Hab Nicki zu Weihnachten eine AeroPress geschenkt. Es war ein Tipp von Eric, der sich selbst als „Coffee Princess“ bezeichnet, was wirklich witzig ist, weil Eric nicht nur wie ein Wikingerkrieger heißt, sondern auch wie einer aussieht.
Manchmal macht man sich Geschenke ja in Wahrheit selbst, und genau so ein Geschenk scheint mir diese Kaffeemaschine hier auch zu sein.
Es ist eine sinnliche Erfahrung, damit Kaffee zu kochen und gut schmecken tut’s auch noch.
Das geht so: Man legt ein Filterpapier in den zusätzlich erworbenen Metallfilter.
Man schraubt den Filter mit einer leichten Drehung aus dem Handgelenk ans untere Ende des AeroPress-Zylinders. Dann füllt man eine angemessene Menge an gemahlenem Kaffee ein (ich habe Bohnen von einer örtlichen Rösterei besorgt und sie direkt vor dem Aufbrühen relativ fein gemahlen).
Danach stellt man den Zylinder auf eine leere Tasse und gießt gelassen das kochende Wasser auf – möglichst in kleinen Kreisbewegungen, um das ganze Kaffeepulver zu benetzen.
Dann wartet man zwei Minuten ab und schwenkt den Zylinder leicht an, damit das Pulver sich besser setzen kann. Weitere 30 Sekunden später drückt man von oben den Kaffee durch den Filter in die Tasse.
Zack, der Kaffee ist fertig! Wenn man tüchtig gedrückt hat, schwimmen sogar ein paar Blasen obenauf und man kann sich erzählen, dass es sich dabei um eine Art Crema wie beim Espresso handelt. Ist natürlich Quatsch, aber man fühlt sich gleich viel besser damit.
Ich bilde mir ein, dass der Kaffee weniger bitter über die Zunge fließt als aus der Maschine und dass man die weicheren Aromen besser schmecken kann. Vielleicht Placebo, was weiß ich. Mir macht die Sache jedenfalls viel Freude und wenn ich wieder zurück nach Hamburg komme, werde ich mir für dort auch so eine kleine Maschine besorgen. Hat so was MacGyver-mäßiges.
Beim letzten großen Spaziergang in 2022 lag der ganze See unter Eis, auf dem aber schon das Schmelzwasser schwappte.
All das nur, um später irgendwann nachschlagen zu können und zu sagen: „Guck mal, wie gut es uns damals ging.“
Was immer ich gerade in der Hand halte, wenn samstags um 17 Uhr mein Handywecker klingelt (vielleicht ist’s die Harke, um den Rasen vom feuchten Herbstlaub zu befreien; womöglich ein Holzkochlöffel, der meine Suppe rührt; oder der Hinterkopf der Liebsten, der sich schräg mir zum Kusse entgegen neigt), beim ersten Läuten lasse ich alles fahren, um im Panthersprung meinem Laptop zuzuhechten und mich auf der Seite https://wolverinepickleball.com für den kommenden Mittwoch in den Pickleball-Spielkalender einzutragen. Die Anmeldung öffnet genau 96 Stunden vor Spielbeginn.
Der Wettbewerb ist so hart und gnadenlos, wie es noch nie bei einem Freizeitsport erlebt habe. Nicht auf dem Platz selbst, dort sind fast alle Leute entspannt, wie ich bereits in einem älteren Blogbeitrag beschrieben habe („Hilfe, ich bin Teil einer Trendsportart!“). Es ist der Kampf um den Platz AUF dem Platz, aus dem ich längst nicht immer als Sieger hervorgehe. Sich einfach erst am Sonntag anmelden? Ich hab’s versucht: Man kann’s vergessen!
Auf den ersten Blick ist Pickleball ein Sport für Verlierer: weniger schick als Tennis, weniger dynamisch als Squash, weniger elegant als Badminton, viel langsamer als Tischtennis. Und dennoch handelt es sich um „America’s fastest growing sport“, wie im Februar 2022 ein Bericht auf NPR verkündete (das ist sowas wie der Deutschlandfunk der USA). In den vergangenen Jahren habe ich Pickleball immer nur in der warmen Jahreszeit gespielt – umsonst und draußen auf den öffentlichen Anlagen von Ann Arbor. Irgendwann im Sommer 2020 ist mir dort eine nette Frau in den mittleren Jahren aufgefallen. Sie spielte sehr gut und fair, lächelte viel, verteilte nach den Matches immer irgendwelche Handzettel und sammelte dabei Emailadressen von Leuten, die ihre Liebe zum Pickleball teilten. Auch ich habe ihr meine Adresse gegeben.
Und so kam es, dass am 1. Oktober 2020 folgendes Bild in meinem Maileingang lag:
Kein Zweifel: Christy und ihre Geschäftspartnerin Leslie hatten im Westen von Ann Arbor eine leere Lagerhalle gemietet und in einen Ort zum Pickleballspielen verwandelt. Man muss im Nachhinein sagen: Besser hätten sie das Timing kaum treffen können. Denn, na klar, im Oktober 2020 wütete die Pandemie. Fast alles war verboten, aber Pickleball war erlaubt. Und so kauften sich auf einmal alle möglichen Leute einen Schläger für Einsteiger und fingen an, diesem gelben Plastikball mit Löchern in der Außenhaut nachzurennen.
Mittwoch 17 Uhr. Der Einsatz vom Samstag hat sich gelohnt: Mein Kumpel William und ich haben tatsächlich für zwölf Dollar pro Nase einen Platz ergattert. Umkleiden gibt es nicht. Duschen auch nicht. Wir spielen auf sechs Plätzen; auf den beiden anderen Courts (aus den ursprünglich vier Plätzen bei Christy und Leslie sind inzwischen acht geworden) läuft irgendein Privattraining. Zwölf Doppelpaare werden jetzt zwei Stunden lang jeder gegen jeden Spielen: zwei Minuten Aufwärmen, dann eröffnet ein Signalton das Match. „Zero, zero, start“, zählt William. Punkte kann nur machen, wer das Aufschlagsrecht besitzt. Einige der erfahrenen Spielerinnen werden am Ende des Abends unseren Stil bemäkeln. Wir „bängen“ ihnen zu viel, hauen also zu dolle auf den Ball. Gelegentlich spiele ich auch einen Lob, löffle den Ball also im hohen Bogen über die Gegnerinnen, die am Netz stehen. „Diesen Schlag sehen wir hier auch nicht so gern“, sagt Christy hinterher. Nicht gänzlich unverwirrt google ich die Sache später im Netz. Aha! Der Lob zwingt zum Rückwärtslaufen und dabei kann man sich verletzen. Überhaupt: Erst kürzlich hat die New York Times eine größere Geschichte über die hohe Verletzungsgefahr beim Pickleball gedruckt. Pickleball wird meist von reiferen Semestern betrieben (ich gehöre mit meinen 53 nicht zur älteren Generation in der Halle) – und mit den Jahren steigt eben auch das Risiko, sich die Achillessehne zu reißen, einen Knöchel zu stauchen und den Meniskus zu ruinieren. An der Hallenwand von Wolverine Pickleball hängt das Werbeplakat eines Schulterspezialisten.
Mein Kumpel Søren hat mich vor Zeiten darauf aufmerksam gemacht, dass „Pickleball“ ein bescheuerter Name ist für eine Trendsportart. Er hat vollkommen Recht, aber die Sache ist nicht mehr zu retten. Drei Männer haben den Sport in den 1960er Jahren im US-Staat Washington erfunden. Einer von ihnen besaß einen Hund, der Hund hieß „Pickles“ – und weit und breit fand sich kein Marketingteam, um sich etwas Schmissigeres auszudenken. Ich finde das grundsympathisch.
Wir haben die meisten Spiele gewonnen. Allerdings haben uns Karen und Greg, ein sportliches Ehepaar in den eher späten mittleren Jahren, mal wieder ordentlich den Hintern versohlt. Entscheidend scheint der dritte Ball im Ballwechsel zu sein. Die richtig guten Leute setzen ihn so knapp hinters Netz, dass man ihn schlechterdings nicht schmettern kann. Doch ach: Wir hantieren noch immer mit den spröden Billigschläger aus dem Sportsupermarkt, mit denen derlei Kunstschüsse nur selten gelingen. Fast alle anderen schlagen den durchlöcherten Ball mit Geräten, die so irgendwas zwischen 160 und 280 Dollar kosten. Dort ist die Schlagfläche elastischer und griffiger. Man hat damit, so versichern uns alle, mehr Feingefühl und erzeugt auch mehr Effet. Vielleicht wird’s bald mal Zeit, noch mehr Geld ins Hobby zu investieren?
Dass der Sport ausgerechnet jetzt derart durchstartet, dürfte mindestens zwei Ursachen geschuldet sein. Zum einen ist da natürlich der demographische Wandel. Die Boomer gehen in Rente, und diese Kohorte hatte seit je ein Händchen dafür, sich ihr Dasein schön und bunt zu gestalten: Gras, elektrische Musik, LSD, freie Liebe und ein bisschen Revolution in der Adoleszenz – und heute eben dieser gesellige Sport, bei dem man auch mit 75 noch locker gegen aknegeplagte 18-Jährige punkten kann. „Wir empfehlen Pickleball als eine Form ernsthafter Freizeitbeschäftigung, die dem Leben älterer Erwachsener deutlich mehr Qualität verleihen und einen Beitrag zum erfolgreichen Altern liefern könnte“, resümiert eine Studie aus dem „Journal of Positive Psychology“. Und dann kam eben noch die Pandemie und schleuderte einen Molotowcocktail in den seit Jahren glimmenden Trend.
„How’s the Money?“, frage ich Leslie bei meinem jüngsten Besuch in der Halle. Sie lächelt. Es läuft bombastisch. Sie winkt mich in ihr Büro und zeigt mir ihr Buchungstool auf dem großen Computermonitor. Von 9 Uhr am Morgen bis 23 Uhr am Abend ist praktisch jeder Platz durchgebucht. Jeden Tag. Selbst an Thanksgiving war so gut wie alles voll. Wahnsinn: Pickleball ist eine Geldmaschine! Für die beiden Betreiberinnen der Halle erweist sich die demographische Zusammensetzung ihrer Kundschaft als Segen: Den fitten Rentnerinnen und Rentner ist jede Tageszeit Pickleballzeit. War und ist aber irrsinnig viel Arbeit, sagt Leslie. Als sie die Halle aufgemacht haben, standen in ihrem Emailverteiler schon weit über 1000 Adressen. Einfach ne Halle mieten und drauf warten, das wer vorbeikommt – das hätte sicherlich nicht gereicht. Derzeit bauen die beiden mit dem verdienten Geld gerade ein paar Blocks weiter an einer eigenen Pickleballhalle. Es gibt ihn noch, den American Dream. Ein Demonstrationsstein vor dem Bürofenster verrät, dass ich Sponsor des neuen Etablissements werden kann. Ein Stein im Eingangsbereich könnte meinen Namen tragen, wenn ich 150 Dollar in den Hut werfe.
In unserem Nachbarstädchen Chelsea gibt es das „Purple Rose Theatre“. Das ist ein kleines, aber sehr respektables Theater, das dem Hollywood-Schauspieler Jeff Daniels gehört. Das Stück, das dort seit September läuft, trägt den Namen „Pickleball“. Der Meister hat es persönlich geschrieben, ich habe nur Gutes darüber gehört. Karten (z.B. für die Vorstellung am Samstagabend: 52 Dollar) sind nicht immer leicht zu kriegen. Mitglieder der Theaterfreunde (Beitrag: 250 Dollar) haben die Möglichkeit, die Tickets zwei Wochen vorab zu reservieren.
Ein Samstag später. Ich bin spät dran. Um 17:03 Uhr melde ich mich an für kommenden Mittwoch. „#5 on waitlist“, heißt es hinter meinem Namen. Vermutlich gehe ich diesmal also wieder leer aus. Vielleicht muss ich doch Premiummitglied bei Wolverine Pickleball werden? Für 25 Dollar im Monat kriegt man Rabatt auf seine Spielzeiten – und kann sich schon ein paar Tage früher seinen Platz reservieren.
Fest steht jedenfalls: Pickleball ist in den USA eine Geldmaschine. Und wie die Dinge liegen, geht der Wahnsinn noch eine ganze Weile weiter. Bleibt die Frage: Wann geht die Sache in Deutschland los? Wenn ich’s wüsste, würde ich vielleicht schon mal anfangen, nach einer leeren Lagerhalle zu suchen.
Diese Woche war ich nach dem Pickleball mal wieder in einer Gastwirtschaft. Einer meiner Mitspieler hatte die Idee, doch mal das deutsche Restaurant um die Ecke auszuchecken. Jawohl! Es handelt sich um das „Metzger’s”, das ich bereits vor Zeiten in meinem Blogpost über die Deutschen in Ann Arbor besungen habe. Man reichte Käsespätzle zum Weizenbier, und beides hat geschmeckt wie zu Hause. Seufz, die einfachen Dinge! Der Laden ist übrigens immer rappelvoll, wenn ich mal vorbeischaue. Manchmal tut man dort beeindruckt, wenn ich mit meinem Nachnamen prahle, diesmal war’s aber allen egal. Man sieht’s denn Leuten halt nicht immer an.
Und damit sind wir beim Thema für heute. Ich habe dieser Tage nämlich einen interessanten Hinweis aus Deutschland bekommen: An der Uni Münster haben ein paar Leute ein Spiel entwickelt, bei dem man seine Menschenkenntnis testen kann. Das Spiel heißt „Who knows?“ Man kann es unter dem angegebenen link kostenlos spielen.
Da ich zufälligerweise gerade eine größere Geschichte zum Thema Menschenkenntnis vorbereite, hab ich mich auch gleich angemeldet und ein paar Runden gespielt. Die Sache läuft so: Man sieht ein kurzes Video von etwa 30 Sekunden, in dem eine Person sich vorstellt und ein paar Fragen beantwortet. Dann kriegt man selbst ein paar Fragen gestellt. Zum Beispiel: Macht diese Person jeden morgen ihr Bett? Hat sie Angst vor Spinnen? Kann sie mit Stäbchen essen? Danach verrät einem die App, wie viele der Fragen man richtig beantwortet hat.
Tja. Am Anfang war ich noch ganz gut dabei. Aber dann hat sich bald gezeigt, dass viele meiner frühen Treffer reiner Zufall waren. Nach einer Reihe von Runden kam dann mein Ergebnis: 52 Prozent der Antworten waren korrekt. Per Münzwurf hätte man vermutlich weniger Punkte geholt, dennoch bin ich damit natürlich weit entfernt von den Besten, die bei diesem Spiel mitgemacht haben. Liege ich über dem Durchschnitt? Unterm Durchschnitt? Keine Ahnung! Ich muss in den nächsten Tagen mal ne Email schreiben an die Leute, von denen das Spiel stammt.
Jedenfalls möchte ich dieses Spiel hiermit empfehlen. Die Forschenden sammeln damit Daten, sie wollen herausfinden, wie wir zu unserem Einschätzungen kommen, welche Menschen leicht oder schwer zu lesen sind oder wie unsere eigene Persönlichkeit beeinflusst, was wir spontan in unsere Mitmenschen sehen (dies nennt man in der Fachsprache den „perceiver effect“, auch ein sehr interessantes Phänomen).
Kurz: Wer spielt, lernt ein bisschen was über seine Menschenkenntnis und tut auch noch was für die Wissenschaft. Ich hätte mir im einen oder anderen Fall noch mehr Feedback innerhalb des Spiels gewünscht. Im Moment habe ich nämlich kaum den Eindruck, von Runde zu Runde irgendwelche Fortschritte gemacht zu haben. Genau das würde den Spaß an der Sache bestimmt erhöhen. Natürlich nur, wenn so eine Lernkurve überhaupt möglich ist.
Also. Meldet Euch an. Und schreibt mir gerne, wie hoch Eure Trefferquote liegt und ob Eure Menschenkenntnis besser ist als meine. Würde mich freuen.
Das hier ist die Bühne des Hill Auditorium in Ann Arbor. Auf der Bühne stehen die Berliner Philharmoniker und lassen sich beklatschen. Sie haben gerade Mahlers 7. Sinfonie abgerissen. Ich hab die Combo vorher noch nie live gesehen und … naja … es ist schon seltsam, ausgerechnet für ihr Gastspiel in Michigan zum ersten Mal Tickets zu haben. Ich mochte schon vorher ein paar andere Sachen von Mahler, die Rückert-Lieder, das Adagietto aus der 5. Sinfonie. Die 7. kannte ich nicht, hab sie mir aber vor dem Konzert häufiger angehört, um mehr von der Musik zu kapieren. Das hat sehr geholfen; viele der Themen sind nach einiger Gewöhnung sogar ziemlich eingängig und Pop auf ne gewisse Art.
Ins Hill Auditorium passen angeblich 3500 Leute, der Laden war ausverkauft, vor der Abendkasse standen die Studierenden in langen Schlangen im Schnee, um auf kurzfristige Covid-Absagen zu hoffen. Wer geht zu den Berliner Philharmonikern? Nun. Zum einen Menschen, die irgendwann ab dem 3. Satz unwiederbringlich eingeschlafen sind. Wirklich. Es liegt an einem Mix aus mangelnder Vorbereitung und langen Arbeitswochen. Nur so ne Vermutung, ich weiß es nicht genau. Fest steht: Ich habe an diesem Abend viele Kombinationen aus geschlossenen Augen und halbgeöffneten Mündern gesehen. Ein Jammer.
Dann ein Wort zur Demografie: Vor mir leuchteten viele graue Häupter. Sie gehörten zu längst verrenteten Intellektuellen mit verfeinertem Musikgeschmack. Und dann: junge Menschen bis zum Abwinken. Kinder reicher Leute, nicht selten in Fernost aufgewachsen. Sie alle studieren hier an der Uni und haben eine rosige Zukunft vor sich. Darüber hab ich neulich mit einem berühmten Persönlichkeitspsychologen gesprochen. Seine Daten ergeben, dass die intelligenten und fleißigen Kids aus den wohlhabenden Familien ziemlich gute Chancen auf sehr gute Noten haben. Tja, wer hätte das gedacht? Genau diese Kinder sitzen an diesem Abend im Hill Auditorium und summen im Kopf heimlich die Linien der Oboen mit.
Als wir den Konzertsaal verlassen – die Philharmoniker haben astrein abgeliefert – hat Schneefall eingesetzt, der Wagen steht zehn Blocks entfernt und wir werden tüchtig eingeseift.
Tags zuvor noch lange gearbeitet. Am Abend gehen wir in einen Laden in Downtown namens „Live„. Dort spielt eine Band, die ich sehr mag. Sie nennen sich „Jive Colossus„, eine Art Santana-Band mit stilprägendem Bläsersatz. Man muss einfach tanzen dazu. Und genau das machen die Leute auch. Ich bin mit meinen 53 eindeutig in der jüngeren Hälfte des Publikums. Da tanzen Menschen, die sich allem Anschein nach schon so manches Gelenk haben ersetzen lassen. Sie tanzen in Paaren, sie tanzen allein, mancherorts wird geflirtet, als läge die Bachelorprüfung noch weit in der Zukunft. In der Ecke kippt einer der Pensionäre halb vom Sessel; er hatte zur Happy Hour schon manches Getränke und dann vermutlich zu starkes Gras geraucht.
Was noch? Ach so! Die Wahlen sind vorbei. Die Gouverneurin wurde wiedergewählt. Vor den Wahlen hat sie mir täglich Wahlkampfsachen zugemailt, keine Ahnung warum. Jetzt hat sich mich – wieder per Mail – daran erinnert, dass am Donnerstag Thanksgiving ist. Ich soll darüber abstimmen, welchen Truthahn sie begnadigen soll. „The winning name will be announced this Monday.“ Ich kann’s kaum erwarten.
Hab dieser Tage meine Gitarre umgestimmt: Alle Saiten einen halben Ton tiefer, nur die G-Saite nicht. Man hätte auch nur die G-Saite einen Halbton höher stimmen können, klar, aber dabei gehen wegen der hohen Spannung viele G-Saiten kaputt und das behagt mir nicht.
Jedenfalls ist so eine umgestimmte Gitarre immer eine interessante Intervention. Sie zwingt dazu, mit den Fingern ungewöhnliche Dinge zu tun. Die neuen Akkorde entstammen dann eher dem Zufall und der Intuition und weniger einer rationalen Harmonielehre, sie erwachen wie von selbst und so entsteht die Chance, einem bislang verborgenen Teil der eigenen Seele einen neuen Ausdruck zu geben. Ein neues Lied. Ich schreibe es und nehme es auf und höre es an. Beim ersten Mal denke ich: Aha, ein Song über eine Fahrt an die See. Beim zweiten Mal denke ich jedoch: Ein Song übers Sterben. Interessant.
Ansonsten versperrt die Bahn gerade überall die illegalen Fußwege über die Gleise nach Chicago. Mal sehen, ob sie damit Erfolg haben.
Musste dann beim Spaziergang mit dem Hund an eine Folge aus unserem Audible-Podcast „Sag mal, du als Psychologin“ denken. Mich erreichen dazu immer wieder Anfragen von Hörern und Hörerinnen. Und diesmal ging die Erinnerung um eine Anekdote, die ich in unserer Folge zum Thema „Lampenfieber“ geteilt habe.
Und zwar. Spiele ich ja seit Ewigkeiten Tischtennis im Verein und mache auch Ligaspiele mit und all sowas. An diesen Wettkämpfen hab ich über die Jahre aber immer mehr die Freude verloren. Denn ich wurde dabei immer extrem nervös und habe zunehmend schlechter gespielt.
Seit etwa einem Jahr hab ich dazu aber einen neuen Gedanken, der vieles für mich verändert hat. Er besagt: Ich allein kann diese Sportart nicht ausüben. Ich brauche wen, der mitspielt. Dieser Mensch auf der anderen Seite der Platte ist in diesem Moment mein bester Freund. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mit mir spielt. Wenn er einen guten Ball schlägt, dann freu ich mich darüber, als wär ich sein Trainer. Ich coache meine Gegner inzwischen, während ich mit ihnen spiele. Ich habe den Gedanken von Konkurrenz und Gegnerschaft verwandelt in einen Gedanken von Gemeinschaft. Das hat mir viel Freude am Sport zurückgegeben.
Es läuft wie mit der offen gestimmten Gitarre: Auf den ersten Blick schwäche ich mich selbst. Ich coache meinen Gegner. Ich stimme die Gitarre so, dass die mühsam erlernten Griffe keine schönen Akkorde mehr ergeben. Ich muss neue Griffe erlernen, damit es schön klingt. Aber es verändert das ganze System und bringt wie von selbst die Freude am Lernen und am Spielen zurück.
Aber es gibt auch Schatten. So bei einem Erlebnis hier in Michigan, wo dieser Tischtennistrick nicht gezogen hat. Ich habe gegen jemanden gespielt, der aus einem Kriegsgebiet kam. Das ist mir erst nach unserem Spiel aufgefallen. Schon beim Warmspielen habe ich gemerkt, wie alle Freude des Miteinanders, alle gute Energie den Raum verließ. Es hat keinen Spaß gemacht und war kein schönes Spiel. Später hab ich mit ihm geredet und ihm dabei in die Augen geblickt. Ich habe noch nie solche Augen gesehen. In ihnen war kein Leben und keine menschliche Verbindung. Da war nichts. Es war sehr unheimlich. Ich habe nicht nachgefragt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mann schlimme Dinge erlebt und vielleicht auch schlimme Dinge getan hat. Mein Instinkt hat mir geraten, mich besser von ihm fernzuhalten und ich bin diesem Rat gefolgt.
Als Student habe ich einmal politische Reden aus dem Deutschland der späten 1920er Jahre analysiert. Häufig bestand die Quelle aus den Mitschriften der heimlich anwesenden Polizei. Sehr oft stand am Ende der Vermerk, dass die Leute im Saal nach der Rede immer lauter diskutiert und sich danach ordentlich geprügelt haben. Es war eine gewalttätige Gesellschaft. Viel gewalttätiger als unsere Gesellschaft heute. Denn fast alle jungen Männer hatten hundertfach den Tod gesehen und selbst den Tod heraufbeschworen über andere. Sowas wird man nie mehr ganz los.
Und in der Ukraine läuft genau dafür gerade wieder ein sehr großes Trainingslager.
Bei meinen Psilocybin-Visionen von neulich habe ich auch den Krieg gesehen und eine sehr archaische Notwendigkeit für Mauern, Wälle und Waffen, um nicht gefressen zu werden. Ich würde gerne schreiben, dass es bestimmt einen Weg gibt, nie wieder kämpfen zu müssen und nie wieder Krieg zu haben. Aber in diesen Tagen glaube ich nicht mehr daran. Es ist alles so viel älter als wir selbst.
Liebe ist eine gute Antwort. Was für ein Satz. Man braucht so viel Glück, um ihn sagen und sehen und leben zu können.
Diese Blätter hier gehören zu einem Tulpenbaum. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt, aber wir hatten Besuch von einer Frau, die sich damit auskennt. Seither sehe ich diese Blätter überall. Sie gefallen mir. Ich finde sie schön.
Generell unterhalte ich mich viel mit Menschen und bin in den meisten Dingen, die ich tue, eher schnell und hochdrehend. Seit meinem Pilztrip vom vergangenen Wochenende fühle ich häufiger das Bedürfnis, mich nicht zu unterhalten und langsam zu sein.
Gleichwohl am Lagerfeuer einen Mann getroffen. Plötzlich redet er auf mich ein und hört nicht mehr auf. Er ist Mitte 70 und man merkt, dass er selten wen hat, dem er was erzählen kann. Die Rente in den USA reicht vielen nicht, um davon zu leben. Er aber war seit je ein umtriebiger Kerl, also ist er nach Kiew gezogen, als er die 60 hinter sich hatte. Dort kostet alles nicht viel, sagt er. Man kann Dinge kaufen für kleines Geld und sie dann für mehr Geld an Leute in Amerika weiterverscherbeln. So wird ein Schuh aus allem und man lebt.
Die Stadt sei ganz toll, so erzählt er. Die Architektur, der Fluss, die Parks. Auch die Frauen. Jaja, auch das. Es hört niemals auf. Trotzdem. Die ganze Sache war eher eine Hassliebe. „Ich bin ohne Ende beklaut worden. Aus meinem Laden sind Sachen weggekommen. Bestimmt zwanzig Mal.“
Dann der Krieg. Ein paar Blocks weiter ging die erste Rakete runter. „Ich habe den Blitz gesehen und die Erschütterung unter meinen Füßen gespürt.“ Der Einschlag – er schaut nach am Folgetag – hat wohl ein ordentliches Loch geschlagen. „In den Nachrichten hieß es dann: ,Wir haben ein russisches Flugzeug über der Stadt abgeschossen, deshalb kam da was runter.‘ War aber alles gelogen. Wird eh viel gelogen dieser Tage. Wir erfahren kaum, was wirklich abgeht da drüben.“
Danach hat er zwei Koffer gepackt, ein paar Klamotten, die Zahnbürste, die wichtigsten Wertsachen. „Den Rest hab ich dort gelassen.“ Der Weg nach Hause hat mehrere Tage gedauert. Es war alles nicht lustig. Jetzt sitzt er irgendwo auf dem Land auf einem Bauernhof am Arsch der Heide. Ein kleiner Raum, in dem er schlafen kann. Ich vermute: Er hilft dafür ein bisschen mit bei der Ernte oder im Verkauf oderwasweißichwo.
Die Kinder reden nicht mehr mit ihm. „Die Mutter“, sagt er und seufzt und macht diese Quassel-Bewegung, bei der man mit dem Daumen von unten gegen die anderen Finger der flachen Hand schlägt. Düsteres Zeug danach über Wiedergeburt, Nostradamus, Hunger, Gewalt, die Unverbesserlichkeit der menschlichen Natur, über Nationalseelen, die über Generationen gereinigt werden müssen und so weiter.
Tags davor haben wir eine Nachbarstadt besucht und fanden uns plötzlich in einem Laden, der Tarotkarten feilbot, indianische Kräuter, keltische Symbole, ägyptische Symbole, Utensilien zur Ausübung des Hexenhandwerks und allerhand Tüddelkram. Fränkische Klangschalen der Firma Meinl. Eine Frau war bereit, einem für 25 Dollar nähere Informationen über die eigene Zukunft zukommen zu lassen. Ich hab im Geschäft mehrere Runden gedreht und mir alles angesehen. Kein Bedürfnis nach Gesprächen mit dem Fachpersonal – aber gucken wollte ich doch. An der Wand hingen ein paar Gemälde und ich dachte sofort: „Der Typ hat doch Pilze genommen!“ Dann die Biografie des Künstlers gelesen … und in der Tat. Kann natürlich sein, dass das läuft wie mit den Tulpenbäumen. Man ist so gut darin, die Dinge nicht zu sehen, auf die man sich nicht konzentriert. Und dann, wenn man einmal drauf achtet, sind die Dinge plötzlich überall und sie waren es seit je.
Was ich aber eigentlich sagen will: In Ann Arbor verwickelt man mich häufig in Debatten über Statistik, Theorien, aktuelle Studien und all so was. Das Kognitive regiert die Stadt. Die Welt scheint dann für kurze Momente beherrschbar und berechenbar. Junge Leute arbeiten mit Computermodellen, um das Verhalten bestimmter Proteine im menschlichen Körper vorherzusagen.
Aber schon ein paar Schritte nach Westen, Osten oder sonstwohin – und man landet in einer völlig anderen Welt, in der auf einmal auch ganz andere Dinge möglich sind und zum Alltag gehören. Und am Dienstag dürfen alle darüber abstimmen, wer in den nächsten Jahren zum Beispiel Gouverneurin wird.
Coco liegt im trockenen Herbstlaub und will, dass ich endlich den Ball werfe. Sie holt mich dann immer wieder zurück in die Welt der einfachen Dinge. Fast wie bei Heine:
Da bellt Hund schon früh am Morgen und hechelt fort die deutschen Sorgen.
So. Am Sonntag hab ich zum ersten Mal Magic Mushrooms genommen. Es war eine leichte Dosis für vorsichtige Anfänger. Ich war auch beim Setting eher besonnen und hatte überdies, um die Erfahrung zu dokumentieren, permanent ein Audio-Aufnahmegerät mitlaufen. Inzwischen habe ich meine freien Minuten dazu verwendet, die Aufnahme zu transkribieren, was mehrere Effekte hatte: Ich habe viele der inneren Bilder ziemlich lebendig wiedergesehen, auch einige der Emotionen in schwächerer Form aber ähnlicher Qualität wiedererlebt. Das war und ist toll, ich kann mir vorstellen, dass das für manche Menschen ein guter therapeutischer Ansatz wäre, der bei der Integration hilft.
Ich werde in den nächsten Tagen etwas dazu schreiben: Welche Erkenntnisse mir beim Abtippen gekommen sind, welche beim Erlebnis selbst, welche Bilder ich gesehen habe und so weiter.
Heute aber mal was vergleichsweise Leichtes, auch für mich selbst. Man will sich nicht permanent überfordern. Ich habe nämlich – Nicki hatte es mir bereits angekündigt – SEHR viel über die Musik geredet, welche mir die klassische Johns-Hopkins-Playlist auf die Ohren gegeben hat.
Um es vorweg zu sagen: Meine Ausdrucksweise war nicht immer fein. Aus Chronistenpflicht lasse ich das oft unverändert und bitte um Verzeihung. Ich befand mich innerlich sozusagen im Krieg, wo in Worten mehr erlaubt ist als zu anderen Zeiten.
Wenn Ihr auf Spotify geht, könnt Ihr auf der Playlist auf das jeweilige Stück klicken und es parallel zur Lektüre laufen lassen, um ein bisschen Kontext zu erschaffen. Ist auch tolle Musik dabei, wirklich.
Manchmal rede ich Englisch, weil Nicki mit mir gesprochen hat, um mich rauszuholen aus den Tiefen. Dann rede ich mit ihr statt vor mich hin.
Also, los geht’s, chronologisch und in Auszügen.
Edward Elgar – Enigma Variationen (1898) Die Geigen gehen auf Moll gerade, sehr schön, sehr getragen alles. Fühl mich ein bisschen zittrig. Oh ja, jetzt kommt Bewegung in die inneren Bilder. Nur Muster. Es ist eine weiße, zentrale Rauchwolke. Jetzt sterben.
Morten Lauridsen – O Magnum Mysterium (1994) Und das erste Chorstück, es zieht mir auch die Socken aus. Mir wird ein bisschen schlecht gerade. What the fuck! Die Akkorde sind ja der Hammer! Ich sehe eine Straße durch den Schnee in die Berge hinein. Da ist Wald! Jetzt ist es wie ein Wasserfall, der unter mir weggeht, es ist alles schwarz, alles monochrom und negativ. Huschhhhhhhh!
Henryk Górecki – 3. Sinfonie, I. Lento (1976) Die Streicher gehen so auch … Ranken … wie ineinander. Ist auch tolle Musik. Es ist ein zittriges Gefühl. Als würd‘ ich frieren Ja, ich bin kalt. Ich bin ganz kalt.
Johannes Brahms – Selig sind, die da Leid tragen (1865) Mag ich jetzt nicht so Ah. Brahms. Igitt!
Johannes Brahms – Denn alles Fleisch, es ist wie Gras (1865) Ich sehe jetzt bedrohliche Dinge aufsteigen. (…) Es ist wie das Böse. (…) Es ist sooo riesengroß. Drachenhaft. Während die Männer und Frauen bei Brahms singen von Freude oder irgendwas. Das Dur ist gelogen. Es ist nur gespielt. Erbrechen. Ekel.
Johannes Brahms – Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth (1865) Alter, was ist das denn für düstere Musik schon wieder.
Johann Sebastian Bach – h-Moll-Messe, Kyrie (1733) Diese Holzblaströten!!! Wie viel Gewalt in ihnen drin ist. Dieser Zwang, dieser Zwang, diese Enge! So viel Gewalt. Die arme Oboe, Oboe ist Folter. Wer hat sich das ausgedacht?
Antonio Vivaldi – Gloria“ in D-Dur (1716) Schön! Das klingt wie Vivaldi. Trotzig! Es ist so trotzig. Man schreit es über die Burgmauern hinweg auf den Feind. Und man weiß, dass es nicht stimmt. Es ist so viel kontrafaktisches Singen und Musizieren. Es ist Kriegsmusik Vor der Schlacht. Um sich aufzupushen. (sic!) Wahnsinn. I hear the phoniness in major triads and how people felt something completely different when they wrote it.
Johann Sebastian Bach – Komm, süßer Tod (1736) Okay, jetzt kommt Hellgrün mit den Streichern, ohhhh süüüüüß, ohhhh, ne Flöte. Und ich höre, ich glaube, da ist ne Flöte drin und fuuuuck, die muss so kämpfen. Aber sie kriegt sie gerade noch so, oben im Rauch. Oach, toll! Hauchzart! Jaja. (…) Ich weiß gar nicht, was diese Blechdinger wollen alle! Alle Posaunen haben PTSD, wirklich. Für den Krieg gemacht und jetzt ist Frieden und was macht man mit denen? Und sie wissen nicht mehr, was sie sollen in der Welt. Und … es klingt immer scheiße. (…) Ooooochh ist das schön gerade. Oh Gott. Och, herrlich, ey, Wahnsinn. Die Sonne geht auf über den Bergen und ich werde gesegnet. Ich hab ne Fahne in der Hand. Aber ich kann nicht sehen, was drauf ist, und es weht ein starker Wind von vorne, es ist saukalt.
Wolfgang Amadeus Mozart – Laudate pueri Dominum (1780) Was machen die da? Diese Penner! Ich höre diese Musik und denke: Ihr habt’s nicht kapiert! Euch fehlt so viel! Ihr lasst die schönen Töne weg in der Mitte und dann kommt dieser Mist dabei raus. Ich sehe Verhaue aus Fichten und Dunkelheit. Man wappnet sich wieder. (…) Hahhh, ich spüre Tränen. Jaja, Drohen. Es ist auch Drohen dabei. Oh, ja, die Musik ist Erbe, es ist Erbe, es sind alte Geschichten, es sind alte, alte, alte Geschichten. Oh, Scheiße, war das schlimm. Es kommt alles wieder. Es ist alles da.
Henryk Górecki – 3. Sinfonie, II. Lento e Largo (1976) Jemand singt auf Ungarisch. Massiiiiiive Streicher. Fucking Shit. (Lautes ausatmen) Auch das, das Zusammenklingen. Es ist wie sich großmachen und ein großes Wesen erschaffen. Groß genug, groß genug, jaja. (…) (weint laut) Honey, I felt the quality of the too-earliness of dying. (weint laut) „Cry with me“, says the song. „Moan with me.“
Edward Elgar – Serenade in e-Moll, II. Larghetto (1892) It’s also ridiculous. Everything is ridiculous, too. It’s laughable, that’s it! (lacht laut) We should be scared every second. And we can also laugh at it. That’s the whole thing. It’s true at the same moment. Nothing is better. Honey, that’s the insight. There’s another side. Something beyond fear. Pretty amazing.
Gabriel Fauré – Requiem (1887) The music’s great! Now’s where the soul enters paradise.
Wolfgang Amadeus Mozart – Klarinettenkonzert in A-Dur, II. Adagio (1791) That’s music I like. Mozart. I feel ashamed. It’s so pop. Ha, es ist so seltsam. Ich bin in einer Heiterkeit. In einer Heiterkeit, die fast nicht zu schlagen ist. Wahnsinn! Eine … fast eine metallene Heiterkeit. (…) Ich sehe Pfauenfedern. (…) Jetzt, jetzt hab ich einen Moment, in dem ich sooo glücklich bin.
Arvo Pärt: Cantus in Memoriam Benjamin Britten (1977) Oh, jetzt, Kirchenglocken und ineinander sich verwebende … siehste, die Schweine haben tatsächlich Mandalas in die Geigen mit reingemischt. Ich erzähl mir gerade den Witz, dass man Kriegsgeigen hat. (lacht laut) Geigen sind sooo Musik des Friedens. Ey, Ich möchte ein Stadion haben, in dem völlige Stille herrscht. Und die Geigen spielen Musik in der 20. Minute, wie gespenstisch das wäre! In der 20. Minute. And it scares the SHIT out of everyone. Oder vorm Elfmeterschießen. Ich weiß nicht, was DAS für Musik ist aber … dünne Spinnweben, jeder Ton. Jetzt wachsen wieder Dornen aus den Blättern. Vielleicht Zähne. Krallen. Gefahr. Überall. Diese Musik sagt dir: Passt auf, Leute! Passt bloß auf, es ist überall! Fuck. Wer hat das bloß geschrieben? Aber das ist wirklich das Greifen von überall nach dir. (…) Und jetzt siehst du die ganzen Zähne. Es ist wieder ein Insekt. Riesengroß. Ohhh, die Obertöne der Glocke. Es ist schon der Hammer.
Ludwig van Beethoven – 5. Klavierkonzert, II. Adagio (1809) Wenn das nicht Wien ist, weiß ich auch nicht. Woah. Die Harmonien am Ende, tausend Mal gehört, aber es ist schon clever gemacht. Wände aus Klängen. Ich glaube, das ist jetzt wirklich ne Nummer zu dolle mit dem Klavier. Der Klavierspieler ist ja wie ein Zirkuspferd. Wie ein Dressurpferd, das JEDEN Finger einzeln präzise … Ne! Es tut mir leid. Pirouette. Neenenene. Buäh! Ich möchte nicht. Es ist sooo viel Zwang und Dressur in dieser Musik. Fucking Beethoven! Uähhhh! Es ist so Inhibition. Ich höre wieder, wie die Flöten KÄMPFEN müssen. Für die Flöten ist das Spiel mit den anderen zusammen eine Tortur. Ich höre, wie hart es ist, diesen Ton zu halten für die ganzen Holzbläser, die armen Holzbläser tun mir so leid. Es ist das Lächeln, das falsche Lächeln der Stewardess. Das gequälte, falsche Lächeln der Stewardess ist in der Flöte. Und der dressierte Dressurmeister am Klavier!
Charles Gounod – Cäcilienmesse, Sanctus (1855) Ohhh, jetzt kommt aber ein heftiger Chor. Es gibt mir eine Wärme und ein Gefühl von Stärke, es ist unglaublich. (…) Muss ich denn schon WIEDER in den Krieg? Kann ich nicht einfach schlafen? Ey, wenn DAS ne kleine Dosis, will ich nicht wissen, wie ne große aussieht. Mir reicht das vollkommen.
Russill Paul – Om Namah Shivaaya (2008) Und jetzt komm ich in eine Schwerelosigkeit hinein. Siehste. Ich habe losgelassen. Auf einmal spür ich eine Leichtigkeit, eine Schwerelosigkeit … als würde mein Körper schweben für einen Moment. (…) Ohhhhhh. Wie KRASS es sich anfühlt, den eigenen Kopf zu berühren. OHHHHH! Meine Arme werden riiiiesenlang dabei. Shiiiit. (…) Ich hab Hunger. (…) Ohhh, geile, geile Harmonien. Krasse Harmonien. (Fingerschnipsen, singt mit, reibt sich die Hände) Sind das abgefahrene Harmonien! Ich tanze, ich tanze in der Küche, ich stehe auf meinen Füße fest. Oh, jetzt wird’s schnell! (…) Ohhh, und noch schneller! Shuffle!!! Seid Ihr denn wahnsinnig? (singt Rhythmus mit) Krass.
Richard Wagner – Tristan und Isolde, Vorspiel (1865) This is beautiful music. Das ist auf jeden Fall coole Musik. (…) Ich hab gerade das Horn ne Oberstimme spielen hören, es ist unfassbar gut. (…) Okay, was ist das für ne Jahrmarktsmusik jetzt? Klingt ja wie’n Zirkuskarussell. (sic) (…) Das ist hier schon Kapitalismus. In der archaischen Musik spielen die Musikanten um ihr Leben. Die hier spielen für Geld.
Wolfgang Amadeus Mozart – Ave verum corpus (1791) Oh. DAS ist wunderbar. Versöhnlich, mütterlich, bergend. Tröstlich. Okay, aber kraaaaassse tiefe Streicher. Was ist das denn? Oh. Ave verum corpus Mozart, siehste. In den Armen der Mutter liegt er. Tot. Er haut uns das um die Ohren. Nicht subtil. Voll in die Fresse. Super! Fucking Mozart! He’s not very subtle, he’s in the face. I imagine folks like Mahler and all the other Vienna guys after Mozart … they listen to that stuff and think: „Son of a bitch! I could have done that!“ (…) ALTER! Der Akkord hat mich gerade so weggehauen!
Gustav Mahler – 5. Sinfonie, IV. Adagietto (1904) Haaaah! Nein! Sie spielen Mahler (singt mit) Ahhhh, herrlich … wunderbar! (singt) (atmet tief) Im Moment fühlt es sich an, als wäre ich in Kontrolle. Ohhhhh. (singt) Und es ist dann schon wieder der Schmelz. Peter Alexander … ist nur einen Schritt weiter in manchen Passagen. Wahnsinn! (…) Jetzt wird es schon schwächer. (die Wirkung der Substanz)
<Ende>
Interessant, oder? Es gab eindeutig Phasen der Überwältigung. Und am Ende wird daraus eher ein freieres Assoziieren und Klugscheißerei.
Für Geo hab ich mich mehrere Wochen lang damit befasst, wie Psilocybin (die Substanz in Magic Mushrooms) dabei helfen kann, die Symptome einer Depression zu lindern. Ich hab mir auch ein paar andere (quasi-)psychedelische Substanzen angesehen, mit vielen Leuten geredet, ne Depressionsklinik besucht, sehr viel gelesen, ne Menge gelernt dabei und bin inzwischen ziemlich überzeugt, dass die Methode für viele Menschen funktioniert. In ein paar Jahren wird Psilocbyin einen festen Platz in der psychopharmakologischen Therapie einnehmen, all das ist nur noch eine Frage der Zeit, und ich sehe nicht, wie das Projekt noch scheitern kann.
In Ann Arbor sind Magic Mushrooms seit Anfang 2021 dekriminalisiert. Die Polizei unternimmt nichts, wenn sie Pilze bei dir findet. Man darf die Pilze anbauen, pflegen, besitzen und konsumieren.
Ich habe bei lockeren Gesprächen jedenfalls von einem Laden in der Stadt gehört, der die Pilze verkauft. Also bin ich hingefahren, um mit den Leuten dort zu reden. Der Mann hinterm Tresen heißt Dave. Er reagiert völlig entspannt und offen, als ich ihn nach der Sache frage. Tatsächlich: Einige der Produkte liegen ganz unversteckt in der Glasvitrine neben der Kasse. Er sagt, dass mehr als 300 Menschen regelmäßig vorbeikommen, weil die Pilze ihnen helfen. Viele sind depressiv, leiden an einer Angststörung oder an PTSD. Dave sagt, dass er bisher nur von einer Kundin gehört hat, für die die Pilze nichts gebracht haben, obwohl sie wohl mit mehreren Dosierungen experimentiert hat. Man muss dazu sagen: Die großen klinischen Studien, die bisher vorliegen, erzielen deutlich weniger hohe Erfolgsquoten. Aber dort arbeitet man auch unter verschärften Bedingungen, die mit dem Alltag von Patientinnen und Patienten relativ wenig zu tun haben. Zudem verwendet man dort einen synthetischen Wirkstoff. Manche Leute sind skeptisch, ob man damit dasselbe erreicht wie mit den Pilzen selbst. Nun. Das mag alles so oder so sein.
Jedenfalls hab ich meine Geschichte geschrieben, ohne jemals selbst eine psychedelische Erfahrung gemacht zu haben. Ich möchte das gerne ändern. Nicht, um eine Depression zu linden, sondern aus Neugier. Dave erzählt mir ein bisschen davon, wie die Sache bei ihm funktioniert. Er verfügt über diverse Gerätschaften, um die Pilze auf ihren Wirkstoffgehalt zu untersuchen. Am Ende gibt er mir ein Stück Schokolade, das genau ein Gramm getrockneter Pilze enthält. „Die Pilze selbst schmecken nicht besonders gut. Viele mögen die Schokolade lieber“, sagt er.
Ich frage ihn, ob er sich keine Sorgen macht, irgendwann Ärger zu kriegen. Denn die Dekriminalisierung deckt den Handel mit Pilzen nicht ab. Er sagt: „Bisher ist es gutgegangen, und wir helfen so vielen Menschen, die ansonsten keine Hilfe kriegen. We are doing the right thing.“ Ein tapferer Kerl ist das, so viel steht schon mal fest. Ohnehin. Ich hab in den vergangenen Monaten mit relativ vielen Menschen gesprochen, die was mit der psychedelischen Renaissance zu tun haben. Die sind sich in vielen Dingen überhaupt nicht einig – aber alle sind sehr davon überzeugt, das komplett Richtige zu tun. Pilze sind für sie eine Berufung und vor so was hatte ich schon immer Respekt. So fahre ich jedenfalls durch die Sonne zurück nach Hause.
Heute Morgen hab ich dann die Schokolade gegessen. Sie schmeckt wie Schokolade. Sehr cremig. Man schmeckt nicht, dass da noch mehr drin ist.
Alle Menschen mit Erfahrung haben mir vorher ein paar Dinge eingeschärft: Die Pilze allein machen den Job nicht. Die unmittelbare Umgebung rührt kräftig mit an der Seelenrezeptur. Und wie Du gerade drauf bist, das schmeißt auch noch ein paar Zutaten mit ins Ragout. „Set und Setting“. Jaja.
Ich habe mich also vorbereitet: Die Lebensgefährtin gefragt, ob sie meine Sitterin sein will, also aufpassen, falls mich die Panik überfällt und ich dumme Sachen machen will und so weiter. Sie hat zugestimmt, was mich mit großem Dank erfüllt. Der Typ aus dem Trüffel-Shop in den Niederlanden meinte: „Dafür fragst Du am besten wen, dem Du komplett vertraust.“ Gut so. Gut so. Nicki war da während des Trips und es gab ein paar Momente, wo mir das sehr geholfen hat.
Dann die Musik. Einige der besten frühen Psilocybin-Studien der neueren Generation kommen von der Johns Hopkins University. Die haben ihren Freiwilligen während des Trips eine Playlist auf die Ohren gegeben. Es gibt auch Studien dazu, ob womöglich eine weniger westlich orientierte Playlist in einer Therapie zu besseren Ergebnissen führt. Antwort: Es ist relativ egal. Vielleicht braucht man am Ende eine personalisierte Musikauswahl, man weiß das aber nicht so genau. Ich jedenfalls lade mir auf Spotify die Klassik-Playlist der Johns-Hopkins-Leute herunter und stelle dann mein Handy auf Flugmodus.
Dann die Schokolade. Ich setz‘ mir eine Augenbinde auf, weil mich die Geister der Innenwelt viel mehr interessieren als die womöglich lustigen Effekte der äußeren Wahrnehmung. Dann stell ich die Musik an und lege mich ins Bett.
Ich hatte während der Reise einen Audiorekorder mitlaufen und bin schon gespannt, was ich unterwegs alles erzählt habe. Werde in den kommenden Tagen mehr darüber schreiben.
Jetzt schon mal ein paar grobe Dinge aus der Vogelperspektive.
Mir war die ganze Zeit ein bisschen schlecht. In Amsterdam haben sie neben jeden Coffeeshop nen Waffelladen gesetzt. Das läuft mit Pilzen nicht. Man will womöglich kotzen, aber sicher nicht essen.
Körperlich fühlt es sich lange an wie ein Mix aus „sehr betrunken“ und „39,8 Grad Fieber“.
Die erste Stunde war alles andere als schön. Die englische Überschrift über meine Visionen lautet: „Being food“. Ich habe sehr, sehr viele sehr große Zähne gesehen. Jetzt: Mitgefühl mit allem, was gegessen wird.
Ich hatte extrem tiefe emotionale Phasen, die sich in atemberaubenden Tempo abgewechselt haben. Nicht alle Emotionen waren drin in dem Mix. Längst nicht alle. Aber anders als MDMA hat der Pilz irrsinnig viele Gesichter.
So ein Trip ist keine sehr soziale Veranstaltung. Man ist erstmal allein. Auch hier: ganz anders als MDMA.
Immer wieder Zorn auf die Musik. Auf große Terzen, dann auf das Fehlen von Terzen, auf Holzbläser, Blechbläser. Tiefe Erkenntnisse über die harte Arbeit des Flötenspiels und die Intonation im Orchester. Arme, arme Holzbläser. Nicki sagt: „Du hast sooo viel über Musik geredet.“ Später mehr.
Und dann: Krieg. Kampf. Mauern, um das Böse fernzuhalten. Sterben. Überleben. Feuer. Es war alles nicht schön. Aber es musste sein.
Ich hatte eine Reihe von Erkenntnissen. Jede Erkenntnis sagt: „An mir kommt ab jetzt niemand mehr vorbei.“ DAS ist das BESTE an der ganzen Sache. Auch hier: später mehr.
So. Ich bin noch immer in der Ausklingphase. Ich hatte nur ein Gramm, eine Hasenfußdosis für Anfänger. Drei Gramm sind ein erwachsener Trip, nach allem, was man mir so erzählt, und in der Depressions-Behandlung arbeiten sie auch mit viel höheren Dosen.
Der Pilz ist keine sanfte Droge. Er schont nicht. Er ist nichts, was ich zum Vergnügen machen würde. Aber er öffnet Türen. Die Türen führen tiefer nach unten, als ich im Alltag steigen kann. Manche führen auch nach oben. Bin froh, dass ich dabei war.
Es gab diesen einen Moment, wo die ganze Last abgefallen ist in einem großen Gelächter. Und all das war wahr zugleich in diesem Augenblick: Das Elend war wahr. Das Gefressenwerden war wahr. Der Kampf gegen das Monster war wahr – und das Gelächter über mein Leben als Mensch war wahr und dass alles schwerelos ist und wunderbar leicht.
Jetzt schnapp ich mir den Hund und dann machen wir einen Spaziergang.
Ach ja: Die bunten Bilder aus den psychedelischen Filmen, wo sich Dinge verformen und krassen Farben kriegen – davon hab ich Null mitbekommen. Im Gegenteil. Wenn die Bilder im Inneren zu heftig waren, dann hab ich die Augenbinde abgenommen und in den Garten geschaut und dort war es schön und friedlich und alles sah aus wie immer.
Vor ungefähr nem Jahr hat Karein mich zu einer Veranstaltung an der hiesigen Uni eingeladen. Da treffen sich Studierende, die an der University of Michigan Deutsch lernen. Fast alle studieren noch ganz andere Fächer, aber wo man schon mal hier ist … warum sich nicht auch noch nebenbei ne Fremdsprache reinpfeifen? Wann machen die das alles??? Ich bin jedesmal wieder platt, was die Kinder hier alles draufhaben, wie offen und unverstellt sie einem begegnen, wie Erwachsene, die ganz selbstverständlich mit Erwachsenen reden. Nicki sagt: „Das sind Leute, die ihre Highschool mit ner glatten Eins abgeschlossen haben.“ Als Lehrer wär das hier ein Traumort. Natürlich ist mir klar, dass die ganze Institution komplett privilegiert ist und zugeschüttet wird mit Geld, das dann halt nicht anderswo sein kann und so weiter. Alles problematisch. Aber heute ist mir das egal.
Jedenfalls sitzt man während der Deutschstunde beisammen, trinkt Kaffee und Tee, mümmelt Süßigkeiten und redet über irgendwas in dieser seltsamen, sperrigen Sprache aus der alten Welt. Manchmal werden Gäste eingeladen und heute war das eben ich. Ein paar von denen interessieren sich tatsächlich für Journalismus. Weil ihnen das Schreiben Spaß bringt. Oder weil Radio cool ist. Hach. To be young.
Vorher hab ich Karein ein paar mögliche Themen zugemailt und dann durften die jungen Leute bestimmen, was sie am meisten interessiert. Auf dem ersten Platz gelandet ist „Wie man Depressionen mit Psychedelika behandeln kann“. Ich hab gerade für Geo ne große Geschichte darüber geschrieben, die demnächst erscheinen soll. Beim Gespräch ist mir aufgefallen, dass die jungen Leute relativ gut über Magic Mushrooms informiert sind. Einer davon hat mal in einer Apotheke gearbeitet und mich dezent auf ein entsprechendes Detail in der US-Gesetzgebung hingewiesen. Alles eine Freude. Die Zauberpilze sind in Ann Arbor seit einiger Zeit nicht mehr verboten, Microdosing scheint mir nicht komplett unüblich zu sein. Bald mehr davon auf diesem Kanal.
Hier auf dem Foto steh ich an der Bushaltestelle, um zur Uni zu fahren. Sieht man mir die Vorfreude an? Es ist jedenfalls ein wunderschöner Tag, nicht mehr so warm wie an den Tagen zuvor, aber strahlend blau und frisch, voller Farben, schöner Herbst.
So. Und kaum kommen wir aus der Kaffeestunde raus, stolpern wir auch schon in die nächste krasse Sache: eine Fotoausstellung nur ein paar Räume weiter. Heftige Bilder vom Einsatz der US-Truppen in Afghanistan, vom Drogenkrieg an der mexikanischen Grenze, aus Guantanamo. Alter! Wer kommt an diese Motive ran? Zum Beispiel an diesen Stuhl in Guantanamo. Die Riefen hinterm Stuhl erzählen ihre eigene Geschichte. Sie haben vermutlich mehr gehört und gesehen, als die meisten von uns verkraften könnten.
Der Fotograf Louie Palu erzählt von Einsätzen im Helikopter im Kriegsgebiet. Runter auf den Boden mitten in der Nacht, um Verletzte oder Tote zu bergen. Licht für eine Minute, damit er Bilder machen kann. Dann nichts wie weg, bevor das feindliche Feuer einsetzt. Monate im Marine-Camp in Afghanistan. Er sagt: Er hat im äußersten Vorposten der US-Truppen gewohnt. In den ersten Tagen ruht seine Kamera. „Willst Du nicht mal Bilder machen?“, fragen die Soldaten. „Ich muss euch erst kennenlernen“, sagt Louie. Dann irgendwann entdeckt er, wie die Sandsäcke vor dem Bunkereingang zu einer bestimmten Tageszeit das Sonnenlicht ins Innere des Schutzraums reflektieren. Dort macht er seine Porträts, 50 mm Objektiv, kein Firlefanz. Die Jungs, die er fotografiert, sind zum Teil jünger als mein Sohn heute. Und, Mann, sehen die kaputt aus.
Ich frage ihn, wie er klarkommt mit allem, was er gesehen hat. „Zwei Jahre Therapie“, sagt er, und dass Afghanistan ihn verändert hat. Seine Eltern waren Kinder in Norditalien, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die 19-jährigen deutschen Soldaten kamen ins Haus, um nach Partisanen zu suchen, die Partisanen kamen ins Haus, um irgendwas zu Essen zu kriegen. „Ich musste meinen Teller als Kind immer bis auf den letzten Krümel leer essen“, sagt Louie. Und so ist sein Job auch eine Suche nach der eigenen Vergangenheit, der eigenen Herkunft und den Traumata seiner Ursprungsfamilie.
Biotop Uni. Jede Zufallsbegegnung ne Story und dann auch so viel Zukunft und great expectations. Wer hat sich das ausgedacht? Es war ein schöner Tag.
Am 8. November steigen hier in den USA die so genannten Halbzeitwahlen (Midterms). Habe jetzt durch Zufall mitbekommen, dass der gepfefferte Wahlkampf sogar schon die Welt der Gewürze erreicht hat. Und zwar ging das so: Nicki kauft viele ihrer Gewürze online von einem Hersteller namens Penzeys. Ich habe gestern mit einem Kumpel gesprochen, der sein Geld mit gewürzten Lebensmitteln verdient. Er sagt: Die Gewürze von Penzeys haben eine unerreichte Qualität. Vor Jahren hat er selbst seine Gewürze von dort bezogen. Irgendwann hat die Firma aber aufgehört, ihre Waren in großen Mengen an andere Unternehmen zu verkaufen. Man kriegt jetzt nur noch die kleinen Packungen für den Einzelhandel, für ihn ist das natürlich viel zu teuer. Er hat das sehr bedauert.
Jedenfalls verkauft Penzeys jetzt eine neue Gewürzmischung mit dem Namen „Outrage“. Für Nicki war das zunächst ein privater Insider-Gag. Denn wir haben eine Reisebegleitung: Piglet. Manchmal kocht Piglet Pasta für uns wie im Bild unten. Meist aber geben wir Piglet eine eigene Stimme und üblicherweise ist der Sprechmodus purer „Outrage“: Piglet kriegt mit Piepsstimme einen Wutanfall nach dem anderen und endet jede Tirade mit dem Satz: „It’s outrageous!“
Albern. Aber lustig. Und eine erprobte psychologische Intervention: Ein Gedanke belastet uns –> wir sprechen ihn laut aus in einer Piepsstimme –> wir können uns besser von diesem Gedanken distanzieren und hören auf, sozusagen dieser Gedanke zu sein.
Jedenfalls freuen wir uns über dieses Gewürz. Erst als wir das Kleingedruckte auf dem Label lesen, fällt uns auf, dass es hier nicht um Spaß geht, sondern um etwas Größeres.
„Die fortlaufenden Bestrebungen der Republikaner, die Demokratie zu beenden, ist empörend“, heißt es dort. „Wann hört eine Partei auf und wann beginnt Faschismus? Wenn die guten Leute aufhören, wütend zu sein. Eure Liebe ist stark; nutzt sie, um die Empörung am Leben zu halten.“
Das sind Sätze, wie ich sie auf einer kommerziellen Gewürzverpackung bisher selten gelesen habe. Nicki schickt mir bald darauf den aktuellen Newsletter, den Bill, der Besitzer des Würzunternehmens, an seine Kundschaft verschickt. Offenbar hat Bill vergangene Woche folgende Botschaft verschickt: „Don’t be mean. Don’t vote Republican.” Er hat anscheinend ein paar scharf gewürzte Antworten von konservativer Seite erhalten. Jetzt schreibt er: Wer Republikaner wählt, ist „nicht mehr mit der wirklichen Welt verbunden“. Und weiter: „Es liegt jetzt am Rest von uns, unsere Meinung zu sagen, solange unsere Stimmen noch gezählt werden. Am 8. November haben wir die Möglichkeit. Sorgt dafür, dass jeder, den ihr kennt, einen konkreten Plan dafür hat, auch hinzugehen. Nehmt sie im Auto mit, wenn es sein muss. Diese Wahl zählt wirklich.“
Im Wikipedia-Eintrag des Unternehmens lese ich, dass Bill Penzey schon länger politisch aktiv ist. Zum Beispiel hat er im Januar 2022 das „Martin Luther King Jr. Day sale weekend“ in „Republicans are racist weekend“ umgetauft. Angeblich hat er dadurch auf einen Schlag 40.000 Kundinnen und Kunden verloren – dafür aber aus dem anderen Lager 30.000 neue Leute dazugewonnen. Auf einer konservativen Anti-Penzeys-Seite habe ich eine Angabe gefunden, wonach er durch seine politischen Äußerungen seinen halben Jahresumsatz eingebüßt hat. Der Eintrag dort stützt sich auf einen „anonymen Insider“. Kann sein, dass die Zahl frei erfunden ist, man weiß es einfach nicht.
Ich glaube ja noch immer dran, dass man im Prinzip mit den meisten Menschen reden kann. Penzeys Aktion wird hier in Ann Arbor weithin beklatscht, sie scheint mir insgesamt aber eher spaltend zu wirken.
Wir haben „Outrage“ jedenfalls auf unsere gedämpften Maiskolben gestreut und es hat sehr gut geschmeckt und dem Mahl einen gewissen Kick verliehen.
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