Metzger’s Michigan Monday #7

Diese Blätter hier gehören zu einem Tulpenbaum. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt, aber wir hatten Besuch von einer Frau, die sich damit auskennt. Seither sehe ich diese Blätter überall. Sie gefallen mir. Ich finde sie schön.
Generell unterhalte ich mich viel mit Menschen und bin in den meisten Dingen, die ich tue, eher schnell und hochdrehend. Seit meinem Pilztrip vom vergangenen Wochenende fühle ich häufiger das Bedürfnis, mich nicht zu unterhalten und langsam zu sein.
Gleichwohl am Lagerfeuer einen Mann getroffen. Plötzlich redet er auf mich ein und hört nicht mehr auf. Er ist Mitte 70 und man merkt, dass er selten wen hat, dem er was erzählen kann. Die Rente in den USA reicht vielen nicht, um davon zu leben. Er aber war seit je ein umtriebiger Kerl, also ist er nach Kiew gezogen, als er die 60 hinter sich hatte. Dort kostet alles nicht viel, sagt er. Man kann Dinge kaufen für kleines Geld und sie dann für mehr Geld an Leute in Amerika weiterverscherbeln. So wird ein Schuh aus allem und man lebt.
Die Stadt sei ganz toll, so erzählt er. Die Architektur, der Fluss, die Parks. Auch die Frauen. Jaja, auch das. Es hört niemals auf. Trotzdem. Die ganze Sache war eher eine Hassliebe. „Ich bin ohne Ende beklaut worden. Aus meinem Laden sind Sachen weggekommen. Bestimmt zwanzig Mal.“
Dann der Krieg. Ein paar Blocks weiter ging die erste Rakete runter. „Ich habe den Blitz gesehen und die Erschütterung unter meinen Füßen gespürt.“ Der Einschlag – er schaut nach am Folgetag – hat wohl ein ordentliches Loch geschlagen. „In den Nachrichten hieß es dann: ,Wir haben ein russisches Flugzeug über der Stadt abgeschossen, deshalb kam da was runter.‘ War aber alles gelogen. Wird eh viel gelogen dieser Tage. Wir erfahren kaum, was wirklich abgeht da drüben.“
Danach hat er zwei Koffer gepackt, ein paar Klamotten, die Zahnbürste, die wichtigsten Wertsachen. „Den Rest hab ich dort gelassen.“ Der Weg nach Hause hat mehrere Tage gedauert. Es war alles nicht lustig. Jetzt sitzt er irgendwo auf dem Land auf einem Bauernhof am Arsch der Heide. Ein kleiner Raum, in dem er schlafen kann. Ich vermute: Er hilft dafür ein bisschen mit bei der Ernte oder im Verkauf oderwasweißichwo.
Die Kinder reden nicht mehr mit ihm. „Die Mutter“, sagt er und seufzt und macht diese Quassel-Bewegung, bei der man mit dem Daumen von unten gegen die anderen Finger der flachen Hand schlägt. Düsteres Zeug danach über Wiedergeburt, Nostradamus, Hunger, Gewalt, die Unverbesserlichkeit der menschlichen Natur, über Nationalseelen, die über Generationen gereinigt werden müssen und so weiter.
Tags davor haben wir eine Nachbarstadt besucht und fanden uns plötzlich in einem Laden, der Tarotkarten feilbot, indianische Kräuter, keltische Symbole, ägyptische Symbole, Utensilien zur Ausübung des Hexenhandwerks und allerhand Tüddelkram. Fränkische Klangschalen der Firma Meinl. Eine Frau war bereit, einem für 25 Dollar nähere Informationen über die eigene Zukunft zukommen zu lassen. Ich hab im Geschäft mehrere Runden gedreht und mir alles angesehen. Kein Bedürfnis nach Gesprächen mit dem Fachpersonal – aber gucken wollte ich doch. An der Wand hingen ein paar Gemälde und ich dachte sofort: „Der Typ hat doch Pilze genommen!“ Dann die Biografie des Künstlers gelesen … und in der Tat. Kann natürlich sein, dass das läuft wie mit den Tulpenbäumen. Man ist so gut darin, die Dinge nicht zu sehen, auf die man sich nicht konzentriert. Und dann, wenn man einmal drauf achtet, sind die Dinge plötzlich überall und sie waren es seit je.
Was ich aber eigentlich sagen will: In Ann Arbor verwickelt man mich häufig in Debatten über Statistik, Theorien, aktuelle Studien und all so was. Das Kognitive regiert die Stadt. Die Welt scheint dann für kurze Momente beherrschbar und berechenbar. Junge Leute arbeiten mit Computermodellen, um das Verhalten bestimmter Proteine im menschlichen Körper vorherzusagen.
Aber schon ein paar Schritte nach Westen, Osten oder sonstwohin – und man landet in einer völlig anderen Welt, in der auf einmal auch ganz andere Dinge möglich sind und zum Alltag gehören. Und am Dienstag dürfen alle darüber abstimmen, wer in den nächsten Jahren zum Beispiel Gouverneurin wird.

Coco liegt im trockenen Herbstlaub und will, dass ich endlich den Ball werfe. Sie holt mich dann immer wieder zurück in die Welt der einfachen Dinge. Fast wie bei Heine:
Da bellt Hund schon früh am Morgen
und hechelt fort die deutschen Sorgen.