Das Ding hier auf dem Bild sieht aus wie ein siffiger Flokati, den jemand nach der WG-Auflösung achtlos im Meer entsorgt hat. Tatsächlich handelt es sich um einen Fisch, einen so genannten „Fransenteppichhai“ (Eucrossorhinus dasypogon). Nie gehört – und wenn, dann hab ich’s wieder vergessen. Ulkig, was es alles gibt. Der Fransenteppichhai, so steht es bei Wikipedia, ist ausgesprochen unselten und gar nicht vom Aussterben bedroht. Ich wundere mich darüber und danach wundere ich mich darüber, dass ich mich darüber wundere. Weil: Hab ich im Ernst gedacht, dass ein Tier nur deshalb selten sein muss, weil es kurios aussieht und ich seinen Namen nicht kenne? Der Mensch -> bescheuert!
Jetzt warte ich darauf, dass mir bald überall Fransenteppichhaie begegnen. In der U-Bahn, im Internet, bei Partyplaudereien, als Druckmotiv auf Kurzarmhemden, wie sie die Menschen im Spätsommer zu tragen pflegen.
Gibt’s dafür eigentlich ein Wort? Also: Dass einem Sachen auf einmal andauernd über den Weg laufen, nachdem man sie einmal bemerkt oder einmal davon gehört hat?
Ja, das gibt es tatsächlich! Ich wusste das bis eben auch nicht, ich hab’s einfach gegoogelt. Man nennt es das „Baader-Meinhof-Phänomen“, weil ein ahnungsloser Mensch wohl irgendwann in den 90ern zum ersten Mal von der RAF gehört und dann festgestellt hat, dass es die tatsächlich gab und dass da auch ganz viele Menschen schon mal was drüber erzählt oder geschrieben haben. Tja. Dieser Mensch hat der Sache also einen Namen gegeben. Anders gesagt: Wär ich ein bisschen früher am Start gewesen und hätte der Welt mit entsprechendem Gusto und der nötigen Penetranz von meinem Erlebnis berichtet, dann spräche man heute vielleicht vom „Fransenteppichhai-Kuriosum“.
Ein Linguist aus dem Silicon Valley hat „Frequency illusion“ dazu gesagt, also „Häufigkeit-Illusion“. Häufigkeits-Illusion klingt sachlicher, der Begriff trägt sozusagen Hornbrille und einen weißen Kittel. Baader-Meinhof-Phänomen ist dagegen ein Ausdruck mit Schmackes. In der Fachliteratur scheint mir keiner der genannten Begriffe je so richtig steil gegangen zu sein.
Hm.
Scheiß drauf. Ich sag jetzt einfach „Fransenteppichhai-Kuriosum“ und rücke dabei wichtig meine Brille zurecht. Was andere können …
Kommt gut durch den Tag – und entsorgt Eure Flokatis, wie es sich gehört.
Meine Kindheit: Samstag war der Tag der Pflichten. Wir nahmen sie hin wie das Wetter. Jawohl! Schließlich war es nicht elterliche Willkür, sondern ein NATURereignis, dass jemand den Bürgersteig zu fegen hatte, die beschmutzten Schuhe der Familie zu putzen, besudelte Waschbecken und Toiletten auf neuen Glanz zu schrubben. Lag da etwa kein Staub auf den Bücherregalen der Kinderzimmer und der Teppichboden seit ganzen sieben Tagen ungesaugt zu unseren Füßen? Außerdem gab es allerhand Gartenarbeit, wucherte ungebetenes Pflanzenzeug aus den Ritzen zwischen den Bodenplatten hinterm Haus, hatte sich Straßendreck auf Fahrradfelgen abgesetzt – und schließlich warteten vier greise Großeltern darauf, dass ihnen irgendwer das gewohnte Pfund Aufschnitt aus einer der beiden Dorfmetzgereien brachte.
(Anmerkung beim nochmaligen Drüberlesen: „Greise Großeltern“ trifft es nur so halb. Meine jüngste Oma war zum Zeitpunkt der nun folgenden Szene genau so alt, wie ich heute bin.)
Das mit dem Aufschnitt begann für mich schon im Kindergartenalter. Das weiß ich deshalb, weil ich den Bestellzettel der Großmutter bei meinen ersten Einkaufstouren noch nicht lesen konnte.
Die Türen beider Metzgereien waren zudem schwergängig, meine Kräfte jedoch begrenzt. Ich musste also immer darauf warten, dass ein größerer Mensch, als ich einer war, entweder aus der Metzgerei nach draußen kam oder von außen in den Verkaufsraum eintreten wollte. So öffnete sich die Tür. Ich huschte durch den geöffneten Spalt wie ein Eichhörnchen und stellte mich in die Schlange (!). Irgendwann gab mir eine der Verkäuferinnen (fast immer waren es Verkäuferinnen) ein Zeichen und sprach mich an. Offenbar war jetzt die Zeit gekommen, die Wurst zu kaufen. Ich reichte ihr meinen Zettel nach oben, sie musste sich weit über die Theke beugen, um das Papier zu erreichen. Sie nahm den Zettel, las die erste Zeile laut vor, schnitt Aufschnitt auf, las die nächste Zele, holte das Kammrippchen für meinen Opa aus der Ablage und folgte auch sonst allen geheimen Anweisungen, die meine Großmutter zuvor in saubersten Zeichen dem Papier anvertraut hatte. Die Verkäuferin packte am Ende alles in eine Tüte und reichte mir die Tüte nach unten. Ich packte die Tüte in meine Einkaufstasche und gab der Frau im Gegenzug die kleine Börse mit Klippverschluss. Die Verkäuferin holte sich heraus, was sie brauchte, dann kam der Geldbeutel zurück. Am Ende noch: ein Stück Wurst für den jungen Mann. „Ein Rädlein“ hieß die Maßbezeichnung in der Sprache des Dorfes. Von mir: ein artiges Dankeschön. Beifälliges Gemurmel der Umstehenden. „Noch so klein und kann schon einkaufen und sich bedanken!“ Danach: hörbare Erkundigungen über meine Abkunft, Mutmaßungen über die generelle Tüchtigkeit meiner Sippe und so weiter und so fort. Manchmal öffnete jemand die Tür für mich. Es war alles ein Geben und Nehmen. Abgang.
Ich hatte überlebt.
In die größere Metzgerei ging ich damals nur ungern, weil die Gestaltung des Innenraumes es schlechterdings nicht zuließ, dass die Menschen dort eine sichtbare Warteschlange bildeten. Es war ein einziges Durcheinander und das überforderte mich. Das Spiel in der anderen Metzgerei war schon kompliziert genug. Ich mied den großen Laden, so gut ich konnte.
Was ich mit all dem sagen will: Ich erinnere mich noch gut, was für ein rätselhafter Ort die ganze Welt für mich war. Alles war unbekannt und vieles gefährlich. Man machte dabei eine MENGE falsch. Das wiederum wusste ich genau, denn die Erwachsenen sagten es mir regelmäßig. Manchmal sagten es mir auch die Gegenstände. Die schweren Türen; die unerreichbaren Sachen in hohen Regalfächern; die komplizierten Mechanismen; die stürzenden Gläser; die Schnürsenkel, die keine Schleife werden wollten; die geheimen Zeichen, die auf Zetteln standen.
So.
Und damit komme ich zu meinem Punkt.
Die Welt ist in Wahrheit: noch immer ein rätselhafter Ort. Ich verstehe sie nicht. Am Wochenende hab ich mal wieder eine Fortbildung gemacht. Es ging um eine randständige und überwiegend vergessene Methode aus der Psychologie. Am Ende wusste ich weniger als davor. Oder besser: Mir ist wieder klargeworden, dass ich EIGENTLICH viel weniger weiß, als ich immer denke. Dass Sprache ein Rätsel ist. Dass Gefühle ein Rätsel sind. Ebenso die Empfindungen des Körpers. Dass der Raum ein Rätsel ist und die Zeit gleich ganz unbegreiflich. Und dass ich – auch das ein Rätsel – ganz oft am hilfreichsten sein kann für meine Mitmenschen, wenn ich nichts weiß und nichts will. All die vielen Bücher und Seminare. Und dann: alles loslassen, alles loswerden, hinter sich stellen. Die Welt: ein rätselhafter Ort. Und wir: rätselhafte Wesen, die darin überleben.
Ich hoffe, es gelingt uns noch ne Weile.
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