
Wir haben zum ersten Mal mit Sauerteig gebacken. Naja. Nicki hat. Das ist mehr Arbeit, als man dem Brot, diesem schlichtesten aller Nahrungsmittel, zugestehen möchte. Zwei Mal am Tag „füttern“. Die Temperatur stets richtig wählen. Kneten. Ruhen lassen. Wieder Kneten. Mit Madrigalen besingen. Man findet kein Ende. Das Brot schmeckt dann aber super und erfüllt seine Schöpferin mit enormem Werkstolz.

Ein Kollege von Nicki hat dazu einen Spruch aus dem Gastrogewerbe mit uns geteilt: „All die Arschgeigen, die jetzt Bilder von ihrem Sauerteig posten, haben vor zwei Monaten bei uns noch glutenfrei bestellt.“ Will sagen: Beides ist mehr Mode und „self presentation“ als echte Haltung oder „way of life“. Ich fand das sehr lustig. Nicki beteuert, niemals glutenfrei bestellt zu haben. Apropos Gastro: Selbst die erfolgreichsten Restaurants in Ann Arbor stehen mit dem Rücken zur Wand. Unklar, wie viele davon noch da sein werden, wenn das hier vorbei ist.

Dies ist ein Rotkardinal, einer meiner Lieblingsvögel hier in Michigan. Ich fotografiere ihn mit meinem betagten iPhone durch den Zeiss-Feldstecher, den ich aus Deutschland mitgebracht habe. Die Kamera hat Probleme, mit dem Autofokus (auf Nickis neuerem iPhone geht es besser). Im Garten sehen wir Blue Jays (schön, aber fiese Gesellen), Gold Finches (im unscharfen Foto unten), Brown Headed Cow Birds (die übelsten Schulhofschläger von allen; legen ihre Eier außerdem in fremde Nester; moralisch: alles fragwürdig); Robins (die „Wanderdrossel“ ist der Nationalvogel Michigans); unterwegs sehen wir viele Red Winged Blackbirds und einen Eastern Bluebird (auch eine Schönheit). Spechte, Raubvögel, eine Art Kleiber. Alle Menschen träumen gelegentlich vom Fliegen. Fast immer sind es schöne Träume. Die Welt ist dann in Ordnung. Ich könnte den ganzen Tag in den Büschen sitzen und Vögel beobachten.

Auch interessant ist natürlich Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan. Sie hat in den deutschen Medien einige Aufmerksamkeit bekommen. Der Spiegel bezeichnet sie als „Trumps Lieblingsfeindin“. Sie wird derzeit als die Frau gehandelt, die als mögliche Vizepräsidentin mit Joe Biden in den Wahlkampf gehen könnte. Mit Gretchen Whitmer läuft es wie mit dem Sauerteig: Noch vor zwei Monaten hat sich (auch hier in den USA) noch niemand für sie interessiert. Ihren Wahlkampf hat sich gewonnen, weil sie versprochen hat, die Schlaglöcher in Michigan zu reparieren. Schlaglöcher! Wie und wann sich all das geändert hat, zeigt ein Blick auf Google Trends. Beim Suchbegriff „Gretchen Whitmer“ kann man sehen: Den ersten Ausschlag gab es im Februar, als Donald Trump seine Ansprache an die Nation gehalten und die Gouverneurin für die Demokratische Partei die Gegenrede gehalten hat.

Der zweiten und noch größeren Ausschlag: Donald Trump hat sich auf einer Pressekonferenz über Whitmer beschwert. Sie war ihm nicht devot genug. Ihren Namen hat er sich gar nicht erst gemerkt, sondern sie als „that woman from Michigan“ bezeichnet. Bessere PR kann man gar nicht kriegen. Relativ schnell gab es „That woman from Michigan“-T-Shirts und – natürlich – einen großen Nationalstolz unter den Michiganders. Trump hat sie berühmt gemacht. Absicht kann das nicht gewesen sein.
Nach allem, was ich so sehe, macht Gretchen Whitmer in der Krise einen ziemlich guten Job. Sie wirkt gelassen, sehr klar, sehr rational. Wirklich charismatisch ist sie aber nicht. Da es sich bei Joe Biden („Sleepy Joe“) aber auch nicht gerade um eine Stimmungskanone handelt, könnte das ein Problem im Wahlkampf werden.

Das hier ist der Damm, der den Huron River in Ann Arbor zum Barton Pond anstaut. Dort bin ich sehr gerne. Diese Perspektive hatte ich darauf aber noch nie. Ich bin diesmal nämlich über die Eisenbahnbrücke gelaufen. Als Kinder haben wir gelernt, dass man NIEMALS auf irgendwelche Gleise gehen darf. Hier machen das aber alle. Weil halt auch viel weniger Züge fahren und die Züge außerdem langsamer sind. Die Lokführer haben sich auf die Fußgänger eingestellt: Immer, wenn sie durch Ann Arbor fahren, lassen sie ihr Horn tuten, dass man’s in der ganzen Stadt hören kann. Auch in der Nacht. Im Winter antworten dann die Kojoten aus den Wäldern. Tolles Schauspiel.
Gerade gucken wir „60 Minutes“ auf CBS. Die Sendung zieht mir die Socken aus. So viele Leute hier sind total im Eimer. In Texas gehen die Krankenhäuser pleite. Weil wegen Corona halt keiner mehr hingeht (und man mit Corona kein Geld verdienen kann; tja; Pech). In manchen Landkreisen gibt es praktisch keine Ärzte mehr. Amerika ist manchmal auch das Land hinter dem Schild, das das Ende der befestigten Straße anzeigt.

Ich will aber nicht zu pessimistisch klingen. Die Welt zerfällt gerade in jene, die sich noch für unverwundet halten und jene, die gerade pleite gehen oder verrückt werden oder sehr krank. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Und so lange das so ist, tut all das noch nicht so weh, wie es vielleicht sollte. Mal sehen, wie lange das noch so bleibt.
Lieber Jochen, das ist ein sehr schöner Beitrag. Vielen Dank dafür. Liebe Grüße aus Vohenstrauß, Heiner