mix. Längst nicht alle. Aber anders als MDMA hat der Pilz irrsinnig viele Gesichter.
So ein Trip ist keine sehr soziale Veranstaltung. Man ist erstmal allein. Auch hier: ganz anders als MDMA.
Immer wieder Zorn auf die Musik. Auf große Terzen, dann auf das Fehlen von Terzen, auf Holzbläser, Blechbläser. Tiefe Erkenntnisse über die harte Arbeit des Flötenspiels und die Intonation im Orchester. Arme, arme Holzbläser. Nicki sagt: „Du hast sooo viel über Musik geredet.“ Später mehr.
Und dann: Krieg. Kampf. Mauern, um das Böse fernzuhalten. Sterben. Überleben. Feuer. Es war alles nicht schön. Aber es musste sein.
Ich hatte eine Reihe von Erkenntnissen. Jede Erkenntnis sagt: „An mir kommt ab jetzt niemand mehr vorbei.“ DAS ist das BESTE an der ganzen Sache. Auch hier: später mehr.
So. Ich bin noch immer in der Ausklingphase. Ich hatte nur ein Gramm, eine Hasenfußdosis für Anfänger. Drei Gramm sind ein erwachsener Trip, nach allem, was man mir so erzählt, und in der Depressions-Behandlung arbeiten sie auch mit viel höheren Dosen.
Der Pilz ist keine sanfte Droge. Er schont nicht. Er ist nichts, was ich zum Vergnügen machen würde. Aber er öffnet Türen. Die Türen führen tiefer nach unten, als ich im Alltag steigen kann. Manche führen auch nach oben. Bin froh, dass ich dabei war.
Es gab diesen einen Moment, wo die ganze Last abgefallen ist in einem großen Gelächter. Und all das war wahr zugleich in diesem Augenblick: Das Elend war wahr. Das Gefressenwerden war wahr. Der Kampf gegen das Monster war wahr – und das Gelächter über mein Leben als Mensch war wahr und dass alles schwerelos ist und wunderbar leicht.
Jetzt schnapp ich mir den Hund und dann machen wir einen Spaziergang.
Ach ja: Die bunten Bilder aus den psychedelischen Filmen, wo sich Dinge verformen und krassen Farben kriegen – davon hab ich Null mitbekommen. Im Gegenteil. Wenn die Bilder im Inneren zu heftig waren, dann hab ich die Augenbinde abgenommen und in den Garten geschaut und dort war es schön und friedlich und alles sah aus wie immer.
Am 8. November steigen hier in den USA die so genannten Halbzeitwahlen (Midterms). Habe jetzt durch Zufall mitbekommen, dass der gepfefferte Wahlkampf sogar schon die Welt der Gewürze erreicht hat. Und zwar ging das so: Nicki kauft viele ihrer Gewürze online von einem Hersteller namens Penzeys. Ich habe gestern mit einem Kumpel gesprochen, der sein Geld mit gewürzten Lebensmitteln verdient. Er sagt: Die Gewürze von Penzeys haben eine unerreichte Qualität. Vor Jahren hat er selbst seine Gewürze von dort bezogen. Irgendwann hat die Firma aber aufgehört, ihre Waren in großen Mengen an andere Unternehmen zu verkaufen. Man kriegt jetzt nur noch die kleinen Packungen für den Einzelhandel, für ihn ist das natürlich viel zu teuer. Er hat das sehr bedauert.
Jedenfalls verkauft Penzeys jetzt eine neue Gewürzmischung mit dem Namen „Outrage“. Für Nicki war das zunächst ein privater Insider-Gag. Denn wir haben eine Reisebegleitung: Piglet. Manchmal kocht Piglet Pasta für uns wie im Bild unten. Meist aber geben wir Piglet eine eigene Stimme und üblicherweise ist der Sprechmodus purer „Outrage“: Piglet kriegt mit Piepsstimme einen Wutanfall nach dem anderen und endet jede Tirade mit dem Satz: „It’s outrageous!“
Albern. Aber lustig. Und eine erprobte psychologische Intervention: Ein Gedanke belastet uns –> wir sprechen ihn laut aus in einer Piepsstimme –> wir können uns besser von diesem Gedanken distanzieren und hören auf, sozusagen dieser Gedanke zu sein.
Jedenfalls freuen wir uns über dieses Gewürz. Erst als wir das Kleingedruckte auf dem Label lesen, fällt uns auf, dass es hier nicht um Spaß geht, sondern um etwas Größeres.
„Die fortlaufenden Bestrebungen der Republikaner, die Demokratie zu beenden, ist empörend“, heißt es dort. „Wann hört eine Partei auf und wann beginnt Faschismus? Wenn die guten Leute aufhören, wütend zu sein. Eure Liebe ist stark; nutzt sie, um die Empörung am Leben zu halten.“
Das sind Sätze, wie ich sie auf einer kommerziellen Gewürzverpackung bisher selten gelesen habe. Nicki schickt mir bald darauf den aktuellen Newsletter, den Bill, der Besitzer des Würzunternehmens, an seine Kundschaft verschickt. Offenbar hat Bill vergangene Woche folgende Botschaft verschickt: „Don’t be mean. Don’t vote Republican.” Er hat anscheinend ein paar scharf gewürzte Antworten von konservativer Seite erhalten. Jetzt schreibt er: Wer Republikaner wählt, ist „nicht mehr mit der wirklichen Welt verbunden“. Und weiter: „Es liegt jetzt am Rest von uns, unsere Meinung zu sagen, solange unsere Stimmen noch gezählt werden. Am 8. November haben wir die Möglichkeit. Sorgt dafür, dass jeder, den ihr kennt, einen konkreten Plan dafür hat, auch hinzugehen. Nehmt sie im Auto mit, wenn es sein muss. Diese Wahl zählt wirklich.“
Im Wikipedia-Eintrag des Unternehmens lese ich, dass Bill Penzey schon länger politisch aktiv ist. Zum Beispiel hat er im Januar 2022 das „Martin Luther King Jr. Day sale weekend“ in „Republicans are racist weekend“ umgetauft. Angeblich hat er dadurch auf einen Schlag 40.000 Kundinnen und Kunden verloren – dafür aber aus dem anderen Lager 30.000 neue Leute dazugewonnen. Auf einer konservativen Anti-Penzeys-Seite habe ich eine Angabe gefunden, wonach er durch seine politischen Äußerungen seinen halben Jahresumsatz eingebüßt hat. Der Eintrag dort stützt sich auf einen „anonymen Insider“. Kann sein, dass die Zahl frei erfunden ist, man weiß es einfach nicht.
Ich glaube ja noch immer dran, dass man im Prinzip mit den meisten Menschen reden kann. Penzeys Aktion wird hier in Ann Arbor weithin beklatscht, sie scheint mir insgesamt aber eher spaltend zu wirken.
Wir haben „Outrage“ jedenfalls auf unsere gedämpften Maiskolben gestreut und es hat sehr gut geschmeckt und dem Mahl einen gewissen Kick verliehen.
Amerika ist ein Versprechen. Man steigt ins Auto und fährt los, und der Ort, an dem man dann irgendwann rauskommt, ist nicht mehr von dieser Welt, sondern ein verzaubertes Nirgendwo, an dem endlich alles gut wird.
Und so lädt mich Nicki in ihren Wagen und wir fahren nach Norden. Im Radio läuft Van Morrison. „Into the Mystic“. Soundtrack für ein Wochenende.
Michigan gehört zum Mittleren Westen. Man denkt spontan: „Aha, Maisfelder!“ Stimmt aber gar nicht. Jetzt im Herbst sieht weiter nördlich alles so aus, wie uns die Kalenderverlage in Deutschland den amerikanischen Indian Summer verkaufen wollen.
Ohnehin hilft ein Blick auf die Landkarte: Michigan besteht aus zwei Halbinseln, von denen ich die obere (die praktisch zu Kanada gehört, was man aber nicht laut sagen darf), nie persönlich gesehen habe. Die untere Halbinsel kann man sich vorstellen wie Jütland, aufgepumpt auf dreifache Größe. Überall drumrum Wasser. Sehr viel Wasser. Allein der Lake Michigan ist größer als Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zusammen. „Ein Meer aus dem man trinken kann“, hab ich mal vor Jahren für ne Frauenzeitschrift formuliert, und das war nicht gelogen.
Wir fahren in ein Städtchen namens Elk Rapids, das zwischen zwei Seen liegt. Dort hat ein Freund seine Bleibe gefunden und uns eingeladen.
Die Holzhäuser an den Küstenorten sehen manchmal aus wie die Sommerhäuser in Dänemark, die kleinen und mittelgroßen Seen, von denen es viele gibt, erinnern mich an Schweden, die Fjorde am großen Lake Michigan ans südliche Norwegen. Oben auf der „UP“, der Upper Peninsula, leben die Nachfahren finnischer Malocher, die dort unter übelsten Bedingungen Kupfer aus der Erde gebuddelt haben. Jawohl! Im Norden ist Michigan wie Skandinavien, aber mit mehr bunten Ahornbäumen.
Zum offenen See hin liegt eine berühmte Dünenlandschaft, die „Sleeping Bear Dunes“. Unser Gastgeber sagt, dass der Name von einer alten Legende der Ureinwohner stammt. Eine Bärin soll mit ihren zwei Welpen über den See geschwommen sein. Sie hat es geschafft, mit letzter Kraft und sich erschöpft an den Strand gelegt, sie schlief ein und wurde zur Düne. Draußen im See liegen zwei unbewohnte Inseln: Ihre Kinder, für die der Weg ans Land irgendwann zu weit wurde. Man kann sich heute mit dem Boot hinüberfahren lassen und dort campen.
Wir stapfen vom Parkplatz aus über die Dünen zum Wasser.
Der Strand sieht aus wie bei uns an der Ostsee. Rechts das Land in der Ferne: Das ist eine der beiden Bärenkinder-Inseln.
Es ist wahnsinnig windig und regnet ab und zu. Aber uns geht’s gut.
Ein bisschen weiter mit dem Wagen kommen wir dann an eine noch größere Düne. Es fällt steil ab zum Wasser hin und angeblich muss man regelmäßig Leute von dort unten bergen, die’s aus eigener Kraft nicht mehr durch den Sand zurückschaffen. Ein großer Spaß für die ganze Familie.
Doch, herrje, in den Staaten klebt noch am Trip hinein ins Mystische ein Preisschild. 3000 Dollar kostet die Rettung vor dem Tod durch Ertrinken.
Später wandern wir noch durch ein Naturschutzgelände, auf dem früher ein Sommercamp für Kinder und Jugendliche stand. Heute erinnern nur noch ein paar verlassene Apfelbäume und ein paar Gedenkschilder an den Ort. Weiter in die Hügel rostet unter den Ahornbäumen ein Motor, der früher einen kleinen Skilift angetrieben hat. Ja, hier hat in den 1960ern tatsächlich jemand ein rustikales Skiresort betrieben. Doch es verschwand wie viele andere Etablissements dieser Art. It was worth a shot, I guess. Alles ist im Wandel, alles ein Traum vom großen Wurf, doch die Träume fruchten nicht. Der Wald holt sich am Ende alles wieder.
In Elk Rapids steht ein Kunstpark unten an der East Bay. Manche Schilder dort zeigen den Weg zu einer friedlicheren Welt. Erstmal mit sich selber klarkommen, lautet die Botschaft. Das ist, wir wissen es alle: schwer genug.
Eine Eulenstatue symbolisiert Weisheit. Viele Menschen setzen sich hier oben zur Ruhe. Aber die Grundstücke am Wasser kosten wohl ein Schweinegeld.
Am Abend gehen wir in eine örtliche Brauerei, wo sie echt sehr gute Biere zapfen und auch ein paar Kleinigkeiten verkaufen, die man Essen kann. Sie haben, weil’s kühl und windig ist, den Food Truck in den Schankraum gezogen. Im Fernsehen läuft College Football. Wir haben zuvor im Radio (auf der Mittelwelle) den Sieg von Michigan gegen Penn State mitverfolgt. Interessant, mit welchen Metaphern Sportkommentatoren arbeiten. Man „nimmt Zeit von der Uhr“, lässt „den Gegner ausbluten“, eine klassische Angriffsformation nennt sich „die Schrotflinte“ und so weiter. Aber nach erstem Kopfschütteln versteht man dann doch das eine oder andere vom Spiel und ich bekomme Respekt vor dem, was die Jungs draufhaben und wie makellos das Kollektiv manchmal funktioniert. Eigentlich ein Wunder, dass das in der Sowjetunion nie groß geworden ist. Stattdessen: Kugelstoßen. Die Welt ist manchmal verrückt.
Man könnte einfach dort oben wohnen, ein kleines Segelboot dabei. Eine Angel, womöglich. Und seine Geschichten schreiben. Solche Sachen kommen einem dann in den Kopf. Ist natürlich Quatsch.
Aber mein Kopf (und ja, mon dieu! ich sag’s einfach mal so: meine Seele) ist wieder gefüllt mit Geschichten, mit einer inneren Verbindung zur Welt, zur Natur, zur menschlichen Sehnsucht nach Erlösung. Hat mit gefehlt die letzten Wochen.
Und das liegt, klar, zum Teil an meiner Begleitung. Aber auch an dieser sehr eigenartigen Gegend oben in Michigan. Bin froh, dass ich mal dort gewesen bin.
Im November wird in Amerika abgestimmt. Und zwar über ne ganze Menge. Ich hab nachgezählt: In unserem Teil von Ann Arbor entscheiden die Menschen über 26 verschiedene Ämter, Verfassungszusätze und dergleichen. Eine der wichtigsten Wahlen bestimmt, wer die nächste Gouverneurin von Michigan wird. Das ist wie bei uns Ministerpräsidentin von … sagen wir mal: Rheinland-Pfalz. Sechs Personen bewerben sich für das Amt. Hat mich überrascht, ich dachte immer, es wären nur zwei – je eine Person für die beiden großen Parteien. Aber nein! Auf dem Wahlzettel steht auch wer von der „Libertarian Party“ (sehr liberal), von den „US Taxpayers“ (religiös-konservativ), von den Grünen und von „Natural Law“, einer Partei, die auf die Kraft der transzendentalen Meditation setzt.
Vergangene Woch nun lief im Fernsehen die Debatte der beiden wichtigsten Kandidatinnen. Auf der einen Seite: Gretchen Whitmer von den Demokraten, die Amtsinhaberin.
Auf der anderen Seite: Tudor Dixon für die Republikaner, sie wird unter anderem von Donald Trump unterstützt.
Sorry für die miesen Fotos.
Mir sind während der Sendung ein paar Dinge aufgefallen. Ich wollte eigentlich noch viel mehr schreiben, aber man verzettelt sich schnell dabei. Die Kurzfassung lautet so: Mir war klar, dass es schlimm wird, aber es war alles noch viel schlimmer. Hier die wichtigsten Punkte, so rein subjektiv gesprochen:
1. Die beiden Kandidatinnen tun nicht mal so, als würden sie miteinander oder mit dem Moderator sprechen. Alle Ansagen gehen einfach direkt in die Kamera. Das ist im Grunde keine Debatte, sondern eine Serie von sorgsam vorbereiteten Werbeansagen. Sehr seltsam. Haben wir so ein Format im deutschen Fernsehen? Ich glaube nicht.
2. Keine der beiden Kandidatinnen kümmert sich um die Fragen des Moderators. Sie hauen einfach das Statement raus, das ihr Team ganz grob zum jeweiligen Thema ausgearbeitet hat. Seine Fragen sind zum Teil sehr präzise gestellt. Wird alles ignoriert. Ich habe Teile eines 1:1-Live-Podcasts gesehen, den Dixon dem Reporter Charlie LeDuff in Detroit gegeben hat. Das war viel härter und viel riskanter als das hier (und hat ihr auch ne Menge Ärger eingebracht, wie man zugeben muss).
3. In mehreren Statements sagen Whitmer und Dixon, dass die jeweilige Rivalin im Grunde nicht mehr ist als eine dreckige Lügnerin.
4. Sowohl Whitmer als auch Dixon würzen ihre Statements mit völlig lächerlichen Positionen, die die jeweils andere Kandidatin angeblich vertritt, mit bescheuerten oder empörenden Plänen, die dort angeblich in der Schublade liegen usw. Es ist alles ganz unglaublich und ich schäme mich, während ich zusehe.
5. Ironischerweise wird Punkt 3 dadurch weniger unwahr, als einem lieb sein kann.
6. Whitmer wirkt in manchen Momenten recht emotional. Bin mir nicht sicher, ob ihr Team glücklich darüber ist.
7. Dixons Wangen sind während der Debatte nie gerötet. Sie moderiert selbst die übelsten Sachen mit eisernem Fernsehlächeln in die Kamera. Nicht sympathisch, aber professionell.
8. Whitmer wird die Wahl vermutlich gewinnen. Sie hat den Bonus der Amtsinhaberin und führt deutlich in den Umfragen. Dixon vertritt außerdem eine ziemlich radikale Position in der Abtreibungsdebatte, was ihr vermutlich schadet.
9. Ich sehe die ganze Veranstaltung mit ausgesprochen gemischten Gefühlen. Der TV-Sender ist offenbar in keiner starken Position, sondern auf Knien dankbar, dass die beiden Kandidatinnen überhaupt erscheinen. So jedoch geht Demokratie in die Tonne. So geht’s nicht weiter. Aber wie kommt man von da wieder weg? Von einem Stil, in dem’s reicht, die politische Gegnerin als das Böse auf Beinen darzustellen? Ich weiß es auch nicht. Aber ich bin enttäuscht.
Demnächst poste ich nette Bilder von den Landschaften hier. Denn wir waren gerade im Norden von Michigan und es ist super schön dort. Die Leute sind auch freundlich, man kann mit allen reden. Das versöhnt mich dann wieder.
Kapitel 1 Gestern war William wieder bei uns für einen Kochabend. Ich hab’s schon mal gesagt: William kocht am besten! Heute will ich mich auf nur eins der Gerichte beschränken. William schneidet dafür grüne Bohnen (in diesem Fall sind sie gelb) in sehr feine Ringe.
Danach kommen sie für ein, zwei Minuten mit etwas Öl in die Pfanne, bis sie bereits angegart, aber noch bissfest sind. Danach fügt William zwei verquirlte und gewürzte Eier hinzu. So wird daraus bald ein kurioses Omelett.
Ich hab’s heimlich getestet: Schon in diesem Stadium kann man das sehr gut essen. Ein Butterbrot dazu – Mittagessen! William geht aber noch ein paar Schritte weiter! Er legt ein halbes Omelett auf ein Nori-Blatt …
… um anschließend etliche Dinge hinzuzufügen. Vorher hat er mit seiner Mandoline ein paar Radieschen gehobelt, gesalzen und in Apfelessig eingelegt. Diese Radieschen kommen jetzt aufs Omelett, dazu auch ein paar fein geschnittene Stifte aus frischen Radieschen.
Danach noch allerhand Grünzeug: großblättriger Rucola, dazu eine mir unbekannte Pflanze aus der Familie der „Mustard Greens“, die eine gewissen herbe Schärfe mit in den Mix bringt. Darüber streut William knusprigen Reis, den er vorbereitet hat. Gibt der Sache eine tolle Textur. Die Sache mit dem Grünzeug ist ein Experiment. Ansonsten greift William zu einem Pesto aus Minze, Basilikum, Rucola, Knoblauch, Olivenöl, Salz, etwas geriebenem Apfel und Zitronensaft. Wär vielleicht NOCH besser gewesen.
Jetzt wird daraus eine Sushi-Roll!
Ein scharfes Messer zerteilt die Rolle in appetitliche Fingerhappen.
Da nicht alle Gäste gerne scharf essen, hat William das Sushi sehr mild gehalten. Man kann da natürlich noch alle möglichen Schweinereien mit reinkippen und dazu diverse Tunken und Soßen servieren, wie man das auch sonst beim Sushi macht. Es schmeckt sehr frisch und hat eine wunderbare Textur. Und wie gesagt: Die Sache mit dem Bohnenomlett kann man sich eh mal merken! So lecker! Es ist jedesmal wieder ein Lernabenteuer erster Kajüte!
Kapitel 2 Ansonsten übe ich dieser Tage viel mit Kai, der in der Schule Deutsch lernt. Dabei ist mir aufgefallen: Dativ und Akkusativ muss man bei Nicht-Muttersprachlern ganz anders erklären, als man uns das in der Grundschule erklärt hat. Es gibt Gründe, warum „Deutsch als Fremdsprache“ ein eigener Studienschwerpunkt ist. Mal wieder die alte Erkenntnis: Der Teufel steckt im Detail und das merkt man erst, wenn man’s mal selber gemacht hat.
Zwischendurch lockere ich unsere Stunden mit traditionellem Kulturgut auf und lasse meinen gelehrigen Schüler Zeilen aus der deutschen Lyrik auswendig lernen. Man weiß nie, wofür man’s nochmal braucht. In dieser Woche: Max & Moritz. Seither höre ich regelmäßig den Ausruf. „Ach, die bösen Kinder!“ Und natürlich das folgende – unsterbliche – Zitat, aus dem sich mit jugendlichem Elan auch der eine oder andere Klo-Witz zimmern lässt:
3. Kapitel Hab dieser Tage noch ein bisschen Zeit auf eine größere Geschichte verwendet, die ich für die Leute von „Geo“ geschrieben habe. Dabei hatte ich unter anderem Kontakt mit einem Professor aus Europa, der – wie es der Zufall wollte – auch mal ne Weile hier in Michigan gearbeitet hat. Er schreibt: „Oh Mann, Herbst ist die beste Zeit in Ann Arbor!“ Und er hat völlig recht damit. Die schönen Blätterfarben kommen, die Sonne scheint, die Luft ist ganz wunderbar.
Man denkt als alte Kartoffel zu selten darüber nach. Aber: Ist es nicht eh phantastisch, dass wir so was wie Jahreszeiten haben? Ehrlich, jetzt mal! Im Garten haben sich derweil neue Freunde gefunden. Eine Hirschkuh und ein wilder Truthahn fressen sich gemeinsam ihren Winterspeck an. So schön, wenn man gut miteinander auskommt, oder?
Sogar Coco duldet die beiden gnädig. Naja. Zumindest manchmal. Sie jagt dann lieber den Ball, den wir ihr werfen. Sie liegt dieser Tage oft im Garten, reckt die Nase in die Höhe und schnuppert, was der Herbst so bringt. Auch sie findet: Es ist die beste Jahreszeit von allen!
4. Kapitel Neulich waren wir bei einem „progressive dinner“ eingeladen. Man geht dann für jeden Gang in einen anderen Garten, den großzügige Gastfamilien für einen geöffnet haben. Jeder bringt was mit, es geht einfach um die Gemeinschaft. Dann stellt man sich zu wildfremden Leuten und fragt: „Und, was machst du so?“ Hab ne Menge gelernt dabei. Zum Beispiel, wie man in der Soziologie „Vermögen“ misst (es ist kompliziert und keine Methode perfekt), welchen Einfluss Zarathustra auf die Gedanken von Platon hatte, woher man in Michigan „Magic Mushrooms“ kriegen kann, mit welchen mathematischen Methoden sich Musik analysieren lässt und warum die Power der Künstlichen Intelligenz maßlos überschätzt wird. Und dann war da noch das Thema Immanuel Kant. Nicki und ich haben erst am Vormittag in einem Gespräch festgestellt, dass ich im Grunde Kantianer bin. Jetzt auf dem progressive dinner gerate ich doch glatt in ein einstündiges Gespräch über den Begriff der Subjektivität bei Kant. Und das auf ne Art, die ich mir in Tübingen auch sehr für mein Studium gewünscht hätte. Die Philosophie-Professorin sagt sinngemäß: Man versteht den alten Kant im Englischen tendenziell besser als im Deutschen, weil das Englische eine andere Form von Klarheit erzeugt. Kürzere Sätze und all so was. Im Deutschen ist Kant nicht immer leicht zu verstehen. „Aber Hegel war schlimmer!“, sagt sie.
Was ich mit all dem sagen will: Hier in der Stadt steht hinter jedem Busch ein Nerd. Es ist ganz unglaublich. Ich genieße das sehr, auch wenn mir klar ist, dass das ein elend privilegiertes Leben ist und mit dem Rest der Welt nicht immer sehr viel zu tun hat.
5. Kapitel Und das bringt mich zwanglos zum Traum der vergangenen Nacht. Da ist genau diese Welt nämlich untergegangen. Und zwar so richtig. Wenn ich mir jetzt so die Nachrichten ansehe, mit Inflation, Krieg, Klima, Corona und all den wachsenden Spannungen überall, dann … tja. Vielleicht macht sie gerade ja wirklich genau das. Es wäre elend schade drum.
We use cookies on our website to give you the most relevant experience by remembering your preferences and repeat visits. By clicking “Accept”, you consent to the use of ALL the cookies.
Diese Website benutzt Cookies. Wenn du die Website weiter nutzt, gehen wir von deinem Einverständnis aus.
This website uses cookies to improve your experience while you navigate through the website. Out of these, the cookies that are categorized as necessary are stored on your browser as they are essential for the working of basic functionalities of the website. We also use third-party cookies that help us analyze and understand how you use this website. These cookies will be stored in your browser only with your consent. You also have the option to opt-out of these cookies. But opting out of some of these cookies may affect your browsing experience.
Necessary cookies are absolutely essential for the website to function properly. This category only includes cookies that ensures basic functionalities and security features of the website. These cookies do not store any personal information.
Any cookies that may not be particularly necessary for the website to function and is used specifically to collect user personal data via analytics, ads, other embedded contents are termed as non-necessary cookies. It is mandatory to procure user consent prior to running these cookies on your website.