bookmark_borderDie Welt ist seit je ein rätselhafter Ort

Meine Kindheit: Samstag war der Tag der Pflichten. Wir nahmen sie hin wie das Wetter. Jawohl! Schließlich war es nicht elterliche Willkür, sondern ein NATURereignis, dass jemand den Bürgersteig zu fegen hatte, die beschmutzten Schuhe der Familie zu putzen, besudelte Waschbecken und Toiletten auf neuen Glanz zu schrubben. Lag da etwa kein Staub auf den Bücherregalen der Kinderzimmer und der Teppichboden seit ganzen sieben Tagen ungesaugt zu unseren Füßen? Außerdem gab es allerhand Gartenarbeit, wucherte ungebetenes Pflanzenzeug aus den Ritzen zwischen den Bodenplatten hinterm Haus, hatte sich Straßendreck auf Fahrradfelgen abgesetzt – und schließlich warteten vier greise Großeltern darauf, dass ihnen irgendwer das gewohnte Pfund Aufschnitt aus einer der beiden Dorfmetzgereien brachte.

(Anmerkung beim nochmaligen Drüberlesen: „Greise Großeltern“ trifft es nur so halb. Meine jüngste Oma war zum Zeitpunkt der nun folgenden Szene genau so alt, wie ich heute bin.)

Das mit dem Aufschnitt begann für mich schon im Kindergartenalter. Das weiß ich deshalb, weil ich den Bestellzettel der Großmutter bei meinen ersten Einkaufstouren noch nicht lesen konnte.

Die Türen beider Metzgereien waren zudem schwergängig, meine Kräfte jedoch begrenzt. Ich musste also immer darauf warten, dass ein größerer Mensch, als ich einer war, entweder aus der Metzgerei nach draußen kam oder von außen in den Verkaufsraum eintreten wollte. So öffnete sich die Tür. Ich huschte durch den geöffneten Spalt wie ein Eichhörnchen und stellte mich in die Schlange (!). Irgendwann gab mir eine der Verkäuferinnen (fast immer waren es Verkäuferinnen) ein Zeichen und sprach mich an. Offenbar war jetzt die Zeit gekommen, die Wurst zu kaufen. Ich reichte ihr meinen Zettel nach oben, sie musste sich weit über die Theke beugen, um das Papier zu erreichen. Sie nahm den Zettel, las die erste Zeile laut vor, schnitt Aufschnitt auf, las die nächste Zele, holte das Kammrippchen für meinen Opa aus der Ablage und folgte auch sonst allen geheimen Anweisungen, die meine Großmutter zuvor in saubersten Zeichen dem Papier anvertraut hatte. Die Verkäuferin packte am Ende alles in eine Tüte und reichte mir die Tüte nach unten. Ich packte die Tüte in meine Einkaufstasche und gab der Frau im Gegenzug die kleine Börse mit Klippverschluss. Die Verkäuferin holte sich heraus, was sie brauchte, dann kam der Geldbeutel zurück. Am Ende noch: ein Stück Wurst für den jungen Mann. „Ein Rädlein“ hieß die Maßbezeichnung in der Sprache des Dorfes. Von mir: ein artiges Dankeschön. Beifälliges Gemurmel der Umstehenden. „Noch so klein und kann schon einkaufen und sich bedanken!“ Danach: hörbare Erkundigungen über meine Abkunft, Mutmaßungen über die generelle Tüchtigkeit meiner Sippe und so weiter und so fort. Manchmal öffnete jemand die Tür für mich. Es war alles ein Geben und Nehmen. Abgang.

Ich hatte überlebt.

In die größere Metzgerei ging ich damals nur ungern, weil die Gestaltung des Innenraumes es schlechterdings nicht zuließ, dass die Menschen dort eine sichtbare Warteschlange bildeten. Es war ein einziges Durcheinander und das überforderte mich. Das Spiel in der anderen Metzgerei war schon kompliziert genug. Ich mied den großen Laden, so gut ich konnte.

Was ich mit all dem sagen will: Ich erinnere mich noch gut, was für ein rätselhafter Ort die ganze Welt für mich war. Alles war unbekannt und vieles gefährlich. Man machte dabei eine MENGE falsch. Das wiederum wusste ich genau, denn die Erwachsenen sagten es mir regelmäßig. Manchmal sagten es mir auch die Gegenstände. Die schweren Türen; die unerreichbaren Sachen in hohen Regalfächern; die komplizierten Mechanismen; die stürzenden Gläser; die Schnürsenkel, die keine Schleife werden wollten; die geheimen Zeichen, die auf Zetteln standen.

So.

Und damit komme ich zu meinem Punkt.

Die Welt ist in Wahrheit: noch immer ein rätselhafter Ort. Ich verstehe sie nicht. Am Wochenende hab ich mal wieder eine Fortbildung gemacht. Es ging um eine randständige und überwiegend vergessene Methode aus der Psychologie. Am Ende wusste ich weniger als davor. Oder besser: Mir ist wieder klargeworden, dass ich EIGENTLICH viel weniger weiß, als ich immer denke. Dass Sprache ein Rätsel ist. Dass Gefühle ein Rätsel sind. Ebenso die Empfindungen des Körpers. Dass der Raum ein Rätsel ist und die Zeit gleich ganz unbegreiflich. Und dass ich – auch das ein Rätsel – ganz oft am hilfreichsten sein kann für meine Mitmenschen, wenn ich nichts weiß und nichts will. All die vielen Bücher und Seminare. Und dann: alles loslassen, alles loswerden, hinter sich stellen. Die Welt: ein rätselhafter Ort. Und wir: rätselhafte Wesen, die darin überleben.

Ich hoffe, es gelingt uns noch ne Weile.

bookmark_borderIch bekomme nicht genug!

Heute geht’s um eine heftige Selbsterkenntnis. Und die kam so.

Im Mai hab ich bei einem Institut aus London eine Coaching-Ausbildung angefangen. Die Ausbildung dauert sechs Monate, sie kostet Geld, ich bezahle das alles selbst. Noch viel teurer wird die Sache durch das, was die BWL-Leute „Opportunitätskosten“ nennen:

  • Ich sitze im Unterricht
  • lese Bücher (die ich ansonsten nicht lesen würde)
  • lasse mich zu Übungszwecken von den Leuten in meiner Klasse coachen
  • coache wiederum zu Übungszwecken Leute aus meiner Klasse
  • besuche meine Mentoring Sessions
  • arbeite an einer neuen Website
  • poste Zeug auf Social Media
  • setze mich in den Park mit zwei Hockern und einem selbstgemalten Schild, auf dem „Free Coaching“ steht (weil’s ne gute Aktion ist und ich dabei mit Unbekannten üben kann)

Während ich das alle mache, kann ich nicht zugleich meinem Hauptberuf nachgehen. Ich muss das entweder zusätzlich machen (was Körner kostet) oder meine Arbeitszeit kürzen (was dazu führt, dass ich weniger Geld verdiene). Übrigens: Bis neulich hab ich gedacht, dass ich mein Geld mit dem Schreiben von Texten und mit Podcasts verdiene. Ein Jurist hat mich jetzt aber erleuchtet. Ich verdiene mein Geld in Wahrheit mit der „Überlassung von Nutzungsrechten“. Das Leben nimmt einem am Ende wirklich ALLES!

Jedenfalls hat mich gestern L. aus England gecoacht in unserer kleinen Zoom-Arbeitsgruppe. Ich bringe ein Thema ein, das mir Unbehagen bereitet. Eine Kleinigkeit im Grunde. Jemand schreibt mir ne Mail – ich bin genervt davon.

L: Alles klar, Jochen. Was brauchst Du jetzt von unserer Sitzung?
Ich: Ich will wissen, wie ich am besten auf diese Mail reagiere.

Also fangen wir an und reden. Nach 20 Minuten die Einsicht: Die Mail interessiert mich im Grunde gar nicht. Mich interessiert die Frage: Warum bin ich genervt? Mir fallen plötzlich mehrere kleine Momente ein aus den vergangenen Tagen und Wochen, wo mich auch etwas geärgert oder aufgeregt hat. Immer hatte ich hinterher den Gedanken: „Eigentlich solltest Du Dich in dieser Situation nicht so fühlen. Du solltest da drüber stehen.“ Es gab da sozusagen noch ein sekundäres Unbehagen, das alles noch viel, viel unangenehmer gemacht hat. Kennen vermutlich alle.

Jedenfalls bin ich am Ende unserer Sitzung zu einer Formel gekommen, um all diese Situationen aufzulösen. Offenbar laufe ich gerade durch die Gegend mit einem miesen Gedanken im Hintergrund. Der Gedanke lautet:

„Ich bekomme nicht genug.“

L: Was möchtest Du stattdessen?
Ich: Ich möchte diese Sonnenbrille mit den giftgrünen Gläsern absetzen und sie ersetzen durch eine andere Brille.
L: Was für eine Brille?
Ich: Eine andere Sonnenbrille. Sie hat gelbe Gläser. Sonnengelb.

Und zack! Die Schwere verlässt meinen Körper. Die Anspannung verfliegt. Ich möchte noch ein bisschen inneren Sommer haben. That’s it! Und ich will Menschen wieder mit mehr Liebe und Neugier begegnen. Denn das ist der Modus, in dem mir das Leben am besten gefällt. Mit Abstand am besten.

Herrje. Es klingt alles so kitschig.

Egal.

Ich sage mir jedenfalls:

Es wird schon reichen.

Brot im Brotkasten.

Zwei, drei Radieschen.

Was soll schiefgehen?

Ich werden genug bekommen.

Ich bekomme genug.

Später probiere ich es aus. Interessant: Ich muss mich darauf konzentrieren. „Setz die grüne Brille ab. Nimm die gelbe Brille.“ Sofort werden die Gespräche besser. Irre, wie der Mensch so funktioniert.

Mal sehen, wie die nächsten Begegnungen verlaufen. Und ob die gelbe Sonnenbrille auf der Nase bleibt. Denn wer weiß? Vielleicht reichen ihre Bügel ja gar nicht bis hinter die Ohren … 

Kommt gut durch die Woche, Ihr Tapferen!