bookmark_borderEin Kessel Buntes – die TV-Sonntags-Nachrichten in den USA

Heute mal wieder die NBC-Abendnachrichten geguckt. Und zwar aufmerksamer als sonst, weil mir mein Kumpel Dirk dieser Tage ein paar Gedanken über die Rolle der alten Medien in der Pandemie geschickt hat. Außerdem hab ich ja während der ersten Corona-Welle schon mal nen Blogbeitrag über die NBC-Nachrichten geschrieben. Damals ging’s tüchtig auf den Wahlkampf zu, es war entsprechend eine sehr politische Nachrichtensendung mit sehr viel harter Recherchepower dahinter. Wie sieht das alles heute aus? Nun. Es sieht viel, viel weniger politisch aus. Washington hat praktisch gar keine Rolle gespielt. Klar. Ist auch die Wochenendausgabe. Möglich aber auch, dass man der Biden-Administration bei NBC deutlich weniger auf die Füße tritt, als das noch bei Trump der Fall war. Hier jedenfalls die Beiträge. Bitte festhalten!

Am Anfang kommt ne Geschichte über ein Feuer in New York. Ein schlimmes Feuer. Menschen sind dabei gestorben. Trotzdem. Es war ein Feuer. In einem Haus. Das war in den Augen der Redaktion das wichtigste Ereignis des Tages. Auf der ganzen Welt. Hm.

Dann: Corona. Natürlich. Die Story: Es gibt so viele Fälle, dass jetzt überall die Leute fehlen, um die Arbeit zu machen. In Kalifornien hat man deshalb drastische Maßnahmen beschlossen: Wer im Krankenhaus beschäftigt ist und positiv auf Covid testet, zugleich aber keine Symptome hat, soll einfach weiter zur Arbeit kommen. Ohne Test. Ohne Quarantäne. Ohne gar nix. Das ist auf jeden Fall interessant. Supermarktregale sind leer, weil keiner mehr da ist, um die Neuware einzuräumen. In den Apotheken bilden sich lange Schlangen, weil zu wenig Personal die Tabletten rausrückt. Die Schulen schalten auf Online-Unterricht, weil zu viele Lehrkräfte ausfallen und so weiter. Schlimm.

Dann nochmal Corona. Mit der Statistik der CDC stimmt was nicht: Die meisten Leute, die als Krankenhaus-Corona-Fälle gemeldet sind, werden eigentlich wegen ganz anderer Dinge behandelt. Sie sind nicht an, sondern mit Covid erkrankt. Sozusagen. Auch interessant.

Dann endlich Politik: die Russland-Krise in Osteuropa und wie die amerikanische Außenpolitik darauf reagieren will. Die Botschaft: Putin ist ein gefährlicher Kerl, aber wir haben die Sache im Griff. Es gibt nämlich „tough talks“ (siehe das Foto ganz oben). Beruhigend.

Dann nochmal Corona – diesmal aber mit einer Überleitung in die bunte Ecke der Nachrichten: Djokovic in Australien. Kann er spielen? Kann er nicht spielen? Seltsame Geschichte.

Dann nochmal Corona. Die Schülerinnen und Schüler – ihr Unterricht findet vielerorts wieder online statt. Eine Reporterin redet mit einigen von ihnen. Alle sagen: Sie mögen es nicht. Hm.

Jetzt wird’s endlich bunt: Ein paar arglose Bürger in Wisconsin waren beim Eisangeln, dann hat sich die Eisscholle gelöst, auf der sie standen. Ein Boot musste sie retten. Puh, die Sache ist gerade nochmal gut gegangen.

Dann gab es ein geplatztes Wasserrohr unter einem Sessellift. Menschen wurden verletzt. Kurios.

Schließlich noch die herzerwärmende Story eines Polizisten, der sich in seiner Freizeit als Captain America verkleidet, um Kindern eine Freude zu machen.

Unterm Strich: Sehr viel Buntes, sehr viel Unterhaltung. Anders als Heute Journal und Tagesthemen: kein aktueller Sport, kein Wetter, viel weniger nationale und internationale Politik. Im Grunde war das eine sehr affirmative Nachrichtensendung. Man hat hinterher das Gefühl: Ja, Pandemie und alles – aber im Großen und Ganzen geht’s uns doch super.

Kein Wort über den Präsidenten, wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Das wäre Trump nicht passiert.

Danach noch ne Folge Family Guy gesehen. Die Serie ist in vielen Staffeln ganz sensationell geschrieben. Staffel 19 jedoch ist eine Schande. Ein Abgesang. Man bettelt darum, dass endlich jemand den Stecker zieht. So. Musste mal gesagt werden.

bookmark_borderBoostern in Amerika geht dann doch leichter als erwartet

Boostern in Amerika geht dann doch leichter als gedacht. Hab ja neulich berichtet, dass ich mich in Michigan boostern lassen wollte – aber gescheitert bin. Die Behörden sagen: „Das machen wir erst sechs Monate nach der Zweitimpfung.“ Solche Sachen ziehen sie hier eisern durch. Ein Faktor, wie ich vermute: In den USA gibt’s halt nicht mehr so super viele Leute, bei denen die Impfung noch keine sechs Monate her ist. Und wegen der paar Hansel ändert man keine Bundes-Richtlinie. Sieht dann ja so aus, als wär‘ man wankelmütig! Wie gesagt: Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist. Aber der Gedanke leuchtet mir ein.

Heute waren meine sechs Monate jedenfalls vorbei. Ich hatte einen Termin bei Walgreens, das ist eine sehr große Apothekenkette hier. Man muss ein paar Online-Formulare ausfüllen, vor Ort ein paar Angaben unterschreiben, ein paar freundliche Worte wechseln, danach etwa eine Viertelstunde warten, bis alles in den Computer gefüttert ist – tja, und dann setzt man sich hinter eine spanische Wand hinten in den Ecke des Apotheken-Supermarkts (sie verkaufen da sogar Hundefutter) und kriegt seine Spritze. Es ging alles kurz und schmerzfrei. „Übung macht die Meisterin“, sagt die junge Frau im weißen Kittel. Ich nicke zustimmend.

Beim Warte-Schlendern stolpere ich fast über einen Regalaufsteller, in dem sie Covid-Tests verkaufen. Das heißt: In dem sie NORMALERWEISE Covid-Tests verkaufen. Die Tests sind nämlich alle. „Completely sold out“ – wie fast überall in der Stadt.

Das Preisschild verrät: So lange noch Tests da waren, hat man für eine Packung rund 24 Dollar abgedrückt. In einer Packung waren zwei Tests. Das scheint mir ziemlich teuer zu sein. Aber nun. Sie sind trotzdem alle weggegangen.

Ansonsten hat’s über Nacht tüchtig geschneit. Ich habe am Morgen 75 Minuten lang geschippt. Wir gehen mit dem Hund durch den Schnee, während die Sonne scheint, und es ist alles sehr schön und außerdem hat mein Vater noch Geburtstag und bei all dem kommt mir auf einmal der Gedanke, dass es vielleicht ein ganz tolles Jahr wird, dieses 2022.

bookmark_borderEin Covid-Test dauert in Michigan derzeit 45 Minuten

Ein Covid-Test dauert in Michigan derzeit 45 Minuten. Wir haben’s ausprobiert. Und zwar so:
Weihnachten ist vorbei. Menschen verlassen das Haus, andere haben es neu betreten. Und weil Omikron überall ist, fahren wir zur Teststation an der Wagner Road. Hier waren wir neulich schon mal. Diesmal jedoch ist die Autoschlange deutlich länger – sie zieht sich kreuz und quer über den gesamten Parkplatz. Hab ich schon mal erwähnt, dass es in den USA wahnsinnig viele Parkplätze gibt? Ein Parkplatzologe hat mal behauptet: Alle Straßen und Parkplätze des Landes zusammen entsprechen etwa der Fläche von West Virginia.

West Virginia ist größer als Hessen.

Jedenfalls warten hier viele Autos. Alle wollen sich testen lassen. In den Apotheken kriegt man nämlich kaum noch Tests für daheim. Der Spiegel hat heute ein großes Stück über die amerikanische „Testmisere“ gebracht. Hier auf dem Parkplatz kann man sie sehen. Ich höre Murren vom Rücksitz. Um uns die Zeit zu verkürzen, machen wir ein Spiel daraus. Wie lange dauert’s bis wir drankommen? Das Höchstgebot liegt bei 37 Minuten.

Ich zähle inzwischen die Fenster des Gewerbelagers hinterm Testzelt. Ich komme auf 40. Eine heilige Zahl. Erst danach lese ich die Aufschrift am Gebäude. Es handelt sich gar nicht um ein Lager, sondern um eine Kirche! So ergibt alles einen Sinn.

Im Zelt scannen wir unseren QR-Code, kriegen unsere Spucktests, dann Ausfahrt – fertig! Dabei lächelnd die endlose Schlange der wartenden Autos beobachten. Interessant, wie bei solchen Gelegenheit zuverlässig dieses wärmend-selbstgefällige Körpergefühl in einem aufsteigt. Man ist nicht stolz drauf und genießt es dennoch.

Am Ende verrät die Stoppuhr, dass der ganze Spaß nur knapp länger als eine Fußballhalbzeit gedauert hat.

Ansonsten haben wir keine Milch mehr im Haus. Das Brot ist auch fast alle. Also machen wir, wo wir schon mal in der Nähe sind, einen Abstecher zu Aldi. Man hätte auch noch nen Tag auf die Testergebnisse warten können. Andererseits – ein Morgenkaffee ohne Milch? Im Zweifel siegt immer die Bequemlichkeit.

In Hamburg geh‘ ich nur ganz selten zu Aldi, hier jedoch ist der Besuch immer etwas Besonderes. Alles fühlt sich dort irgendwie logischer an, gewohnter, so, wie es sich gehört. Aldi beamt mich für ein paar Minuten zurück nach Deutschland. Ganz seltsam. Es fängt schon bei den Einkaufswagen an: Man muss einen Vierteldollar einstecken, um sie auszulösen, ganz so, wie man das halt so macht. In den USA sind derlei Scherze unüblich. Deshalb haben sie über den Wagenreihen ein Schild angebracht, wo sie’s nochmal allen erklären: Mit der Münze kriegst Du den Wagen. Du bringst den Wagen wieder – Du kriegst Dein Geld zurück.

Nicki sagt: „Das ist eine schräge Regelung.“ Ich sage: „So gehört es sich.“ Genau das verstehen die Soziologen unter „Kultur“. All die Dinge, die so normal für uns sind wie Sauerstoff in der Luft. Wir denken nicht mehr drüber nach – bis wir zufällig woanders landen, wo’s anders läuft.

Ich will im Übrigen keine Werbung machen: Aber am Ende gehen wir aus dem Laden raus und haben locker 50 Dollar weniger ausgegeben, als wir für dieselben Waren anderswo gezahlt hätten.

Jetzt warten wir mal ab, was der Test so ergibt. Ich bin optimistisch.

P.S.: Lese gerade, dass wir in Michigan jetzt rund 13.000 neue Covid-Fälle pro Tag haben. So viele gab’s noch nie. Die Fallzahlen liegen rund 2,5 Mal höher als in Deutschland (auf die Gesamtbevölkerung umgerechnet). Mehr als 20 Prozent aller Tests sind derzeit positiv. Das ist viel zu viel.

Zeit für Suppen und lange Spaziergänge.

bookmark_borderIm Buchladen in Michigan stehen die Bücher über „Familie“ gleich neben den Büchern über „Horror“

Hab nach Weihnachtsgeschenken gesucht. Natürlich im Buchladen. In der hintersten Ecke die Familien- und Erziehungsbücher durchgeguckt. Erst nach ner Weile ist mir aufgefallen, dass irgendjemand die Horror-Romane gleich neben die Bücher über Familie, Pubertät und Autismus platziert hat. Spricht da Erfahrung? Galgenhumor? War es ein Versehen? Man weiß es nicht. Die Sache hat mir jedenfalls einen Moment der Heiterkeit verschafft.

Drei Läden weiter ein Schild an der Ladentür entdeckt. Da steht: Die Behörden fordern Masken nur bei Nichtgeimpften. Mir ist schon vor einigen Tagen aufgefallen, dass ein Viertel bis ein Drittel der Leute unmaskiert durch die Supermarktreihen stromern. Hat mich irritiert. Ich hab gedacht, dass „keine Maske“ und „keine Impfung“ irgendwie korrelieren. Kann sein, dass diese These trotzdem stimmt. Aber jetzt halt gelernt, dass Geimpfte tatsächlich mit nackter Nase in die Läden dürfen.

Sehr seltsam das alles. Ich hab ja kürzlich erst erzählt, dass ich trotz einiger Bemühungen vor Anfang Januar keinen Booster bekomme. Gestern dann in den Abendnachrichten gehört, dass in den USA mehr als 70 Prozent aller neuen Covid-Fälle auf Omikron zurückgehen. Die Welle kommt schneller als erwartet, und irgendwie passen all die Meldungen und die Maßnahmen nicht so richtig zusammen. Man schüttelt den Kopf.

Außerdem hab ich heute versucht, eine amerikanische Handynummer zu kriegen, weil ich nämlich für die meisten meiner amerikanischen Freunde nur schwer erreichbar bin. Ich dachte immer: Sollen se mich halt über WhatsApp anschreiben. WhatsApp hat hier aber so gut wie keiner. Man schreibt sich in der Regel einen „text“, also eine schnöde SMS. Die ist meist umsonst von US-Nummer zu US-Nummer. An eine Nummer aus Deutschland jedoch … schwierig. Neulich meinte jemand: „Hast Du eigentlich ne Ahnung, wie viele soziale Normen du mit Füßen trittst mit deiner komischen Deutschland-Nummer?“

Nun jedenfalls: Ein gebrauchtes Handy geschossen und auf die Website von Verizon gegangen. Dazu muss man wissen: Manche Handys funktionieren nur in den Netzen, für die sie konfiguriert sind. Man muss also, wenn man zu Verizon will, ein iPhone kaufen, dass speziell für Verizon ausgelegt ist. Auch seltsam.
Das Bezahlen für den Vertrag klappt erst beim dritten Versuch. Paypal wird nur akzeptiert, wenn das Konto dahinter aus Amerika kommt. Die Kreditkarte funktioniert zwei Mal gar nicht, dann zwei Mal fast – um am Ende aber immer zu scheitern. Schließlich Apple Pay. Das funktioniert. Hm. Apple Pay greift auf dieselbe Kreditkarte zu, die gerade noch durchgefallen ist. Wer denkt sich so was aus? Trotzdem natürlich Riesenjubel!

Dann kommt aber später ne Enttäuschungs-Mail angeflogen: Neeee. Ich soll mal lieber zurückrufen, der Auftrag wird vorläufig angehalten. Ich ruf also zurück (per Skype out), und dann ist es natürlich der übliche Irrsinn, bis tatsächlich mal jemand am anderen Ende rangeht. Auch da wieder langes Hin- und Her. Bis der Prozess schließlich abbricht, weil ich nämlich keine amerikanische Sozialversicherungsnummer habe.

Ich so: „Dude, ich kann doch nicht der erste Ausländer sein, der bei euch einfach mal telefonieren will!“

Er so: „Nö, Leute wie dich hab ich öfter. Keine Ahnung, warum wir euch die Sache so schwer machen. Tut mir leid.“

Am Ende schreddert er jedenfalls meinen kompletten Auftrag. Ich soll bei Gelegenheit mal direkt in einen Verizon-Laden gehen und da mein Glück versuchen. „Das müsste eigentlich besser klappen.“ Tja.

Vermutlich lass ich mir damit aber noch n bisschen Zeit. In den nächsten Wochen wird’s eh nur noch wenig Sozialleben geben, wenn ich das richtig sehe. Also wieder Geld gespart.

Vielleicht kauf ich mir davon ein Buch über Autismus. Oder einen Horror-Roman.

bookmark_borderDer Advent hat noch nicht angefangen – und schon ist er vorbei

Der Hund und die Katze haben es sich gemütlich gemacht. Der Advent juckt sie nicht. Mich aber schon: Er ist vorbei, ehe er richtig angefangen hat. Ich bin bestürzt.

Woran liegt’s? Mal wieder daran, dass a) zu viel Arbeit war und ich b) so doof war, sie auch noch zu machen. Das ist eine ungünstige Kombination, wenn man sich innerlich aufs Weihnachtsfest vorbereiten will. Plötzlich sitzt man unterm Christbaum und denkt heimlich an die nur halb abgehakte To-Do-Liste. Scheiß-Kapitalismus!

Das Wetter dagegen hat letzthin mächtig den Zaunpfahl geschwungen. Gestern zum Beispiel waren die Zweige vereist, was sehr schön aussah.

Von der Brücke über dem Huron River hingen kleine Eiszapfen, als hätte das Eisengeländer einen schlimmen Schnupfen und keine Taschentücher dabei.

Und hier dasselbe nochmal flussabwärts geknipst:

Also: Kekse gebacken. Meine Mutter hat mir ein Rezept zugeschickt. Dann waren aber nicht alle Zutaten am Start. Keine Zitrone mehr im Haus. Also den Saft aus einer dieser Plastikflaschen genommen. Keine Haselnüsse da. Also ein paar Walnüsse in der Tüte kleingekloppt. Vanillin-Zucker gab’s auch nicht (was ist los mit Dr. Oetker???). Und das Mehl hier ist auch irgendwie anders als das Mehl in Deutschland. Im Moment lautet meine Faustregel, dass ich ungefähr 30 Prozent mehr Mehl reinkippen muss, um vergleichbare Ergebnisse zu erzielen. Muss mich mal schlau machen, woran das eigentlich liegt. Ausstechformen waren auch keine da. Also ein Sektglas genommen. War zu groß. Aber egal. Die Kekse sind sehr lecker geworden.


Jetzt muss ich nur noch in die Stadt, um Geschenke zu besorgen.

Omikron wird keine Welle, sondern eine Wand, hab ich heute in der Zeitung gelesen.

Hab also versucht, ne Booster-Impfung zu kriegen. Im Netz rumgemacht. Zu Apotheken gefahren. Rumgefragt. Aber es hilft alles nix. Sie boostern mich erst, wenn genau sechs Monate seit der Zweitimpfung vergangen sind. Keinen Tag vorher. Die Amerikaner sind manchmal deutscher als die Deutschen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, ich würd’s nicht glauben.

Naja.

Back ich bis dahin halt noch n paar Kekse.

bookmark_borderCoronatest in Michigan: mit Geduld und Spucke

Nach drei bis fünf Tagen, so sagen die US-Behörden, soll man sich als Einreisender testen lassen. Also machen Nicki und ich einen Termin. Wir haben uns gleich das erste Zeitfenster des Tages geben lassen. 8 bis 9 Uhr. Später soll es angeblich lange Wartezeiten geben. Mit Geduld und Spucke wird’s schon klappen.

Wie funktioniert das hier mit dem Test? Natürlich wie bei McDrive! Auf einem Parkplatz an der Wagner Road haben sie ein Zelt aufgebaut. Der ganze Prozess läuft so, dass man in keiner Sekunde das Auto verlassen muss. Also: Erstmal in die Schlange fahren. Nicki beeilt sich sehr dabei, wie man unten sehen kann. Wir sind so flink unterwegs, dass schlechterdings kein scharfes Bild zu schießen ist.

Wir haben vorher im Netz alle möglichen Daten angegeben und Dokumente hochgeladen: Perso, Krankenversicherungsnachweis usw. Wie das irgendwann mit der Abrechnung laufen soll, ist mir schleierhaft. Aber, hey, darum kümmer‘ ich mich später.

Nach sieben, acht Minuten fahren wir dann selbst ins Zelt.

Dort gibt es zwei Schalter. Man winkt uns an den hinteren der beiden. Dann den QR-Code aufm Handy zeigen, ein junger Mann reicht uns unsere Testkits durchs Fenster. Wir fahren aus dem Zelt heraus und in eine Parklücke. Überall stehen Schilder, die einem zeigen, wie der Test funktioniert.

Aha! Es handelt sich um einen Spucktest. Ich hab bisher immer nur Popeltests gemacht. Wir säubern unsere Hände mit einem Reinigungstuch, fummeln Röhrchen und Trichter aus den Plastiktüten und spucken hinein, bis das Röhrchen halbvoll ist. Interessant, wie viele Luftblasen sich dabei bilden.

Dann das Röhrchen zuschrauben und in die entsprechende Tüte packen. Alles andere kommt in die Restetüte. Fertig.

Dann ausparken, ein paar Meter weiter stehen zwei Tonnen. Eine für die Probe, eine für den Müll. Man schmeißt seine Sachen ein – fertig.

In der Folgenacht kriegen wir die Ergebnisse zugeschickt. Das heißt: eine Mail mit einem Link. Man klickt auf den Link, eine Website öffnet sich, man muss sich identifizieren und dann kriegt man sein Ergebnis. Negativ. Wie schön.

Coronatests verlaufen vermutlich überall gleich. Nur halt überall ein klein wenig anders. Hier läuft es wie beschrieben. Auch mal interessant.

Heute, am achten Tag nach meiner Ankunft, werde ich zum ersten Mal in geschlossenen Räumen Menschen treffen, die nicht Nicki sind. Freu mich schon sehr drauf.

Was ist sonst so los?

In Michigan hat ein 15-jähriger Junge an seiner Highschool vier Mitschüler erschossen. Die Story ist seit Tagen Aufmacher in den Abendnachrichten. Die Staatsanwältin will die Eltern des mutmaßlichen Schützen drankriegen wegen fahrlässiger Tötung. Ich glaube nicht, dass sie damit durchkommt, trotzdem werden durch die Berichterstattung viele Menschen über Verantwortung reden und vielleicht kann das für die Zukunft was bewirken.

Was ist passiert? Offenbar haben die Eltern dem Jungen die Knarre zu Weihnachten gekauft. Hm. Er hat wohl aus der Schule heraus per Handy Munition bestellt, was einer Lehrkraft aufgefallen ist. Die Lehrkraft hat die Eltern verständigt. Die Mutter schreibt ihrem Jungen daraufhin: „Lol. Ich bin nicht sauer auf Dich. Du musst lernen, Dich nicht erwischen zu lassen.“ Puh. Dann hat wohl eine andere Lehrkraft Zeichnungen des Jungen gefunden, in dem eine Knarre, Patronen und Tote zu sehen sind – und daneben die Worte „überall Blut“ und „die Gedanken hören nicht auf, helft mir“. Man hat die Eltern wohl darüber informiert, aber weder haben die Eltern den Jungen aus der Schule rausgeholt, noch hat ihn die Schule nach Hause geschickt. Auch seltsam. Später am selben Tag hat er dann das Feuer eröffnet.

Die Eltern haben sich auch im Anschluss nicht wirklich mit Ruhm bekleckert. Sie haben wohl eine Vorladung bekommen, sind dann aber nicht erschienen, sondern haben sich irgendwo in Detroit in einem Gewerbegebäude versteckt, wo die Polizei sie gestern aufgestöbert hat. Wie gesagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Eltern verurteilt werden. Auch die ganzen Rechtsexperten hier sagen, dass die Anklage sehr, sehr ungewöhnlich ist. Man regt sich aber trotzdem drüber auf.

Die ganze Sache mit den Schusswaffen hier ist für mich eh nur sehr schwer zu verstehen.

…………………

Eine Kleinigkeit noch aus dem kleinen, privaten Leben. Nicki hatte ein Paket von HelloFresh im Kühlschrank. Das haben wir gestern zubereitet. Ich hab so was noch nie gemacht und bin, glaub ich, von meinen Werten her auch nicht die richtige Zielgruppe dafür. Interessant war’s trotzdem.

Das Konzept von HelloFresh geht so: Sie schicken Dir genau die Zutaten, die Du für ein bestimmtes Rezept brauchst. Genau abgemessen, zum Teil schon vorgeschnitten. Sie überbrücken sozusagen den halben Weg vom geschriebenen Rezept zum Kochtopf. Wie IKEA, nur halt für Essen. Oder wie ne Backmischung von Dr. Oetker, aber mit mehr eigener Arbeit.

Die Botschaft auf der Tüte ist interessant. Sie sagen: „Was wir hier tun, ist gut für die Welt, weil keine Lebensmittel mehr weggeschmissen werden. Wir packen Dir exakt das ein, was Du tatsächlich brauchst.“ Das stimmt. Andererseits: Weil viele Zutaten trotz kleinster Mengen in Plastik verpackt sind, fällt ganz sicher viel mehr Müll an, als wenn man seine Sachen wie üblich im Supermarkt kauft.

Das Rezept ist idiotensicher beschrieben. Handwerklich gut gemacht, würde ich sagen. Viele nehmen das selbstverständlich, aber in meinen Jahre bei verschiedenen Frauenzeitschrift hab ich gelernt, dass Kochrezepte kein banales Genre sind. Man kann dabei ne Menge falsch machen, weshalb ich ein gutes Rezept durchaus zu würdigen weiß.

Am Ende ist das Essen gelungen, wir hatten tatsächlich keine Reste und geschmeckt hat es auch. Außerdem fühlen wir den Stolz, etwas Gutes zumindest zum Teil selbst erschaffen zu haben. In der Verhaltensökonomie nennt man das den IKEA-Effekt: Möbel werden emotional wertvoller, wenn wir sie selbst zusammengeschraubt haben. Essen macht uns stolz, wenn wir’s selbst gekocht haben.

Nicki sagt: Die Konkurrenz von HelloFresh ist der Lieferservice, der Dir ne Pizza bringt. Das hab ich so noch nie gesehen, aber vermutlich hat sie Recht.

HelloFresh ist interessanterweise ne Firma aus Deutschland. Zuletzt hatte sie aber schlechte Presse, weil die Arbeitsbedingungen zumindest hier in den USA angeblich unterirdisch sind und die Firma sich sehr dagegen sträubt, dass die Angestellten sich gewerkschaftlich organisieren.

Ich glaube nicht, dass ich Fan davon werde.

bookmark_borderOmikron und alles hält den Atem an

Am Samstag kamen die ersten Meldungen zu Omikron. Da war ich noch bei meinen Eltern in Süddeutschland. Freunde haben mich angeschrieben und gesagt: „Da braut sich was zusammen. Sieh zu, dass Du nach Amerika kommst.“ In Amerika wohnt meine Lebensgefährtin. Ich wollte nicht nochmal 13 Monate travel ban von Hamburg aus erleben. Also bei KLM angerufen und meinen Flug um ne knappe Woche vorverlegt. Ja, ich weiß: Es ist unglaublich, dass all diese Dinge überhaupt möglich sind. Über den Teich fliegen. Überhaupt sagen können: Ich will lieber fünf Tage früher. Alles ein Wahnsinn. Gemacht hab ich’s trotzdem.

Zwischenstopp in Amsterdam und dort meine Tochter getroffen. Hab’s sie lange nicht gesehen und sehr vermisst. Sie hat das folgende Bild aufgenommen. Sieht man mir die Freude an?

Jetzt bin ich jedenfalls wieder in Michigan. Halte mich noch fern von den Menschen, man weiß nicht, ob ich mir unterwegs was eingefangen habe. Denn das Flugzeug übern Teich war voll bis auf den letzten Platz. Was hab ich dort erlebt? Mal sehen: Neben mir saß ein Mann, der sehr viel geschlafen und dabei geschnarcht hat. Irgendwann hab ich dann nochmal zu ihm rüber geguckt. Er hat immer noch geschnarcht aber seine Augen waren offen. Auf seinem Monitor lief „The Fast and the Furios“. Er ist der erste Mensch, den ich dabei beobachte, wie er auch im Wachzustand noch schnarcht.

Dann muss man ein Wort über die Einreise sagen. Ich hab das ja schon ein paar Mal gemacht, aber es ist immer noch stressig. Weil man manchmal halt an Leute gerät, die ihren Job sehr verbissen sehen und dann muss man auf einmal sehr viele Fragen beantworten und der Ton wird von Satz zu Satz schärfer und unangenehmer. Die Beamten haben wahnsinnig viele Befugnisse und es gibt keine zwei Meinungen darüber, wer in dieser Situation das Sagen hat. Ich jedenfalls bin das nicht.

Es ist jetzt 17 Monate her, dass ich das letzte Mal aus Europa direkt in Detroit gelandet bin. Und dort dann – huch! Wo sind die ganzen Maschinen geblieben? Sonst musste man immer an irgendwelche Geräte gehen, die wie Geldautomaten aussahen. Ausweis scannen, Boarding Card, Fingerabdrücke, Grund der Einreise, das ganze Programm. Dann wieder in der Schlange stehen und schließlich: das Einzelinterview, also die Sache mit den Fragen. Manchmal waren’s nur drei, manchmal waren’s 20 oder 30.

Diesmal aber: keine Datenautomaten mehr. Mehr Schalter offen. Kürzere Schlangen. Es ging alles wahnsinnig schnell. Der Beamte hat mir zwei Fragen gestellt. Vielleicht auch drei, das weiß ich nicht mehr. Dann: „Welcome to the United States.“ Stempel in den Pass – fertig. Er wollte nicht mal meinen Impfpass sehen, auch nicht meinen negativen Covidtest. Ich musste lediglich vor dem Abflug einen Zettel ausfüllen und bestätigen, dass ich beides dabei hab. Sehr seltsam.

Jetzt sitze ich hier bei meiner Lebensgefährtin, Arbeitsbeginn irgendwann zwischen sechs und acht. Am Nachmittag ein Spaziergang runter zum Fluss. Das Licht war heute ganz abenteuerlich, der Regen hat am Vormittag den Schnee weggespült. In der Nacht hat man die Coyoten gehört. Dazu mehr am Wochenende. Bin froh wieder hier zu sein. Und Coco, die Schäferhündin, freut sich auch. Sie ist ein sehr guter Hund.

Dieser Satz wird nicht gut altern, aber ich schreib ihn trotzdem auf, weil man solche Sachen im Nachhinein gerne vergisst: Mit der neuen Variante scheint alles möglich zu sein. Omikron ist da und alle halten den Atem an. Vielleicht verändert sich die ganze Pandemie. Vielleicht wird sich das Virus dadurch auch verharmlosen, hat man alles schon gesehen. Oder der Mist fängt jetzt erst richtig an. Man weiß es einfach nicht. Und so richtig vorstellen kann man es sich eh nicht. Also tun wir einfach so, als wär‘ bald Weihnachten wie immer.

bookmark_borderPandemie und Emotion

Gerade habe ich auf Facebook dies hier geschrieben:

Einmal mehr brauche ich Eure Hilfe. Vor etwa einem halben Jahr habe ich hier eine kleine Umfrage gemacht: Wie fühlt Ihr Euch in der Pandemie. Welche Emotionen kommen da bei Euch hoch?

Zufriedenheit?
Neugier?
Angst?
Traurigkeit?
Dankbarkeit?
Liebe?
Wut?
Verzweiflung?
Hoffnung?
Vorfreude?
… ?

Mir ist aufgefallen, dass mein Gefühlshaushalt sich in den vergangenen sechs Monaten sehr verändert hat. Anfangs in den USA fand ich das Ganze noch spannend. Inzwischen bin ich wieder in Europa. Ich sehe Freunde, gelegentlich meine Kinder; Eltern und Geschwister und deren Familien habe ich getroffen. Das war schön. Trotzdem. Ich vermisse meine Lebensgefährtin, die noch immer in Michigan sitzt. Ein paar Leute dort drüben, die auch zu Freunden geworden sind. Irgendwas ist immer. Das Land dort drüben ist, wie man hört, in keinem guten Zustand. Aber welches Land ist das schon?

Die anfängliche Neugier in der Pandemie ist bei mir fast komplett weg. An guten Tagen stehe ich auf, mache meine Arbeit und gehe am Abend zum Sport. Ich tu dann so, als wär nix. Das ist keine sehr originelle Strategie. Andere tun das auch. Das habe ich von Ernst-Dieter Lantermann gelernt, einem Sozialpsychologien, den ich vor einiger Zeit mal für Psychologie Heute interviewt habe (das komplette Interview findet sich hier – leider nur hinter eine Bezahlschranke; wer ein Abo hat, kann es kostenlos lesen). Lantermann hat vor vielen Jahren mal Leute für ein Experiment per Computersimulation in hoffnungslose Situationen getrieben. Viele von denen haben dann so reagiert: Statt das große Ganze zu retten, haben sie sich nur ein winziges Detail herausgegriffen und nur noch daran gearbeitet – dies aber mit besessener Gründlichkeit. Um sie her ging alles den Bach runter. Sie haben das einfach ausgeblendet. Aber diese eine Schraube, an der sie gefeilt haben, die war am Ende perfekt!

Ansonsten überkommen mich düstere Ahnungen, was die Zukunft betriff. Also: für alle. Mir fehlen im Übrigen die Dinge, auf die ich mich freuen kann. So weit von meiner Seite.

Meinen Blogeintrag von damals findet Ihr übrigens hier: Er war, wie fast alles, was ich damals gebloggt habe, als eine Art Flaschenpost gedacht an die Menschen, die wir morgen sein werden. Damit es möglich wird, sich später einigermaßen korrekt zu erinnern. Erinnerung ist flüchtig und trügerisch. Man vergisst und verdreht, ohne es bewusst zu wollen.

So.

Bin gespannt auf Eure Antworten.

bookmark_borderWas bedeutet „Zusammenglück“?

Als Kalifornien gerade mal nicht brannte – aus der Luft sah man nördlich von San Francisco nur noch zwei, drei Aschehaufen kokeln – und als auch das Virus dort noch nicht richtig angekommen war, da bin ich immer mal wieder Yukiko Uchida begegnet, die sich gerade als Fellow an der Stanford University aufhielt. Sie hatte ihr Büro auf demselben Professoren-Zauberberg wie meine Lebensgefährtin. Mittagessen gab’s hinter den Fenstern, an denen die Luftschlangen hängen.

Yukiko kommt aus Japan, bei einem dieser Mittagessen hat sie mir von ihrer Arbeit erzählt. Sie ist Psychologie-Professorin und erforscht, wie glücklich die Menschen in verschiedenen Gegenden der Welt sind. Was ich besonders bemerkenswert fand: Unsere westliche Vorstellung von Glück, so sagt sie, spielt in Japan kaum eine Rolle. Damit kann man dort wenig anfangen.

Das hat mich sehr interessiert. Wollen die Japaner nicht glücklich sein? Komische Vorstellung.

Einige Wochen später habe ich dann für Psychologie Heute ein längeres Interview mit Yukiko gemacht. Der Großraum San Francisco war da schon im Lockdown, wir sprachen also per Zoom. Und dabei ging es vor allem über den Begriff der „interdependent happiness„, über den Yukiko eine Reihe von Studien publiziert hat. Ich habe dafür das deutschen Wort „Zusammenglück“ gewählt.

„(Zusammenglück) erlebt jemand, der glaubt, dass es den Menschen in seinem Umkreis gutgeht. Dass sie einen wertschätzen. Wenn man das Gefühl hat, dass man die Menschen in seinem Umfeld ein bisschen glücklicher macht. Dass man im Alltag keine allzu großen Ängste empfindet. Und dass man seine Ziele verfolgen kann, ohne anderen damit zu schaden.“

Yukiko Uchida in Psychologie heute #10/2020

Vereinfacht gesagt: Wenn wir im Westen glücklich sind, geht es uns vor allem um uns selbst. Nicht so sehr um die anderen. In Japan geht es viel mehr um die anderen. Und erst dann um uns selbst.

Damit kann ich eine Menge anfangen. Ich will nicht behaupten, Japaner zu sein. Aber ich bin in einem Bauerndorf in der Nähe von Karlsruhe aufgewachsen (heute ist es kein wirkliches Dorf mehr, sondern fast eine Kleinstadt). Und auch dort galt die unausgesprochene Regel, dass die Familie im Zweifel wichtiger ist als man selbst, der Clan wichtiger als die Familie – und das Dorf wichtiger als der Clan. Ich bin meiner Herkunft nach also Kollektivist. Und jetzt mal unter uns gesagt: So was wird man sein Leben lang nicht mehr los.

Yukiko glaubt jedenfalls, dass unser westliches Glückskonzept dann besser funktioniert, wenn die Dinge gut laufen. Es schafft mehr Kreativität, mehr Risikobereitschaft – und deshalb auch mehr Wirtschaftswachstum. In großen Krisen, so meint sie, funktioniert die japanische Variante aber besser. Weil wir während der Pandemie oder im Klimawandel nur kollektiv klarkommen werden. Zusammenglück gelingt, so glaubt Yukiko, „indem man permanent darüber nachdenkt, wie gut es den anderen gerade geht. Nicht nur immer ‚ich, ich, ich‘.“

Das komplette Interview mit ihr ist gerade in der Oktober-Ausgabe von „Psychologie Heute“ erschienen.

bookmark_borderWarum Joe Biden die Wahl gewinnt – Besuch bei Gerd Gigerenzer

Vergangene Woche war ich in Berlin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, um Gerd Gigerenzer zu treffen. Er war dort 20 Jahre lang Direktor und ist einer der bekanntesten Psychologen Deutschlands, ach was: der Welt.

Wir haben viel gelacht, auch ein paar Streitpunkte entdeckt und ansonsten über alles Mögliche geredet: Sex, Drugs, Rock’n’Roll, Innovation, psychologische Theorien, ein wenig Klatsch – und natürlich auch über die anstehende Präsidentschaftswahl in den USA.

Gerd Gigerenzer – das muss man vorausschicken – ist ein Freund von Heuristiken. Er sagt: In der Welt gibt es Risiko und Ungewissheit. Risiko meint: Man weiß nicht, wie’s ausgeht, aber man kennt die statistischen Wahrscheinlichkeiten. Beim Würfeln ist das so. Beim Roulette. Sogar beim Schach.

Und dann gibt es noch die Ungewissheit. Die herrscht überall dort, wo man auch nicht weiß, wie’s ausgeht, aber auch die Wahrscheinlichkeiten nicht kennt. Etwa, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen, oder weil das Kräfteverhältnis dieser Faktoren sich permanent ändert, weil die Welt von morgen vielleicht nach anderen Regeln läuft als die Welt von gestern und dergleichen mehr. Das ist zum Beispiel in der Finanzwelt der Fall.

Gigerenzer glaubt: Wenn man die Situation einigermaßen kennt („Risiko“), fährt man am besten mit Big Data, mit Machine Learning und komplizierten Modellen. Wenn die Situation aber chaotisch ist („Ungewissheit“), braucht man einfache und robuste Modelle, so genannte Heuristiken, also Faustformeln, die man leicht verstehen und nachvollziehen kann.

Wir alle erinnern uns an die Wahlprognosen aus dem Jahr 2016. Damals haben alle Modelle einen Sieg für Hillary Clinton vorhergesagt. Gerd Gigerenzer hat mich jetzt auf einen Typen hingewiesen, der damals korrekt auf Trump getippt hat. Und der auch bei allen anderen Präsidentschaftswahlen seit den 1980er Jahren richtig lag. Der Typ heißt Allan Lichtman und ist Historiker. Die Details seiner Prognose für 2020 findet man hier in einem Video der New York Times.

„Lichtman arbeitet nicht mit Big Data, sondern mit einer einfachen Heuristik“, sagt Gigerenzer. Genauer: Lichtman hat 13 „Schlüssel zum Weißen Haus“ identifiziert. Jeder Schlüssel ist eine einfache Aussage, die man mit „wahr“ oder „falsch“ beantworten kann. Wenn sechs oder mehr dieser Aussagen „falsch“ sind, verliert der Kandidat der Regierungspartei.

Ulkig: Den Anfang für Lichtmans Arbeit machte eine ungewöhnliche Begegnung. Lichtman wurde von einem russischen Forscher angesprochen, der bis dahin Erdbeben-Vorhersagen gemacht hatte. Und genau so funktioniert auch Lichtmans Heuristik. Stabilität ist gut für die Regierung. Zu viel Unruhe gleicht jedoch einem Erdbeben – sie reißt ein, was ist und fordert etwas Neues. Naja. Zumindest in der Tendenz.

Jedenfalls prophezeien Lichtmans „Schlüssel zum Weißen Haus“ derzeit: Trump wird verlieren, Biden gewinnen. Und wenn man genauer hinschaut, merkt man: Schuld daran sind weder Trumps Lügen noch Bidens Mitgefühl. Sondern in erster Linie Corona. Ohne die Pandemie hätte Lichtmans Heuristik einen Sieg des Amtsinhabers vorhergesagt. Tja. So kann’s gehen. Zufall regiert die Welt.

„Laut Lichtman gewinnt Biden“, sagt Gerd Gigerenzer. „Falls Trump nicht noch einen Krieg anzettelt. Denn dann sind die Amerikaner geschlossen hinter ihm.“

Man lernt immer was, wenn man interessanten Leuten begegnet.