bookmark_borderBekocht werden kann man nicht alleine

Bekocht werden ist so toll. Und man kann es nicht allein, denn das müssen andere für einen machen.

Am Samstag zum Beispiel war ich seit langer Zeit mal wieder auf ner Kohlfahrt. Eine Kohlfahrt ist eine lange und vielköpfige Winterwanderung, die mit der Einkehr in einer Gastwirtschaft endet, wo dann ein traditionelles Grünkohlgericht gereicht wird. Mancherorts gehören viele geistreiche Gespräche und ebensolche Getränke dazu.

Ich habe dieses Brauchtum während meiner Studienzeit in Oldenburg kennengelernt. Nach meinem Umzug nach Hamburg und ins Hamburger Umland hat mir das dann sehr gefehlt, so dass ich einfach meine eigene Kohlfahrt veranstaltet habe. Das hat 2005 angefangen und war Jahr für Jahr immer toll.

Irgendwann haben die Gezeiten des Lebens mich dann in eine andere Ecke verschlagen, weshalb die alten Nachbarn die Sache einfach ohne mich weitergemacht haben. Es war eine Freude, da mal wieder mitzulaufen und all die bekannten Gesichter wiederzusehen. So eine Kohlfahrt ist eine tolle Sache und dass man dabei auch noch bekocht wird, hat mir doppelt gefallen.

Am Sonntag stand dann mein alter Freund Kai vor der Tür. Er hatte Lasagne gemacht und mit den Mengen übertrieben; jetzt drückte er mir eine Doppelportion davon in die Hand und wünschte mir einen guten Appetit. Herrlich war das. Er hat die Soße mit Estragon gewürzt, was dem Gericht eine spezielle und vermutlich bekömmliche Note gab.

Bekocht werden kann man nicht alleine.

Soziale Netzwerke entstehen erst, wenn andere mit uns in Kontakt treten und wir mit ihnen.

Der Mensch ist ja fast nichts ohne andere Menschen. Und wie dicht oder lose dieses Netzwerk an Liebe und Verbindung um einen her gewoben ist, wie jung diese Fäden sind und wie alt, wie gepflegt oder verstaubt, wie elastisch oder brüchig – all das kann man fühlen, fast körperlich. Das Netzwerk bestimmt, wer wir eigentlich sind, welche Informationen uns zugespielt und über unsere Ohren und Stimmen weitergetragen werden. Ob wir uns sicher und geborgen fühlen oder einsam und bedroht.

Es gibt Psychologen, die gar behaupten, dass unser Selbstwertgefühl nichts anderes ist als eine Art Tankanzeige auf dem Armaturenbrett unserer Seele. Wenn wir uns gut und stabil fühlen, steht alles auf Grün. Unser Netzwerk ist intakt, die Menschen um uns her mögen und schätzen uns. Aber wenn wir uns fühlen wie die letzte Wurst, laufen wir auf Reserve. Das fühlt sich beschissen an, und das Gefühl sagt: „Tu was! Kümmer‘ dich! Dein Netzwerk zerbröselt und du stehst ganz am Rand, bald wird keiner mehr anrufen, du wirst allein dasitzen – und dann wird es kalt und die hungrigen Raubtiere werden um deine Jurte schleichen und was dann? Tu was! Kümmer‘ dich!“

Auf Schlau nennt man das die „Soziometer-Theorie“, sie hat mir immer eingeleuchtet.

Ich würde auch sagen, dass meine Netzwerke in Hamburg ganz anders verwoben sind als in Michigan. Dort ist es leichter, mit Fremden sehr gute und tiefgehende Gespräche zu führen. Viel leichter sogar. Es passiert auch häufiger. Hier dagegen gibt es mehr Menschen, die sich freuen, wenn man ihnen über den Weg läuft. Mehr Fäden schießen kreuz und quer durchs Gewebe. Vielleicht liegt das an den sozialen Normen, an der Kultur, vielleicht aber auch an der insgesamt vor Ort verbrachten Zeit. Da hat Hamburg für mich noch immer die Nase vorn. Man weiß es nicht so genau.

Jedenfalls will ich folgendes loswerden: Man soll es so halten wie meine alten Nachbarn. Man soll Kohlfahrten veranstalten, bei der viele Menschen miteinander reden und sich danach bekochen lassen. Man soll es machen wie mein alter Freund Kai. Man soll immer mal wieder ein bisschen zu viel Soße und Pasta kochen und die Sachen dann spontan wem vorbeibringen, den man mag.

Denn all das macht die Welt zu einem besseren Ort.

Ganz sicher.

bookmark_borderKahlschlag bei Gruner + Jahr – was für eine Schande

Vorhin auf dem Hamburger Rathausmarkt gewesen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben dort gegen den Kahlschlag bei Gruner + Jahr demonstriert. Kurz davor hatten die Bertelsmann-Leute verkündet, dass sie mehr als 20 Zeitschriften einstellen und einen Haufen weiterer Titel verscherbeln wollen. Ein paar hundert Jobs werden wegfallen, ich habe traurige Gesichter gesehen.

Was für eine Schande!

Und klar kann man jetzt sagen: So läuft’s in der Marktwirtschaft. Wenn keiner mehr die Magazine kauft, muss man irgendwann hinschmeißen.

Über den Verlust der beruflichen Heimat kann ich wenig schreiben. Das ist nicht meine Perspektive, denn ich bin Freiberufler, ein vaterlandsloser Geselle, wie meine Großeltern gesagt hätten. War beim Rathaus deshalb einer von denen, die nicht geweint haben.

Ich will nur EINEN Punkt herausheben, um zu zeigen, was heute alles verlorengeht. Für die Ausgabe von Geo, die derzeit am Kiosk liegt, hab ich die Titelgeschichte geschrieben. Es geht um psychedelische Drogen, mit deren Hilfe man jetzt schon in wissenschaftlichen Studien behandlungsresistente Depressionen behandelt.

Meine erste Version davon – ich hab nachgesehen – hatte mehr als 75 Quellenangaben am Rand stehen. Es frisst ne Menge Zeit, all das zu dokumentieren, aber bei Geo geht es nicht anders. Dort sitzen unfassbar kluge, fleißige, belesene und auch noch freundliche Menschen, die sich die Zeit nehmen, jede einzelne der genannten Studien zu prüfen. Manchmal kommen dabei Rückfragen in einer Qualität, von der man andernorts nur träumen kann. Die machen das nicht, weil’s Spaß bringt, sondern damit am Ende möglichst wenig Unsinn gedruckt wird. Unsinn ist schnell geschrieben, und ich war deshalb jedesmal heilfroh, dass sich jemand meine Texte mit wachem Blick und richtig viel Checke nochmal angesehen hat.

Geo selbst soll, so hört man, erstmal bleiben. Die meisten anderen Titel aus der Geo-Familie werden eingestellt. Auch das unvergleichliche Geo-Epoche, das beste Geschichts-Magazin, das man in deutscher Sprache kriegen kann. Auch Geo Saison. Geo Wissen. Walden. Alles weg.

Die ganzen P.M.-Magazine, für die ich seit fast 15 Jahren schreibe, sollen verkauft werden. Die Hefte werden danach wohl noch ne Weile erscheinen, aber besser und zuverlässiger werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.

Gute Geschichten sind deshalb gut, weil viele Leute an ihnen arbeiten. Weil Abläufe da sind, um die Inhalte zu bewachen, um die Sprache zu bewachen, die Story zu bewachen. Aber Abläufe kann man nicht sehen. Sehen kann man nur das bunte Papier, das man nach Hause trägt. Ein Kumpel hat sich darüber gewundert, dass er für Geo am Kiosk knapp zehn Euro bezahlen musste.

Und jetzt?

Informationen wird es natürlich immer noch geben. Geschichten wird es immer noch geben. Aber sie werden morgen unzuverlässiger und schlechter sein, als sie gestern noch waren.

Meine Schwester meinte gerade am Telefon: „Im Internet kann ja jeder alles Mögliche schreiben. Woher soll ich denn wissen, was stimmt und was nicht?“ Genau so ist es.

Etwas geht zu Ende.

Es gefällt mir nicht.

bookmark_borderJuhu, das „Rettungsbrot“ lebt immer noch!

In meiner Hamburger Nachbarschaft liegt die nach eigenem Bekunden „kleinste Biobackstube Hamburgs“. Es handelt sich um das „Rettungsbrot“ in der Klaus-Groth-Straße in Borgfelde.

Und dass es den Laden dort immer noch gibt, ist nichts weniger als ein Wunder. Bei meiner Abreise nach Michigan im September hat mir Martin, der Besitzer, nämlich eröffnet, dass er hinschmeißen will. Wie man hört, hat der gute Mann jede Woche 80 Stunden lang dafür geschuftet. Er ist schon deutlich in seinen 60ern und hat auf mich immer einen sehr fitten und fröhlichen Eindruck gemacht. Aber trotzdem, man versteht es, genug ist irgendwann genug.

Hier auf dem nächsten Bild kann man übrigens erahnen, dass es sich wirklich um einen klitzekleinen Laden handelt. Genau von der Sorte also, die man überall verschwinden sieht und danach weint man dann bittere Tränen.

Jedenfalls bin ich jetzt seit ein paar Tagen wieder in der Stadt und Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut hab, als im Rettungsbrot noch Licht brannte. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, kein handgeknetetes Biobrot mehr von jenseits der Straße kaufen zu können, sondern das Zeug ausm Supermarkt essen zu müssen. Jetzt aber: Juhu, das Rettungsbrot lebt immer noch!

Im Laden steht jetzt jedenfalls Dirk. Er ist Bäcker und hat – ich vermute aus purem Enthusiasmus – den Laden übernommen und Martin überredet, sich noch für zwei Tage die Woche in die Backstube zu stellen für einen geschmeidigen Übergang.

Dirk und ich sind nicht nur ein einem ähnlichen Alter, wir besuchen offenbar auch denselben Friseur.

Ich möchte jedenfalls, dass viele Menschen im Rettungsbrot einkaufen. Wollen wir Leute wie Dirk nicht unterstützen, so gut wir können? Doch, das wollen wir! Das Brot und der Apfelkuchen sind wirklich außergewöhnlich klasse. Und Franzbrötchen wie hier kriegt man nirgendwo sonst in der Stadt, wirklich nicht. Also: Wenn Ihr in der Gegend wohnt oder mal in der Nähe zu tun habt, checkt den Laden aus.

Und jetzt noch eins: Dirk braucht wen, der am Wochenende oder auch unter der Woche im Laden Sachen verkauft. Er kann nicht alles allein machen. Mir ist klar, dass der Markt für solche Jobs schonmal günstiger aussah, aber wer weiß? Vielleicht liest hier ja jemand mit, der Lust hat, in der kleinsten Biobackstube Hamburgs ein paar Taler zu verdienen? Oder wen kennt, der wen kennt? Das Publikum ist sensationell, wie früher aufm Dorf, als ich noch ein Junge war.

Hier geht’s übrigens zur Homepage des Ladens: http://www.bio-baeckerei-rettungsbrot.de

So. Und jetzt schmier ich mir mein Abendbrot. Irgendwas mit Roggen und Dinkel. Es wird sehr gut schmecken.

bookmark_borderDie 1. Klasse ist in Wahrheit gar nicht erstklassig

Zurück in Deutschland. Bin also mal wieder mit dem ICE gefahren, und dabei hat ein sehr günstiges Angebot der Bahn mich dazu verleitet, mit alten Gewohnheiten zu brechen und in die 1. Klasse zu steigen.

Die Sache mit den Status-Unterschieden fällt mir bei den Reisen über den Teich immer wieder in die Augen, weil die Airlines dabei alle menschlichen Schwächen nutzen, um auf möglichst schmerzhafte Weise möglichst viel Kohle zu machen. Zum Beispiel: beim Einsteigen. Jeder weiß es, aber es beschämt einen halt trotzdem jedesmal wieder neu. Alle stehen am Gate, dann dürfen irgendwelche Leute zuerst einsteigen, während man die Normalos dazu zwingt, dem Privileg mit neidischen Blicken zu folgen. Da bezahlt man natürlich gern etwas mehr für die Businessclass. Unser 7. Sinn für Status ist ein „Stone Age Bias“, wie es ein paar kluge Leute man formuliert haben. Man kann’s uns kaum austreiben, also erklärt man’s zum Geschäftsmodell.

Bei der Bahn jedoch entfällt all das. Man darf nicht früher einsteigen, nur weil das Ticket teurer war. Sie zwingen „the hoi polloi“ auch nicht dazu, sich später schamvoll vorbeizudrücken an den Vornehmen, die bereits sitzend am Sekt schlürfen, das Handgepäck sicher verborgen im für alle anderen knappen Überkopfstauraum. Im Prinzip finde ich das ja besser so, dennoch nimmt es dem Ganzen natürlich dieses heimelige quasi-koloniale Kribbeln, das man bei den aufgeblasenen Businessclass-Leuten in der Leibgegend vermutet.

Und dann die Fahrerfahrung selbst! Sind die Sitze geräumiger? Vielleicht. Ich spüre es aber nicht. Und überhaupt: Wenn die Bahn nicht überall ein dickes „1.“ auf die dünnen Hinterkopfpolsterkissen applizierte hätte – mir wäre der Unterschied insgesamt nicht aufgefallen.

Naja.

Vielleicht doch. Denn alle paar Minuten kam wer vorbei, um einem einen Kaffee aufzuschwatzen. Das hat die Ruhe dann doch erheblich gestört. Und mir mal wieder gezeigt, wie wenig man lernt aus leidvollen Erfahrungen vergangener Jahrzehnte. Denn NATÜRLICH hab ich irgendwann zermürbt gerufen: „Dann bringt mir in Gottes Namen halt auch einen!“ Junge, Junge, Junge! Ich wüsste gar nicht, wie ich zu Hause eine derart abscheulich übersäuerte Plörre zubereiten sollte. Wirklich nicht. Was muss man dafür bitte alles ins Wasser kippen? Hab das Zeug dann natürlich trotzdem ausgetrunken, wo ich schon mal dafür bezahlt hatte (→ „sunk cost effect“).

Nun ein Wort zum Publikum, also denen, die offenbar gewohnheitsmäßig in den teuren Wagen sitzen: Es sind überwiegend Männer. Wichtige Männer. Ihr Haupthaar ist schütter und ergraut wie das meine, und sie machen die Reise nicht zum Vergnügen, sondern gehen fernmündlich (aber selbstbewusst!) irgendwelche Businesspläne durch, attendieren virtuelle Meetings und debattieren mit Kollegen allerhand Orgazeugs. Dann kurz ein Call in der Zentrale: „Wie hieß nochmal meine Mentee ausm Rechenzentrum? Melanie! Stimmt! Natürlich!“

Irgendwann dann Ankunft in Hamburg. Die Freude über den blauen Himmel: unbezahlbar.

Auf der linken Seite, dort also, wo am Zielbahnhof der Ausstieg sich befand, waren, wie uns allen erst jetzt bewusst wurde, drei von vier Türen defekt.

An Luke Nummer vier bildeten sich dann die entsprechenden Schlangen von beiden Seiten. Immerhin: Die anderen Mitreisenden ertrugen all das mit Fassung. Der Anzeigenmonitor im Wageninneren schrieb gelegentlich Sätze in französischer Sprache.

Was ich mit all dem sagen will: Die 1. Klasse ist alles andere als erstklassig. Not worth the money. Ich schreib das hier nieder, damit ich’s nicht genau so vergesse wie diesen gustatorischen Amoklauf, den sie für 3,80 als „Kaffee“ verkauft haben.

Aber insgesamt will ich mich nicht beschweren, denn die von mir erworbene Dienstleistung bestand in einer Fahrt von einem Bahnhof zum anderen. Und das – ich muss es zugeben – hat die Bahn in meinem Fall wirklich spitzenmäßig hingekriegt.

bookmark_borderKünstliche Intelligenz: Ich hab die Zukunft gesehen. Sie ist sehr unheimlich

Metzger’s Michigan Monday #13

Im Februar 2017 war ich in Portland/Oregon auf einer Forschungskonferenz namens CSCW. In einem der Vorträge ging’s um das Konzept der „Affordanz“, über das ich neulich schon mal was geschrieben habe. Ich weiß das alles noch ziemlich genau, weil in der anschließenden Diskussion die hochgeschätzte Jessica Vitak von der University of Maryland was sehr Schlaues gesagt hat. Nämlich: dass im Moment noch alle Social Media beforschen – bis das nächste große Ding kommt, von dem im Moment aber noch keiner weiß, was genau das sein wird. Und natürlich ist das ein Gemeinplatz. Alles hat seine Zeit und endet irgendwann; jedes Bild umgibt ein Rahmen, zu dem natürlich stets auch ein Jenseits existiert. Trotzdem hat mich Vitaks Satz damals sehr inspiriert. Dieser Tage musste ich häufig an ihn denken, denn: Das nächste große Ding ist da. Wir haben jetzt alle die Zukunft gesehen. Sie ist faszinierend und wird, wenn ich das richtig einschätze, viele, viele Menschen den Job kosten.

Natürlich spreche ich von „generative AI“, jener Form der Künstlichen Intelligenz, die in der Lage ist, neue Inhalte zu erzeugen. Neue Bilder. Neue Musik. Neue Texte. Solche Dinge. Das Bild oben zum Beispiel stammt von so einer Maschine. Ich habe Dall-E einfach gesagt, dass ich mir ein Bild wünsche, das das Überredungsprinzip der Reziprozität im Stile von Paul Klee malt. Ein paar Sekunden später hat mir das Ding dann mehrere Versionen ausgespuckt, das Bild oben hat mir am besten gefallen.

Dall-E ist kostenlos, ein Produkt von „OpenAI“, einem milliardenschweren gemeinnützigen Forschungslabor aus San Francisco, das gelobt hat, nur Gutes mit der neuen Technologie zu bezwecken. Elon Musk hat da ne Menge Geld reingebuttert, die Firma Microsoft ebenfalls. Falls Ihr noch nicht mit Dall-E rumgedaddelt habt: Macht es, sobald Ihr ne freie Minute dafür habt. Man muss sich anmelden – und kann sofort loslegen. Lasst Euch Bilder malen. Denkt Euch interessante Anfragen aus. Nur, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was die Maschine alles kann. Vielleicht auch für das, was sie nicht kann.

Dass Künstliche Intelligenz/Artificial Intelligence irgendwann mal den ganzen Laden aufmischen wird – geschenkt! Aber manchmal fehlt mir – wie viele anderen Menschen – einfach die Fantasie, ums sich so etwas wirklich vorstellen zu können.

Die ersten beiden Schüsse vor den Bug in dieser Hinsicht hab ich dann Ende 2019/Anfang 2020 bekommen. Ende 2019 hab ich für Brand Eins Richard Socher interviewt, der damals Chief Data Scientist von Salesforce war. Er hatte auf einer Konferenz in San Francisco gerade eine Demo-KI vorgestellt, die als Telefonstimme Kundenanfragen beantworten konnte. Sie hat das viel besser, fürsorglicher und eleganter gemacht, als die meisten Menschen aus Fleisch und Blut das hinkriegen würden. Das war schon mal n Hammer und hat mich sehr beeindruckt. In unserem Interview haben wir natürlich auch über die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gesprochen. Er meinte damals: „Einige Jobs werden wegfallen. Und viele Jobs werden sich durch KI verändern.“ Denn: „KI wird uns all das abnehmen, was ermüdend und langweilig ist.“ Das hat mich in meiner egoistischen Sicht natürlich erstmal beruhigt, weil ich meinen eigenen Job ja für wahnsinnig wichtig und aufregend halte (ich lache beim Tippen dieses Satzes bitter in mich hinein).

Im März 2020 saß ich dann in Berkeley bei einer Konferenz, wo’s um Roboter ging. Auch daraus ist letztlich eine Geschichte für Brand Eins geworden. Eine Keynote hat dabei der Lokalmatador Stuart Russell gehalten, der die Sache mit der Künstlichen Intelligenz wesentlich weniger optimistisch eingeschätzt hat als sein Kollege aus der Industrie. Er sah die KI als mögliche Bedrohung der Menschheit und war der Meinung: Wir haben die Sache eigentlich nur dann noch weiter im Griff, wenn wir den Maschinen nicht explizit verraten, was wir eigentlich von ihnen wollen. Im Grunde hat Stuart Russell also die Story von Goethes Zauberlehrling erzählt (ich sage das nur, um das Argument verständlicher zu machen, nicht um es abzuwerten. Dass eine Story alt ist, ändert nichts an ihrer Gültigkeit).

Jetzt jedenfalls Dall-E. Mir ist Angst und Bange geworden um all die Menschen in meinem weiteren Umfeld, die irgendwas mit Grafik machen. Wer bezahlt noch eine Illustratorin, wenn eine Maschine dieselbe Arbeit womöglich umsonst macht – und das auch noch viel, viel schneller?

Dann kam im Dezember der Chatbot ChatGPT, auch wieder aus der Schmiede von OpenAI. Ein Chatbot ist eine Maschine, die so tut, als wäre sie ein Mensch. Man schreibt einen Text in ein Eingabefenster – die Maschine antwortet. Solche Dinge gibt es schon länger, aber DIESE Maschine war so gut, so schlau, so menschlich, dass ich zum ersten Mal Angst um mich selber bekommen habe. Ich habe die erste Nacht nach meiner Anmeldung dann entsprechend wenig geschlafen, weil ich die ganze Zeit mit dieser Maschine geschrieben habe. Es war der Hammer. Wir haben die Moralphilosophie von Kant und Aristoteles diskutiert. Wir haben über psychologische Forschung diskutiert. Das Ding hat mir ein Weihnachtslied geschrieben. Es hat irgendwann auch angefangen, in meiner Muttersprache mit mir zu reden. Alles astrein. Und ich wiederhole mich auch hier: Falls Ihr noch nicht mit ChatGPT rumgedaddelt habt: Macht es, sobald Ihr ne freie Minute dafür habt. Lasst Euch Texte schreiben. Denkt Euch interessante Anfragen aus. Nur, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was die Maschine alles kann. Vielleicht auch für das, was sie nicht kann.

Angeblich drehen bei Google im Moment alle durch, weil sie Panik schieben, dass ChatGPT ihnen das gesamte Geschäft kaputt machen könnte. Wäre es nicht toll, so einen wunderbaren Chatbot mit einer Suchmaschine wie Google zu kombinieren? Gibt’s inzwischen auch schon. Der oben erwähnte Richard Socher hat inzwischen seinen eigenen Laden aufgemacht: Eine Suchmaschine namens „You“, die man – so der Pitch – besser kontrollieren kann als Google. Und einen eigenen Chatbot hat das Ding seit ein paar Tagen auch. Ich hab ein bisschen damit gespielt, die Ergebnisse fand ich ganz brauchbar. Wenn Ihr Zeit habt: Checkt es aus.

Man weiß aus der Forschung jedenfalls, dass wir Menschen auf so eine Maschine reagieren, als wären sie selber ein Mensch. Genau so, wie wir Kasperlepuppen als handelnde Menschen wahrnehmen. Wie Kuscheltiere zu quasi-menschlichen Begleitern für uns werden. Wir schließen Freundschaft mit der Maschine. Wir empfinden Sympathie. Sogar Liebe. Im Frühjahr 2022 war ich auf einer psychologischen Forschungskonferenz namens SPSP in San Francisco. Ein junger Forscher von der University of British Columbia hat dort über ein Experiment gesprochen (ich hab ne kurze Geschichte für P.M. drüber geschrieben), das er mit einem weniger guten Chatbot als ChatGPT und vielen Freiwilligen gemacht hat. Sein Fazit lautet: Anders als bei den selbstfahrenden Autos wird es mit dieser Technologie NULL psychologische Widerstände geben.

Null.

Unserer Seele ist egal, ob sie mit einem Menschen redet oder mit einer Maschine, die nur so tut. Wir werden dem Ding bald unsere tiefsten Geheimnisse anvertrauen.

Wie gut ist der neue Chatbot von OpenAI genau? Ich hau nur mal ein paar Sachen raus, die ich so gehört habe aus meinem Umfeld: Ein Psychologie-Professor aus Kanada hat die Maschine eine Uni-Klausur schreiben lassen – das Ding hat besser abgeschnitten als 80 Prozent der Studierenden.
Ich höre von Leuten aus der Juristerei, dass die Maschine sehr brauchbare Gerichtsurteile schreiben kann.
Die Machine schreibt auch sehr ordentliche Werbebotschaften, die man dann einfach auf Instagram stellen kann.
Menschen, die Computerprogramme schreiben, lassen sich von der Maschine Teile ihrer Arbeit abnehmen. Der Code ist eleganter als das, was die meisten Fachleute hinkriegen. Und schneller ist er eh.

Klar, das Ding ist nicht perfekt. Balladen im Stile Friedrich Schillers – da sind die Ergebnisse eher dürftig. Ich hab mich persönlich davon überzeugt. Die Maschine schreibt für meinen Geschmack auch zu sehr im Nominalstil. Aber auch da dürfte es vermutlich genügen, sich einfach einen anderen Style zu wünschen. Und die Maschine lernt dazu – mit atemberaubender Geschwindigkeit.

Trotzdem posten manche wegen all der kleinen Mängel: „Unsere Jobs sind noch immer sicher!“

Ich halte das für einen Irrglauben. Wenn DAS der neue Standard ist, sind viele, viele Menschen beruflich für immer erledigt. Ich womöglich auch. Und das gefällt mir nicht.

Und noch etwas: Ich WEISS, dass ich die wichtigsten Folgen dieser Technologie noch nicht absehen kann. Mir fehlt dafür einfach die Fantasie. Dieser Tage jedenfalls hab ich einen ersten Blick auf die Zukunft geworfen.

Diese Zukunft ist schön und faszinierend.

Aber auch sehr, sehr unheimlich.

bookmark_borderDas größte Klingelschild der Stadt in Chicago

Heute und morgen bin ich in Chicago, um für Psychologie Heute einen (zumindest in Fachkreisen) berühmten Forscher zu treffen. Der Fußweg zum Hotel führt mich vorbei am größten Klingelschild der Stadt (siehe oben). Bald kriegt der Mann seinen Twitter-Account zurück und dann geht der ganze Mist wieder von vorne los und man hat wieder keine Energie mehr, um sich um das zu kümmern, was wirklich gerade dran wäre. Ein Wahnsinn.

Immerhin: Ich bin mit dem Zug angereist. Man könnte ne Menge dazu erzählen. Die Sitze sind breiter und nicht unbequemer als im ICE und der Zug kam pünktlich an. Meine Freunde sagen: Das passiert selten. Aber so war es eben heute. Ich kann deshalb nicht meckern.

Der Bahnhof in Chicago wirkt, wenn man dort ankommt, als wäre man am Set eines dystopischen Science-Fiction-Films gelandet. Ganz düster. Ganz unfreundlich. Als wär man irgendwie auf der falschen Seite des Zuges ausgestiegen – der richtige Bahnsteig ist bestimmt auf der anderen Seite. Aber: Auf der anderen Seite ist auch kein richtiger Bahnsteig. Ganz bedrohlich wirkt das.

Dann frisst man sich Schicht für Schicht zu den immer prunkvoller werdenden Teilen der Anlage. Irgendwann hängen dann überall Schilder: Man kann am Bahnhof seine Wahlzettel abgeben. Kein Witz: Die Wahlurne ist definitiv leichter zu finden als der Ausgang. Im Fernsehen am Abend haben sie in den Werbepausen des Football-Games dann auch Wahlwerbung gezeigt. Furchteinflößende Athleten sagen: „Geh wählen!“ Wer würde da zu Hause bleiben? Ob’s am Ende hilft, muss man abwarten.

Ansonsten zum ersten Mal im Field Museum unten am See gewesen. Viele ausgestopfte Tier, eine Sonderausstellung über den Tod, die mir gefallen hat. Insgesamt aber zu teuer. Als ich das Gebäude verlasse, steht bereits der Mond überm Wasser. Hab dann festgestellt, dass die Sache in Wirklichkeit viel schöner aussieht als auf dem Foto. Also: ordentlich Filter draufgekloppt. In Amerika ist das an allen Orten erlaubt, von denen aus man ein Trump-Hotel sehen kann.

Dasselbe Spiel dann ein paar Meter weiter an der „Bean“. Irgendwie muss man das Ding knipsen, wenn man schon mal dort ist. Mehr Pop geht nicht. Trotzdem irgendwie cool.

Und dann nochmal mit mir. Wenn alle anderen Selfies machen, muss ich das schließlich auch. Der Mensch -> ein Herdentier.

Es ist auf ne Art ein erbärmlicher Kommentar, aber ich mag die Stadt. Ich finde die Hochhäuser schön. Ich reagiere emotional auf die Schluchten um den Fluss und die Ausflugsboote und alles. Es ist wie Hamburg, nur mit viel mehr Glas nach oben hin. Außerdem haben die invasiven Muscheln das Ökosystem so abgefuckt, dass der See jetzt glasklares Wasser hat und leuchtet wie die Karibik. Gruselig und schön zugleich.

Bei der Ausstellung über den Tod gab es ein Objekt, das mir sehr gefallen hat. Ich hab vor Jahren mal drüber geschrieben, aber zu viele Sätze gebraucht, um das auszudrücken, was die hier kinderleicht und super kompakt aufgemalt haben: Wenn jemand namens X stirbt, dann gehen die sozialen Netzwerke kaputt, in denen sich X bewegt hat. Menschen sehen und hören einander dann nicht mehr. Denn X feiert keinen Geburtstag mehr und bringt seine Leute nicht mehr zusammen. Aber! Dann können Trauerorte und Trauerrituale einspringen, den Verlust ersetzen und das kaputte Netzwerk heilen. Das ist Kultur. Wunderbar, oder?

Beim Abendbrot dann noch ein paar Studien meines morgigen Interviewpartners gelesen. Er forscht seit 20 Jahren – und das hatte ich bisher viel zu wenig beachtet – über Narzissmus. Und damit schließt sich der Kreis. Wenn man Narzissmus in der Psychologie messen will, dann holt man einen Fragebogen raus und legt den Probanden folgende Aussagen vor:

„Ich weiß, dass ich toll bin. Die Leute sagen mir das andauern.“
„Wenn ich der Bestimmer bin, wird die Welt ein besserer Ort.“
„Ich bin ein ganz besonderer Mensch.“
„Es fällt mir leicht, andere zu manipulieren.“
„Alle lieben meine Geschichten.“
„Ich bin ein geborener Anführer.“
„Ich werde Erfolg haben.“

Jetzt mal ehrlich: Wenn Ihr EINEN Menschen nennen müsstet, der bei all diesen Aussagen komplett zustimmt? An wen würdet Ihr da denken?

Ich kenne Eure Antwort nicht. Aber irgendwie fällt mir gerade wieder ein, dass ich vorhin am größten Klingelschild der Stadt vorbeigelaufen bin.

Mal sehen, wie morgen die Wahlen ausgehen.

bookmark_borderDer Weg aus dem Krieg zum Bauernhof am Ende der Welt

Metzger’s Michigan Monday #7

Diese Blätter hier gehören zu einem Tulpenbaum. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt, aber wir hatten Besuch von einer Frau, die sich damit auskennt. Seither sehe ich diese Blätter überall. Sie gefallen mir. Ich finde sie schön.

Generell unterhalte ich mich viel mit Menschen und bin in den meisten Dingen, die ich tue, eher schnell und hochdrehend. Seit meinem Pilztrip vom vergangenen Wochenende fühle ich häufiger das Bedürfnis, mich nicht zu unterhalten und langsam zu sein.

Gleichwohl am Lagerfeuer einen Mann getroffen. Plötzlich redet er auf mich ein und hört nicht mehr auf. Er ist Mitte 70 und man merkt, dass er selten wen hat, dem er was erzählen kann. Die Rente in den USA reicht vielen nicht, um davon zu leben. Er aber war seit je ein umtriebiger Kerl, also ist er nach Kiew gezogen, als er die 60 hinter sich hatte. Dort kostet alles nicht viel, sagt er. Man kann Dinge kaufen für kleines Geld und sie dann für mehr Geld an Leute in Amerika weiterverscherbeln. So wird ein Schuh aus allem und man lebt.

Die Stadt sei ganz toll, so erzählt er. Die Architektur, der Fluss, die Parks. Auch die Frauen. Jaja, auch das. Es hört niemals auf. Trotzdem. Die ganze Sache war eher eine Hassliebe. „Ich bin ohne Ende beklaut worden. Aus meinem Laden sind Sachen weggekommen. Bestimmt zwanzig Mal.“

Dann der Krieg. Ein paar Blocks weiter ging die erste Rakete runter. „Ich habe den Blitz gesehen und die Erschütterung unter meinen Füßen gespürt.“ Der Einschlag – er schaut nach am Folgetag – hat wohl ein ordentliches Loch geschlagen. „In den Nachrichten hieß es dann: ,Wir haben ein russisches Flugzeug über der Stadt abgeschossen, deshalb kam da was runter.‘ War aber alles gelogen. Wird eh viel gelogen dieser Tage. Wir erfahren kaum, was wirklich abgeht da drüben.“

Danach hat er zwei Koffer gepackt, ein paar Klamotten, die Zahnbürste, die wichtigsten Wertsachen. „Den Rest hab ich dort gelassen.“ Der Weg nach Hause hat mehrere Tage gedauert. Es war alles nicht lustig. Jetzt sitzt er irgendwo auf dem Land auf einem Bauernhof am Arsch der Heide. Ein kleiner Raum, in dem er schlafen kann. Ich vermute: Er hilft dafür ein bisschen mit bei der Ernte oder im Verkauf oderwasweißichwo.

Die Kinder reden nicht mehr mit ihm. „Die Mutter“, sagt er und seufzt und macht diese Quassel-Bewegung, bei der man mit dem Daumen von unten gegen die anderen Finger der flachen Hand schlägt. Düsteres Zeug danach über Wiedergeburt, Nostradamus, Hunger, Gewalt, die Unverbesserlichkeit der menschlichen Natur, über Nationalseelen, die über Generationen gereinigt werden müssen und so weiter.

Tags davor haben wir eine Nachbarstadt besucht und fanden uns plötzlich in einem Laden, der Tarotkarten feilbot, indianische Kräuter, keltische Symbole, ägyptische Symbole, Utensilien zur Ausübung des Hexenhandwerks und allerhand Tüddelkram. Fränkische Klangschalen der Firma Meinl. Eine Frau war bereit, einem für 25 Dollar nähere Informationen über die eigene Zukunft zukommen zu lassen. Ich hab im Geschäft mehrere Runden gedreht und mir alles angesehen. Kein Bedürfnis nach Gesprächen mit dem Fachpersonal – aber gucken wollte ich doch. An der Wand hingen ein paar Gemälde und ich dachte sofort: „Der Typ hat doch Pilze genommen!“ Dann die Biografie des Künstlers gelesen … und in der Tat. Kann natürlich sein, dass das läuft wie mit den Tulpenbäumen. Man ist so gut darin, die Dinge nicht zu sehen, auf die man sich nicht konzentriert. Und dann, wenn man einmal drauf achtet, sind die Dinge plötzlich überall und sie waren es seit je.

Was ich aber eigentlich sagen will: In Ann Arbor verwickelt man mich häufig in Debatten über Statistik, Theorien, aktuelle Studien und all so was. Das Kognitive regiert die Stadt. Die Welt scheint dann für kurze Momente beherrschbar und berechenbar. Junge Leute arbeiten mit Computermodellen, um das Verhalten bestimmter Proteine im menschlichen Körper vorherzusagen.

Aber schon ein paar Schritte nach Westen, Osten oder sonstwohin – und man landet in einer völlig anderen Welt, in der auf einmal auch ganz andere Dinge möglich sind und zum Alltag gehören. Und am Dienstag dürfen alle darüber abstimmen, wer in den nächsten Jahren zum Beispiel Gouverneurin wird.

Coco liegt im trockenen Herbstlaub und will, dass ich endlich den Ball werfe. Sie holt mich dann immer wieder zurück in die Welt der einfachen Dinge. Fast wie bei Heine:

Da bellt Hund schon früh am Morgen
und hechelt fort die deutschen Sorgen.

bookmark_borderMal wieder Gast im Uni-Biotop

Metzger’s Michigan Monday #5.5

Vor ungefähr nem Jahr hat Karein mich zu einer Veranstaltung an der hiesigen Uni eingeladen. Da treffen sich Studierende, die an der University of Michigan Deutsch lernen. Fast alle studieren noch ganz andere Fächer, aber wo man schon mal hier ist … warum sich nicht auch noch nebenbei ne Fremdsprache reinpfeifen? Wann machen die das alles??? Ich bin jedesmal wieder platt, was die Kinder hier alles draufhaben, wie offen und unverstellt sie einem begegnen, wie Erwachsene, die ganz selbstverständlich mit Erwachsenen reden. Nicki sagt: „Das sind Leute, die ihre Highschool mit ner glatten Eins abgeschlossen haben.“ Als Lehrer wär das hier ein Traumort. Natürlich ist mir klar, dass die ganze Institution komplett privilegiert ist und zugeschüttet wird mit Geld, das dann halt nicht anderswo sein kann und so weiter. Alles problematisch. Aber heute ist mir das egal.

Jedenfalls sitzt man während der Deutschstunde beisammen, trinkt Kaffee und Tee, mümmelt Süßigkeiten und redet über irgendwas in dieser seltsamen, sperrigen Sprache aus der alten Welt. Manchmal werden Gäste eingeladen und heute war das eben ich. Ein paar von denen interessieren sich tatsächlich für Journalismus. Weil ihnen das Schreiben Spaß bringt. Oder weil Radio cool ist. Hach. To be young.

Vorher hab ich Karein ein paar mögliche Themen zugemailt und dann durften die jungen Leute bestimmen, was sie am meisten interessiert. Auf dem ersten Platz gelandet ist „Wie man Depressionen mit Psychedelika behandeln kann“. Ich hab gerade für Geo ne große Geschichte darüber geschrieben, die demnächst erscheinen soll. Beim Gespräch ist mir aufgefallen, dass die jungen Leute relativ gut über Magic Mushrooms informiert sind. Einer davon hat mal in einer Apotheke gearbeitet und mich dezent auf ein entsprechendes Detail in der US-Gesetzgebung hingewiesen. Alles eine Freude. Die Zauberpilze sind in Ann Arbor seit einiger Zeit nicht mehr verboten, Microdosing scheint mir nicht komplett unüblich zu sein. Bald mehr davon auf diesem Kanal.

Hier auf dem Foto steh ich an der Bushaltestelle, um zur Uni zu fahren. Sieht man mir die Vorfreude an? Es ist jedenfalls ein wunderschöner Tag, nicht mehr so warm wie an den Tagen zuvor, aber strahlend blau und frisch, voller Farben, schöner Herbst.

So. Und kaum kommen wir aus der Kaffeestunde raus, stolpern wir auch schon in die nächste krasse Sache: eine Fotoausstellung nur ein paar Räume weiter. Heftige Bilder vom Einsatz der US-Truppen in Afghanistan, vom Drogenkrieg an der mexikanischen Grenze, aus Guantanamo. Alter! Wer kommt an diese Motive ran? Zum Beispiel an diesen Stuhl in Guantanamo. Die Riefen hinterm Stuhl erzählen ihre eigene Geschichte. Sie haben vermutlich mehr gehört und gesehen, als die meisten von uns verkraften könnten.

Der Fotograf Louie Palu erzählt von Einsätzen im Helikopter im Kriegsgebiet. Runter auf den Boden mitten in der Nacht, um Verletzte oder Tote zu bergen. Licht für eine Minute, damit er Bilder machen kann. Dann nichts wie weg, bevor das feindliche Feuer einsetzt. Monate im Marine-Camp in Afghanistan. Er sagt: Er hat im äußersten Vorposten der US-Truppen gewohnt. In den ersten Tagen ruht seine Kamera. „Willst Du nicht mal Bilder machen?“, fragen die Soldaten. „Ich muss euch erst kennenlernen“, sagt Louie. Dann irgendwann entdeckt er, wie die Sandsäcke vor dem Bunkereingang zu einer bestimmten Tageszeit das Sonnenlicht ins Innere des Schutzraums reflektieren. Dort macht er seine Porträts, 50 mm Objektiv, kein Firlefanz. Die Jungs, die er fotografiert, sind zum Teil jünger als mein Sohn heute. Und, Mann, sehen die kaputt aus.

Ich frage ihn, wie er klarkommt mit allem, was er gesehen hat. „Zwei Jahre Therapie“, sagt er, und dass Afghanistan ihn verändert hat. Seine Eltern waren Kinder in Norditalien, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die 19-jährigen deutschen Soldaten kamen ins Haus, um nach Partisanen zu suchen, die Partisanen kamen ins Haus, um irgendwas zu Essen zu kriegen. „Ich musste meinen Teller als Kind immer bis auf den letzten Krümel leer essen“, sagt Louie. Und so ist sein Job auch eine Suche nach der eigenen Vergangenheit, der eigenen Herkunft und den Traumata seiner Ursprungsfamilie.

Biotop Uni. Jede Zufallsbegegnung ne Story und dann auch so viel Zukunft und great expectations. Wer hat sich das ausgedacht? Es war ein schöner Tag.

bookmark_borderEin gepfefferter Wahlkampf

Metzger’s Michigan Monday #5

Am 8. November steigen hier in den USA die so genannten Halbzeitwahlen (Midterms). Habe jetzt durch Zufall mitbekommen, dass der gepfefferte Wahlkampf sogar schon die Welt der Gewürze erreicht hat. Und zwar ging das so: Nicki kauft viele ihrer Gewürze online von einem Hersteller namens Penzeys. Ich habe gestern mit einem Kumpel gesprochen, der sein Geld mit gewürzten Lebensmitteln verdient. Er sagt: Die Gewürze von Penzeys haben eine unerreichte Qualität. Vor Jahren hat er selbst seine Gewürze von dort bezogen. Irgendwann hat die Firma aber aufgehört, ihre Waren in großen Mengen an andere Unternehmen zu verkaufen. Man kriegt jetzt nur noch die kleinen Packungen für den Einzelhandel, für ihn ist das natürlich viel zu teuer. Er hat das sehr bedauert.

Jedenfalls verkauft Penzeys jetzt eine neue Gewürzmischung mit dem Namen „Outrage“. Für Nicki war das zunächst ein privater Insider-Gag. Denn wir haben eine Reisebegleitung: Piglet. Manchmal kocht Piglet Pasta für uns wie im Bild unten. Meist aber geben wir Piglet eine eigene Stimme und üblicherweise ist der Sprechmodus purer „Outrage“: Piglet kriegt mit Piepsstimme einen Wutanfall nach dem anderen und endet jede Tirade mit dem Satz: „It’s outrageous!“

Albern. Aber lustig. Und eine erprobte psychologische Intervention: Ein Gedanke belastet uns –> wir sprechen ihn laut aus in einer Piepsstimme –> wir können uns besser von diesem Gedanken distanzieren und hören auf, sozusagen dieser Gedanke zu sein.

Jedenfalls freuen wir uns über dieses Gewürz. Erst als wir das Kleingedruckte auf dem Label lesen, fällt uns auf, dass es hier nicht um Spaß geht, sondern um etwas Größeres.

„Die fortlaufenden Bestrebungen der Republikaner, die Demokratie zu beenden, ist empörend“, heißt es dort. „Wann hört eine Partei auf und wann beginnt Faschismus? Wenn die guten Leute aufhören, wütend zu sein. Eure Liebe ist stark; nutzt sie, um die Empörung am Leben zu halten.“

Das sind Sätze, wie ich sie auf einer kommerziellen Gewürzverpackung bisher selten gelesen habe. Nicki schickt mir bald darauf den aktuellen Newsletter, den Bill, der Besitzer des Würzunternehmens, an seine Kundschaft verschickt. Offenbar hat Bill vergangene Woche folgende Botschaft verschickt: „Don’t be mean. Don’t vote Republican.” Er hat anscheinend ein paar scharf gewürzte Antworten von konservativer Seite erhalten. Jetzt schreibt er: Wer Republikaner wählt, ist „nicht mehr mit der wirklichen Welt verbunden“. Und weiter: „Es liegt jetzt am Rest von uns, unsere Meinung zu sagen, solange unsere Stimmen noch gezählt werden. Am 8. November haben wir die Möglichkeit. Sorgt dafür, dass jeder, den ihr kennt, einen konkreten Plan dafür hat, auch hinzugehen. Nehmt sie im Auto mit, wenn es sein muss. Diese Wahl zählt wirklich.“

Im Wikipedia-Eintrag des Unternehmens lese ich, dass Bill Penzey schon länger politisch aktiv ist. Zum Beispiel hat er im Januar 2022 das „Martin Luther King Jr. Day sale weekend“ in „Republicans are racist weekend“ umgetauft. Angeblich hat er dadurch auf einen Schlag 40.000 Kundinnen und Kunden verloren – dafür aber aus dem anderen Lager 30.000 neue Leute dazugewonnen. Auf einer konservativen Anti-Penzeys-Seite habe ich eine Angabe gefunden, wonach er durch seine politischen Äußerungen seinen halben Jahresumsatz eingebüßt hat. Der Eintrag dort stützt sich auf einen „anonymen Insider“. Kann sein, dass die Zahl frei erfunden ist, man weiß es einfach nicht.

Ich glaube ja noch immer dran, dass man im Prinzip mit den meisten Menschen reden kann. Penzeys Aktion wird hier in Ann Arbor weithin beklatscht, sie scheint mir insgesamt aber eher spaltend zu wirken.

Wir haben „Outrage“ jedenfalls auf unsere gedämpften Maiskolben gestreut und es hat sehr gut geschmeckt und dem Mahl einen gewissen Kick verliehen.

bookmark_borderWahlkampf in Michigan – es ist alles noch schlimmer

Metzger’s Michigan Monday #4

Im November wird in Amerika abgestimmt. Und zwar über ne ganze Menge. Ich hab nachgezählt: In unserem Teil von Ann Arbor entscheiden die Menschen über 26 verschiedene Ämter, Verfassungszusätze und dergleichen. Eine der wichtigsten Wahlen bestimmt, wer die nächste Gouverneurin von Michigan wird. Das ist wie bei uns Ministerpräsidentin von … sagen wir mal: Rheinland-Pfalz. Sechs Personen bewerben sich für das Amt. Hat mich überrascht, ich dachte immer, es wären nur zwei – je eine Person für die beiden großen Parteien. Aber nein! Auf dem Wahlzettel steht auch wer von der „Libertarian Party“ (sehr liberal), von den „US Taxpayers“ (religiös-konservativ), von den Grünen und von „Natural Law“, einer Partei, die auf die Kraft der transzendentalen Meditation setzt.

Vergangene Woch nun lief im Fernsehen die Debatte der beiden wichtigsten Kandidatinnen. Auf der einen Seite: Gretchen Whitmer von den Demokraten, die Amtsinhaberin.

Auf der anderen Seite: Tudor Dixon für die Republikaner, sie wird unter anderem von Donald Trump unterstützt.

Sorry für die miesen Fotos.

Mir sind während der Sendung ein paar Dinge aufgefallen. Ich wollte eigentlich noch viel mehr schreiben, aber man verzettelt sich schnell dabei. Die Kurzfassung lautet so: Mir war klar, dass es schlimm wird, aber es war alles noch viel schlimmer. Hier die wichtigsten Punkte, so rein subjektiv gesprochen:

1. Die beiden Kandidatinnen tun nicht mal so, als würden sie miteinander oder mit dem Moderator sprechen. Alle Ansagen gehen einfach direkt in die Kamera. Das ist im Grunde keine Debatte, sondern eine Serie von sorgsam vorbereiteten Werbeansagen. Sehr seltsam. Haben wir so ein Format im deutschen Fernsehen? Ich glaube nicht.

2. Keine der beiden Kandidatinnen kümmert sich um die Fragen des Moderators. Sie hauen einfach das Statement raus, das ihr Team ganz grob zum jeweiligen Thema ausgearbeitet hat. Seine Fragen sind zum Teil sehr präzise gestellt. Wird alles ignoriert. Ich habe Teile eines 1:1-Live-Podcasts gesehen, den Dixon dem Reporter Charlie LeDuff in Detroit gegeben hat. Das war viel härter und viel riskanter als das hier (und hat ihr auch ne Menge Ärger eingebracht, wie man zugeben muss).

3. In mehreren Statements sagen Whitmer und Dixon, dass die jeweilige Rivalin im Grunde nicht mehr ist als eine dreckige Lügnerin. 

4. Sowohl Whitmer als auch Dixon würzen ihre Statements mit völlig lächerlichen Positionen, die die jeweils andere Kandidatin angeblich vertritt, mit bescheuerten oder empörenden Plänen, die dort angeblich in der Schublade liegen usw. Es ist alles ganz unglaublich und ich schäme mich, während ich zusehe.

5. Ironischerweise wird Punkt 3 dadurch weniger unwahr, als einem lieb sein kann.

6. Whitmer wirkt in manchen Momenten recht emotional. Bin mir nicht sicher, ob ihr Team glücklich darüber ist.  

7. Dixons Wangen sind während der Debatte nie gerötet. Sie moderiert selbst die übelsten Sachen mit eisernem Fernsehlächeln in die Kamera. Nicht sympathisch, aber professionell.

8. Whitmer wird die Wahl vermutlich gewinnen. Sie hat den Bonus der Amtsinhaberin und führt deutlich in den Umfragen. Dixon vertritt außerdem eine ziemlich radikale Position in der Abtreibungsdebatte, was ihr vermutlich schadet. 

9. Ich sehe die ganze Veranstaltung mit ausgesprochen gemischten Gefühlen. Der TV-Sender ist offenbar in keiner starken Position, sondern auf Knien dankbar, dass die beiden Kandidatinnen überhaupt erscheinen. So jedoch geht Demokratie in die Tonne. So geht’s nicht weiter. Aber wie kommt man von da wieder weg? Von einem Stil, in dem’s reicht, die politische Gegnerin als das Böse auf Beinen darzustellen? Ich weiß es auch nicht. Aber ich bin enttäuscht.

Demnächst poste ich nette Bilder von den Landschaften hier. Denn wir waren gerade im Norden von Michigan und es ist super schön dort. Die Leute sind auch freundlich, man kann mit allen reden. Das versöhnt mich dann wieder.

Aber insgesamt verspüre ich Sorge.