bookmark_borderEin Gramm Zauberpilze

Metzger’s Michigan Monday #6

Für Geo hab ich mich mehrere Wochen lang damit befasst, wie Psilocybin (die Substanz in Magic Mushrooms) dabei helfen kann, die Symptome einer Depression zu lindern. Ich hab mir auch ein paar andere (quasi-)psychedelische Substanzen angesehen, mit vielen Leuten geredet, ne Depressionsklinik besucht, sehr viel gelesen, ne Menge gelernt dabei und bin inzwischen ziemlich überzeugt, dass die Methode für viele Menschen funktioniert. In ein paar Jahren wird Psilocbyin einen festen Platz in der psychopharmakologischen Therapie einnehmen, all das ist nur noch eine Frage der Zeit, und ich sehe nicht, wie das Projekt noch scheitern kann.

In Ann Arbor sind Magic Mushrooms seit Anfang 2021 dekriminalisiert. Die Polizei unternimmt nichts, wenn sie Pilze bei dir findet. Man darf die Pilze anbauen, pflegen, besitzen und konsumieren.

Ich habe bei lockeren Gesprächen jedenfalls von einem Laden in der Stadt gehört, der die Pilze verkauft. Also bin ich hingefahren, um mit den Leuten dort zu reden. Der Mann hinterm Tresen heißt Dave. Er reagiert völlig entspannt und offen, als ich ihn nach der Sache frage. Tatsächlich: Einige der Produkte liegen ganz unversteckt in der Glasvitrine neben der Kasse. Er sagt, dass mehr als 300 Menschen regelmäßig vorbeikommen, weil die Pilze ihnen helfen. Viele sind depressiv, leiden an einer Angststörung oder an PTSD. Dave sagt, dass er bisher nur von einer Kundin gehört hat, für die die Pilze nichts gebracht haben, obwohl sie wohl mit mehreren Dosierungen experimentiert hat. Man muss dazu sagen: Die großen klinischen Studien, die bisher vorliegen, erzielen deutlich weniger hohe Erfolgsquoten. Aber dort arbeitet man auch unter verschärften Bedingungen, die mit dem Alltag von Patientinnen und Patienten relativ wenig zu tun haben. Zudem verwendet man dort einen synthetischen Wirkstoff. Manche Leute sind skeptisch, ob man damit dasselbe erreicht wie mit den Pilzen selbst. Nun. Das mag alles so oder so sein.

Jedenfalls hab ich meine Geschichte geschrieben, ohne jemals selbst eine psychedelische Erfahrung gemacht zu haben. Ich möchte das gerne ändern. Nicht, um eine Depression zu linden, sondern aus Neugier. Dave erzählt mir ein bisschen davon, wie die Sache bei ihm funktioniert. Er verfügt über diverse Gerätschaften, um die Pilze auf ihren Wirkstoffgehalt zu untersuchen. Am Ende gibt er mir ein Stück Schokolade, das genau ein Gramm getrockneter Pilze enthält. „Die Pilze selbst schmecken nicht besonders gut. Viele mögen die Schokolade lieber“, sagt er.

Ich frage ihn, ob er sich keine Sorgen macht, irgendwann Ärger zu kriegen. Denn die Dekriminalisierung deckt den Handel mit Pilzen nicht ab. Er sagt: „Bisher ist es gutgegangen, und wir helfen so vielen Menschen, die ansonsten keine Hilfe kriegen. We are doing the right thing.“ Ein tapferer Kerl ist das, so viel steht schon mal fest. Ohnehin. Ich hab in den vergangenen Monaten mit relativ vielen Menschen gesprochen, die was mit der psychedelischen Renaissance zu tun haben. Die sind sich in vielen Dingen überhaupt nicht einig – aber alle sind sehr davon überzeugt, das komplett Richtige zu tun. Pilze sind für sie eine Berufung und vor so was hatte ich schon immer Respekt. So fahre ich jedenfalls durch die Sonne zurück nach Hause.

Heute Morgen hab ich dann die Schokolade gegessen. Sie schmeckt wie Schokolade. Sehr cremig. Man schmeckt nicht, dass da noch mehr drin ist.

Alle Menschen mit Erfahrung haben mir vorher ein paar Dinge eingeschärft: Die Pilze allein machen den Job nicht. Die unmittelbare Umgebung rührt kräftig mit an der Seelenrezeptur. Und wie Du gerade drauf bist, das schmeißt auch noch ein paar Zutaten mit ins Ragout. „Set und Setting“. Jaja.

Ich habe mich also vorbereitet: Die Lebensgefährtin gefragt, ob sie meine Sitterin sein will, also aufpassen, falls mich die Panik überfällt und ich dumme Sachen machen will und so weiter. Sie hat zugestimmt, was mich mit großem Dank erfüllt. Der Typ aus dem Trüffel-Shop in den Niederlanden meinte: „Dafür fragst Du am besten wen, dem Du komplett vertraust.“ Gut so. Gut so. Nicki war da während des Trips und es gab ein paar Momente, wo mir das sehr geholfen hat.

Dann die Musik. Einige der besten frühen Psilocybin-Studien der neueren Generation kommen von der Johns Hopkins University. Die haben ihren Freiwilligen während des Trips eine Playlist auf die Ohren gegeben. Es gibt auch Studien dazu, ob womöglich eine weniger westlich orientierte Playlist in einer Therapie zu besseren Ergebnissen führt. Antwort: Es ist relativ egal. Vielleicht braucht man am Ende eine personalisierte Musikauswahl, man weiß das aber nicht so genau. Ich jedenfalls lade mir auf Spotify die Klassik-Playlist der Johns-Hopkins-Leute herunter und stelle dann mein Handy auf Flugmodus.

Dann die Schokolade. Ich setz‘ mir eine Augenbinde auf, weil mich die Geister der Innenwelt viel mehr interessieren als die womöglich lustigen Effekte der äußeren Wahrnehmung. Dann stell ich die Musik an und lege mich ins Bett.

Ich hatte während der Reise einen Audiorekorder mitlaufen und bin schon gespannt, was ich unterwegs alles erzählt habe. Werde in den kommenden Tagen mehr darüber schreiben.

Jetzt schon mal ein paar grobe Dinge aus der Vogelperspektive.

  • Mir war die ganze Zeit ein bisschen schlecht. In Amsterdam haben sie neben jeden Coffeeshop nen Waffelladen gesetzt. Das läuft mit Pilzen nicht. Man will womöglich kotzen, aber sicher nicht essen.
  • Körperlich fühlt es sich lange an wie ein Mix aus „sehr betrunken“ und „39,8 Grad Fieber“.
  • Die erste Stunde war alles andere als schön. Die englische Überschrift über meine Visionen lautet: „Being food“. Ich habe sehr, sehr viele sehr große Zähne gesehen. Jetzt: Mitgefühl mit allem, was gegessen wird.
  • Ich hatte extrem tiefe emotionale Phasen, die sich in atemberaubenden Tempo abgewechselt haben. Nicht alle Emotionen waren drin in dem Mix. Längst nicht alle. Aber anders als MDMA hat der Pilz irrsinnig viele Gesichter.
  • So ein Trip ist keine sehr soziale Veranstaltung. Man ist erstmal allein. Auch hier: ganz anders als MDMA.
  • Immer wieder Zorn auf die Musik. Auf große Terzen, dann auf das Fehlen von Terzen, auf Holzbläser, Blechbläser. Tiefe Erkenntnisse über die harte Arbeit des Flötenspiels und die Intonation im Orchester. Arme, arme Holzbläser. Nicki sagt: „Du hast sooo viel über Musik geredet.“ Später mehr.
  • Und dann: Krieg. Kampf. Mauern, um das Böse fernzuhalten. Sterben. Überleben. Feuer. Es war alles nicht schön. Aber es musste sein.
  • Ich hatte eine Reihe von Erkenntnissen. Jede Erkenntnis sagt: „An mir kommt ab jetzt niemand mehr vorbei.“ DAS ist das BESTE an der ganzen Sache. Auch hier: später mehr.

So. Ich bin noch immer in der Ausklingphase. Ich hatte nur ein Gramm, eine Hasenfußdosis für Anfänger. Drei Gramm sind ein erwachsener Trip, nach allem, was man mir so erzählt, und in der Depressions-Behandlung arbeiten sie auch mit viel höheren Dosen.

Der Pilz ist keine sanfte Droge. Er schont nicht. Er ist nichts, was ich zum Vergnügen machen würde. Aber er öffnet Türen. Die Türen führen tiefer nach unten, als ich im Alltag steigen kann. Manche führen auch nach oben. Bin froh, dass ich dabei war.

Es gab diesen einen Moment, wo die ganze Last abgefallen ist in einem großen Gelächter. Und all das war wahr zugleich in diesem Augenblick: Das Elend war wahr. Das Gefressenwerden war wahr. Der Kampf gegen das Monster war wahr – und das Gelächter über mein Leben als Mensch war wahr und dass alles schwerelos ist und wunderbar leicht.

Jetzt schnapp ich mir den Hund und dann machen wir einen Spaziergang.

Ach ja: Die bunten Bilder aus den psychedelischen Filmen, wo sich Dinge verformen und krassen Farben kriegen – davon hab ich Null mitbekommen. Im Gegenteil. Wenn die Bilder im Inneren zu heftig waren, dann hab ich die Augenbinde abgenommen und in den Garten geschaut und dort war es schön und friedlich und alles sah aus wie immer.

Ich habe in einem anderen Beitrag beschrieben, welche Erlebnisse ich dabei mit der Musik hatte. Ich bin ein auditiver Mensch, es war recht intensiv.

bookmark_borderMal wieder Gast im Uni-Biotop

Metzger’s Michigan Monday #5.5

Vor ungefähr nem Jahr hat Karein mich zu einer Veranstaltung an der hiesigen Uni eingeladen. Da treffen sich Studierende, die an der University of Michigan Deutsch lernen. Fast alle studieren noch ganz andere Fächer, aber wo man schon mal hier ist … warum sich nicht auch noch nebenbei ne Fremdsprache reinpfeifen? Wann machen die das alles??? Ich bin jedesmal wieder platt, was die Kinder hier alles draufhaben, wie offen und unverstellt sie einem begegnen, wie Erwachsene, die ganz selbstverständlich mit Erwachsenen reden. Nicki sagt: „Das sind Leute, die ihre Highschool mit ner glatten Eins abgeschlossen haben.“ Als Lehrer wär das hier ein Traumort. Natürlich ist mir klar, dass die ganze Institution komplett privilegiert ist und zugeschüttet wird mit Geld, das dann halt nicht anderswo sein kann und so weiter. Alles problematisch. Aber heute ist mir das egal.

Jedenfalls sitzt man während der Deutschstunde beisammen, trinkt Kaffee und Tee, mümmelt Süßigkeiten und redet über irgendwas in dieser seltsamen, sperrigen Sprache aus der alten Welt. Manchmal werden Gäste eingeladen und heute war das eben ich. Ein paar von denen interessieren sich tatsächlich für Journalismus. Weil ihnen das Schreiben Spaß bringt. Oder weil Radio cool ist. Hach. To be young.

Vorher hab ich Karein ein paar mögliche Themen zugemailt und dann durften die jungen Leute bestimmen, was sie am meisten interessiert. Auf dem ersten Platz gelandet ist „Wie man Depressionen mit Psychedelika behandeln kann“. Ich hab gerade für Geo ne große Geschichte darüber geschrieben, die demnächst erscheinen soll. Beim Gespräch ist mir aufgefallen, dass die jungen Leute relativ gut über Magic Mushrooms informiert sind. Einer davon hat mal in einer Apotheke gearbeitet und mich dezent auf ein entsprechendes Detail in der US-Gesetzgebung hingewiesen. Alles eine Freude. Die Zauberpilze sind in Ann Arbor seit einiger Zeit nicht mehr verboten, Microdosing scheint mir nicht komplett unüblich zu sein. Bald mehr davon auf diesem Kanal.

Hier auf dem Foto steh ich an der Bushaltestelle, um zur Uni zu fahren. Sieht man mir die Vorfreude an? Es ist jedenfalls ein wunderschöner Tag, nicht mehr so warm wie an den Tagen zuvor, aber strahlend blau und frisch, voller Farben, schöner Herbst.

So. Und kaum kommen wir aus der Kaffeestunde raus, stolpern wir auch schon in die nächste krasse Sache: eine Fotoausstellung nur ein paar Räume weiter. Heftige Bilder vom Einsatz der US-Truppen in Afghanistan, vom Drogenkrieg an der mexikanischen Grenze, aus Guantanamo. Alter! Wer kommt an diese Motive ran? Zum Beispiel an diesen Stuhl in Guantanamo. Die Riefen hinterm Stuhl erzählen ihre eigene Geschichte. Sie haben vermutlich mehr gehört und gesehen, als die meisten von uns verkraften könnten.

Der Fotograf Louie Palu erzählt von Einsätzen im Helikopter im Kriegsgebiet. Runter auf den Boden mitten in der Nacht, um Verletzte oder Tote zu bergen. Licht für eine Minute, damit er Bilder machen kann. Dann nichts wie weg, bevor das feindliche Feuer einsetzt. Monate im Marine-Camp in Afghanistan. Er sagt: Er hat im äußersten Vorposten der US-Truppen gewohnt. In den ersten Tagen ruht seine Kamera. „Willst Du nicht mal Bilder machen?“, fragen die Soldaten. „Ich muss euch erst kennenlernen“, sagt Louie. Dann irgendwann entdeckt er, wie die Sandsäcke vor dem Bunkereingang zu einer bestimmten Tageszeit das Sonnenlicht ins Innere des Schutzraums reflektieren. Dort macht er seine Porträts, 50 mm Objektiv, kein Firlefanz. Die Jungs, die er fotografiert, sind zum Teil jünger als mein Sohn heute. Und, Mann, sehen die kaputt aus.

Ich frage ihn, wie er klarkommt mit allem, was er gesehen hat. „Zwei Jahre Therapie“, sagt er, und dass Afghanistan ihn verändert hat. Seine Eltern waren Kinder in Norditalien, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die 19-jährigen deutschen Soldaten kamen ins Haus, um nach Partisanen zu suchen, die Partisanen kamen ins Haus, um irgendwas zu Essen zu kriegen. „Ich musste meinen Teller als Kind immer bis auf den letzten Krümel leer essen“, sagt Louie. Und so ist sein Job auch eine Suche nach der eigenen Vergangenheit, der eigenen Herkunft und den Traumata seiner Ursprungsfamilie.

Biotop Uni. Jede Zufallsbegegnung ne Story und dann auch so viel Zukunft und great expectations. Wer hat sich das ausgedacht? Es war ein schöner Tag.

bookmark_borderEin gepfefferter Wahlkampf

Metzger’s Michigan Monday #5

Am 8. November steigen hier in den USA die so genannten Halbzeitwahlen (Midterms). Habe jetzt durch Zufall mitbekommen, dass der gepfefferte Wahlkampf sogar schon die Welt der Gewürze erreicht hat. Und zwar ging das so: Nicki kauft viele ihrer Gewürze online von einem Hersteller namens Penzeys. Ich habe gestern mit einem Kumpel gesprochen, der sein Geld mit gewürzten Lebensmitteln verdient. Er sagt: Die Gewürze von Penzeys haben eine unerreichte Qualität. Vor Jahren hat er selbst seine Gewürze von dort bezogen. Irgendwann hat die Firma aber aufgehört, ihre Waren in großen Mengen an andere Unternehmen zu verkaufen. Man kriegt jetzt nur noch die kleinen Packungen für den Einzelhandel, für ihn ist das natürlich viel zu teuer. Er hat das sehr bedauert.

Jedenfalls verkauft Penzeys jetzt eine neue Gewürzmischung mit dem Namen „Outrage“. Für Nicki war das zunächst ein privater Insider-Gag. Denn wir haben eine Reisebegleitung: Piglet. Manchmal kocht Piglet Pasta für uns wie im Bild unten. Meist aber geben wir Piglet eine eigene Stimme und üblicherweise ist der Sprechmodus purer „Outrage“: Piglet kriegt mit Piepsstimme einen Wutanfall nach dem anderen und endet jede Tirade mit dem Satz: „It’s outrageous!“

Albern. Aber lustig. Und eine erprobte psychologische Intervention: Ein Gedanke belastet uns –> wir sprechen ihn laut aus in einer Piepsstimme –> wir können uns besser von diesem Gedanken distanzieren und hören auf, sozusagen dieser Gedanke zu sein.

Jedenfalls freuen wir uns über dieses Gewürz. Erst als wir das Kleingedruckte auf dem Label lesen, fällt uns auf, dass es hier nicht um Spaß geht, sondern um etwas Größeres.

„Die fortlaufenden Bestrebungen der Republikaner, die Demokratie zu beenden, ist empörend“, heißt es dort. „Wann hört eine Partei auf und wann beginnt Faschismus? Wenn die guten Leute aufhören, wütend zu sein. Eure Liebe ist stark; nutzt sie, um die Empörung am Leben zu halten.“

Das sind Sätze, wie ich sie auf einer kommerziellen Gewürzverpackung bisher selten gelesen habe. Nicki schickt mir bald darauf den aktuellen Newsletter, den Bill, der Besitzer des Würzunternehmens, an seine Kundschaft verschickt. Offenbar hat Bill vergangene Woche folgende Botschaft verschickt: „Don’t be mean. Don’t vote Republican.” Er hat anscheinend ein paar scharf gewürzte Antworten von konservativer Seite erhalten. Jetzt schreibt er: Wer Republikaner wählt, ist „nicht mehr mit der wirklichen Welt verbunden“. Und weiter: „Es liegt jetzt am Rest von uns, unsere Meinung zu sagen, solange unsere Stimmen noch gezählt werden. Am 8. November haben wir die Möglichkeit. Sorgt dafür, dass jeder, den ihr kennt, einen konkreten Plan dafür hat, auch hinzugehen. Nehmt sie im Auto mit, wenn es sein muss. Diese Wahl zählt wirklich.“

Im Wikipedia-Eintrag des Unternehmens lese ich, dass Bill Penzey schon länger politisch aktiv ist. Zum Beispiel hat er im Januar 2022 das „Martin Luther King Jr. Day sale weekend“ in „Republicans are racist weekend“ umgetauft. Angeblich hat er dadurch auf einen Schlag 40.000 Kundinnen und Kunden verloren – dafür aber aus dem anderen Lager 30.000 neue Leute dazugewonnen. Auf einer konservativen Anti-Penzeys-Seite habe ich eine Angabe gefunden, wonach er durch seine politischen Äußerungen seinen halben Jahresumsatz eingebüßt hat. Der Eintrag dort stützt sich auf einen „anonymen Insider“. Kann sein, dass die Zahl frei erfunden ist, man weiß es einfach nicht.

Ich glaube ja noch immer dran, dass man im Prinzip mit den meisten Menschen reden kann. Penzeys Aktion wird hier in Ann Arbor weithin beklatscht, sie scheint mir insgesamt aber eher spaltend zu wirken.

Wir haben „Outrage“ jedenfalls auf unsere gedämpften Maiskolben gestreut und es hat sehr gut geschmeckt und dem Mahl einen gewissen Kick verliehen.

bookmark_borderInto the Mystic

Metzger’s Michigan Monday #4.5

Amerika ist ein Versprechen. Man steigt ins Auto und fährt los, und der Ort, an dem man dann irgendwann rauskommt, ist nicht mehr von dieser Welt, sondern ein verzaubertes Nirgendwo, an dem endlich alles gut wird.

Und so lädt mich Nicki in ihren Wagen und wir fahren nach Norden. Im Radio läuft Van Morrison. „Into the Mystic“. Soundtrack für ein Wochenende.

Michigan gehört zum Mittleren Westen. Man denkt spontan: „Aha, Maisfelder!“ Stimmt aber gar nicht. Jetzt im Herbst sieht weiter nördlich alles so aus, wie uns die Kalenderverlage in Deutschland den amerikanischen Indian Summer verkaufen wollen.

Ohnehin hilft ein Blick auf die Landkarte: Michigan besteht aus zwei Halbinseln, von denen ich die obere (die praktisch zu Kanada gehört, was man aber nicht laut sagen darf), nie persönlich gesehen habe. Die untere Halbinsel kann man sich vorstellen wie Jütland, aufgepumpt auf dreifache Größe. Überall drumrum Wasser. Sehr viel Wasser. Allein der Lake Michigan ist größer als Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zusammen. „Ein Meer aus dem man trinken kann“, hab ich mal vor Jahren für ne Frauenzeitschrift formuliert, und das war nicht gelogen.

Wir fahren in ein Städtchen namens Elk Rapids, das zwischen zwei Seen liegt. Dort hat ein Freund seine Bleibe gefunden und uns eingeladen.

Die Holzhäuser an den Küstenorten sehen manchmal aus wie die Sommerhäuser in Dänemark, die kleinen und mittelgroßen Seen, von denen es viele gibt, erinnern mich an Schweden, die Fjorde am großen Lake Michigan ans südliche Norwegen. Oben auf der „UP“, der Upper Peninsula, leben die Nachfahren finnischer Malocher, die dort unter übelsten Bedingungen Kupfer aus der Erde gebuddelt haben. Jawohl! Im Norden ist Michigan wie Skandinavien, aber mit mehr bunten Ahornbäumen.

Zum offenen See hin liegt eine berühmte Dünenlandschaft, die „Sleeping Bear Dunes“. Unser Gastgeber sagt, dass der Name von einer alten Legende der Ureinwohner stammt. Eine Bärin soll mit ihren zwei Welpen über den See geschwommen sein. Sie hat es geschafft, mit letzter Kraft und sich erschöpft an den Strand gelegt, sie schlief ein und wurde zur Düne. Draußen im See liegen zwei unbewohnte Inseln: Ihre Kinder, für die der Weg ans Land irgendwann zu weit wurde. Man kann sich heute mit dem Boot hinüberfahren lassen und dort campen.

Wir stapfen vom Parkplatz aus über die Dünen zum Wasser.

Der Strand sieht aus wie bei uns an der Ostsee. Rechts das Land in der Ferne: Das ist eine der beiden Bärenkinder-Inseln.

Es ist wahnsinnig windig und regnet ab und zu. Aber uns geht’s gut.

Ein bisschen weiter mit dem Wagen kommen wir dann an eine noch größere Düne. Es fällt steil ab zum Wasser hin und angeblich muss man regelmäßig Leute von dort unten bergen, die’s aus eigener Kraft nicht mehr durch den Sand zurückschaffen. Ein großer Spaß für die ganze Familie.

Doch, herrje, in den Staaten klebt noch am Trip hinein ins Mystische ein Preisschild. 3000 Dollar kostet die Rettung vor dem Tod durch Ertrinken.

Später wandern wir noch durch ein Naturschutzgelände, auf dem früher ein Sommercamp für Kinder und Jugendliche stand. Heute erinnern nur noch ein paar verlassene Apfelbäume und ein paar Gedenkschilder an den Ort. Weiter in die Hügel rostet unter den Ahornbäumen ein Motor, der früher einen kleinen Skilift angetrieben hat. Ja, hier hat in den 1960ern tatsächlich jemand ein rustikales Skiresort betrieben. Doch es verschwand wie viele andere Etablissements dieser Art. It was worth a shot, I guess. Alles ist im Wandel, alles ein Traum vom großen Wurf, doch die Träume fruchten nicht. Der Wald holt sich am Ende alles wieder.

In Elk Rapids steht ein Kunstpark unten an der East Bay. Manche Schilder dort zeigen den Weg zu einer friedlicheren Welt. Erstmal mit sich selber klarkommen, lautet die Botschaft. Das ist, wir wissen es alle: schwer genug.

Eine Eulenstatue symbolisiert Weisheit. Viele Menschen setzen sich hier oben zur Ruhe. Aber die Grundstücke am Wasser kosten wohl ein Schweinegeld.

Am Abend gehen wir in eine örtliche Brauerei, wo sie echt sehr gute Biere zapfen und auch ein paar Kleinigkeiten verkaufen, die man Essen kann. Sie haben, weil’s kühl und windig ist, den Food Truck in den Schankraum gezogen. Im Fernsehen läuft College Football. Wir haben zuvor im Radio (auf der Mittelwelle) den Sieg von Michigan gegen Penn State mitverfolgt. Interessant, mit welchen Metaphern Sportkommentatoren arbeiten. Man „nimmt Zeit von der Uhr“, lässt „den Gegner ausbluten“, eine klassische Angriffsformation nennt sich „die Schrotflinte“ und so weiter. Aber nach erstem Kopfschütteln versteht man dann doch das eine oder andere vom Spiel und ich bekomme Respekt vor dem, was die Jungs draufhaben und wie makellos das Kollektiv manchmal funktioniert. Eigentlich ein Wunder, dass das in der Sowjetunion nie groß geworden ist. Stattdessen: Kugelstoßen. Die Welt ist manchmal verrückt.

Man könnte einfach dort oben wohnen, ein kleines Segelboot dabei. Eine Angel, womöglich. Und seine Geschichten schreiben. Solche Sachen kommen einem dann in den Kopf. Ist natürlich Quatsch.

Aber mein Kopf (und ja, mon dieu! ich sag’s einfach mal so: meine Seele) ist wieder gefüllt mit Geschichten, mit einer inneren Verbindung zur Welt, zur Natur, zur menschlichen Sehnsucht nach Erlösung. Hat mit gefehlt die letzten Wochen.

Und das liegt, klar, zum Teil an meiner Begleitung. Aber auch an dieser sehr eigenartigen Gegend oben in Michigan. Bin froh, dass ich mal dort gewesen bin.

bookmark_borderWahlkampf in Michigan – es ist alles noch schlimmer

Metzger’s Michigan Monday #4

Im November wird in Amerika abgestimmt. Und zwar über ne ganze Menge. Ich hab nachgezählt: In unserem Teil von Ann Arbor entscheiden die Menschen über 26 verschiedene Ämter, Verfassungszusätze und dergleichen. Eine der wichtigsten Wahlen bestimmt, wer die nächste Gouverneurin von Michigan wird. Das ist wie bei uns Ministerpräsidentin von … sagen wir mal: Rheinland-Pfalz. Sechs Personen bewerben sich für das Amt. Hat mich überrascht, ich dachte immer, es wären nur zwei – je eine Person für die beiden großen Parteien. Aber nein! Auf dem Wahlzettel steht auch wer von der „Libertarian Party“ (sehr liberal), von den „US Taxpayers“ (religiös-konservativ), von den Grünen und von „Natural Law“, einer Partei, die auf die Kraft der transzendentalen Meditation setzt.

Vergangene Woch nun lief im Fernsehen die Debatte der beiden wichtigsten Kandidatinnen. Auf der einen Seite: Gretchen Whitmer von den Demokraten, die Amtsinhaberin.

Auf der anderen Seite: Tudor Dixon für die Republikaner, sie wird unter anderem von Donald Trump unterstützt.

Sorry für die miesen Fotos.

Mir sind während der Sendung ein paar Dinge aufgefallen. Ich wollte eigentlich noch viel mehr schreiben, aber man verzettelt sich schnell dabei. Die Kurzfassung lautet so: Mir war klar, dass es schlimm wird, aber es war alles noch viel schlimmer. Hier die wichtigsten Punkte, so rein subjektiv gesprochen:

1. Die beiden Kandidatinnen tun nicht mal so, als würden sie miteinander oder mit dem Moderator sprechen. Alle Ansagen gehen einfach direkt in die Kamera. Das ist im Grunde keine Debatte, sondern eine Serie von sorgsam vorbereiteten Werbeansagen. Sehr seltsam. Haben wir so ein Format im deutschen Fernsehen? Ich glaube nicht.

2. Keine der beiden Kandidatinnen kümmert sich um die Fragen des Moderators. Sie hauen einfach das Statement raus, das ihr Team ganz grob zum jeweiligen Thema ausgearbeitet hat. Seine Fragen sind zum Teil sehr präzise gestellt. Wird alles ignoriert. Ich habe Teile eines 1:1-Live-Podcasts gesehen, den Dixon dem Reporter Charlie LeDuff in Detroit gegeben hat. Das war viel härter und viel riskanter als das hier (und hat ihr auch ne Menge Ärger eingebracht, wie man zugeben muss).

3. In mehreren Statements sagen Whitmer und Dixon, dass die jeweilige Rivalin im Grunde nicht mehr ist als eine dreckige Lügnerin. 

4. Sowohl Whitmer als auch Dixon würzen ihre Statements mit völlig lächerlichen Positionen, die die jeweils andere Kandidatin angeblich vertritt, mit bescheuerten oder empörenden Plänen, die dort angeblich in der Schublade liegen usw. Es ist alles ganz unglaublich und ich schäme mich, während ich zusehe.

5. Ironischerweise wird Punkt 3 dadurch weniger unwahr, als einem lieb sein kann.

6. Whitmer wirkt in manchen Momenten recht emotional. Bin mir nicht sicher, ob ihr Team glücklich darüber ist.  

7. Dixons Wangen sind während der Debatte nie gerötet. Sie moderiert selbst die übelsten Sachen mit eisernem Fernsehlächeln in die Kamera. Nicht sympathisch, aber professionell.

8. Whitmer wird die Wahl vermutlich gewinnen. Sie hat den Bonus der Amtsinhaberin und führt deutlich in den Umfragen. Dixon vertritt außerdem eine ziemlich radikale Position in der Abtreibungsdebatte, was ihr vermutlich schadet. 

9. Ich sehe die ganze Veranstaltung mit ausgesprochen gemischten Gefühlen. Der TV-Sender ist offenbar in keiner starken Position, sondern auf Knien dankbar, dass die beiden Kandidatinnen überhaupt erscheinen. So jedoch geht Demokratie in die Tonne. So geht’s nicht weiter. Aber wie kommt man von da wieder weg? Von einem Stil, in dem’s reicht, die politische Gegnerin als das Böse auf Beinen darzustellen? Ich weiß es auch nicht. Aber ich bin enttäuscht.

Demnächst poste ich nette Bilder von den Landschaften hier. Denn wir waren gerade im Norden von Michigan und es ist super schön dort. Die Leute sind auch freundlich, man kann mit allen reden. Das versöhnt mich dann wieder.

Aber insgesamt verspüre ich Sorge.

bookmark_borderHinter jedem Busch ein Nerd: Gedanken über Bohnenomelett, Max&Moritz, Blätterfarben, Kant und den Weltuntergang

Metzger’s Michigan Monday #3

Kapitel 1
Gestern war William wieder bei uns für einen Kochabend. Ich hab’s schon mal gesagt: William kocht am besten! Heute will ich mich auf nur eins der Gerichte beschränken. William schneidet dafür grüne Bohnen (in diesem Fall sind sie gelb) in sehr feine Ringe.

Danach kommen sie für ein, zwei Minuten mit etwas Öl in die Pfanne, bis sie bereits angegart, aber noch bissfest sind. Danach fügt William zwei verquirlte und gewürzte Eier hinzu. So wird daraus bald ein kurioses Omelett.

Ich hab’s heimlich getestet: Schon in diesem Stadium kann man das sehr gut essen. Ein Butterbrot dazu – Mittagessen! William geht aber noch ein paar Schritte weiter! Er legt ein halbes Omelett auf ein Nori-Blatt …

… um anschließend etliche Dinge hinzuzufügen. Vorher hat er mit seiner Mandoline ein paar Radieschen gehobelt, gesalzen und in Apfelessig eingelegt. Diese Radieschen kommen jetzt aufs Omelett, dazu auch ein paar fein geschnittene Stifte aus frischen Radieschen.

Danach noch allerhand Grünzeug: großblättriger Rucola, dazu eine mir unbekannte Pflanze aus der Familie der „Mustard Greens“, die eine gewissen herbe Schärfe mit in den Mix bringt. Darüber streut William knusprigen Reis, den er vorbereitet hat. Gibt der Sache eine tolle Textur. Die Sache mit dem Grünzeug ist ein Experiment. Ansonsten greift William zu einem Pesto aus Minze, Basilikum, Rucola, Knoblauch, Olivenöl, Salz, etwas geriebenem Apfel und Zitronensaft. Wär vielleicht NOCH besser gewesen.

Jetzt wird daraus eine Sushi-Roll!

Ein scharfes Messer zerteilt die Rolle in appetitliche Fingerhappen.

Da nicht alle Gäste gerne scharf essen, hat William das Sushi sehr mild gehalten. Man kann da natürlich noch alle möglichen Schweinereien mit reinkippen und dazu diverse Tunken und Soßen servieren, wie man das auch sonst beim Sushi macht. Es schmeckt sehr frisch und hat eine wunderbare Textur. Und wie gesagt: Die Sache mit dem Bohnenomlett kann man sich eh mal merken! So lecker! Es ist jedesmal wieder ein Lernabenteuer erster Kajüte!

Kapitel 2
Ansonsten übe ich dieser Tage viel mit Kai, der in der Schule Deutsch lernt. Dabei ist mir aufgefallen: Dativ und Akkusativ muss man bei Nicht-Muttersprachlern ganz anders erklären, als man uns das in der Grundschule erklärt hat. Es gibt Gründe, warum „Deutsch als Fremdsprache“ ein eigener Studienschwerpunkt ist. Mal wieder die alte Erkenntnis: Der Teufel steckt im Detail und das merkt man erst, wenn man’s mal selber gemacht hat.

Zwischendurch lockere ich unsere Stunden mit traditionellem Kulturgut auf und lasse meinen gelehrigen Schüler Zeilen aus der deutschen Lyrik auswendig lernen. Man weiß nie, wofür man’s nochmal braucht. In dieser Woche: Max & Moritz. Seither höre ich regelmäßig den Ausruf. „Ach, die bösen Kinder!“ Und natürlich das folgende – unsterbliche – Zitat, aus dem sich mit jugendlichem Elan auch der eine oder andere Klo-Witz zimmern lässt:

3. Kapitel
Hab dieser Tage noch ein bisschen Zeit auf eine größere Geschichte verwendet, die ich für die Leute von „Geo“ geschrieben habe. Dabei hatte ich unter anderem Kontakt mit einem Professor aus Europa, der – wie es der Zufall wollte – auch mal ne Weile hier in Michigan gearbeitet hat. Er schreibt: „Oh Mann, Herbst ist die beste Zeit in Ann Arbor!“ Und er hat völlig recht damit. Die schönen Blätterfarben kommen, die Sonne scheint, die Luft ist ganz wunderbar.

Man denkt als alte Kartoffel zu selten darüber nach. Aber: Ist es nicht eh phantastisch, dass wir so was wie Jahreszeiten haben? Ehrlich, jetzt mal! Im Garten haben sich derweil neue Freunde gefunden. Eine Hirschkuh und ein wilder Truthahn fressen sich gemeinsam ihren Winterspeck an. So schön, wenn man gut miteinander auskommt, oder?

Sogar Coco duldet die beiden gnädig. Naja. Zumindest manchmal. Sie jagt dann lieber den Ball, den wir ihr werfen. Sie liegt dieser Tage oft im Garten, reckt die Nase in die Höhe und schnuppert, was der Herbst so bringt. Auch sie findet: Es ist die beste Jahreszeit von allen!

4. Kapitel
Neulich waren wir bei einem „progressive dinner“ eingeladen. Man geht dann für jeden Gang in einen anderen Garten, den großzügige Gastfamilien für einen geöffnet haben. Jeder bringt was mit, es geht einfach um die Gemeinschaft. Dann stellt man sich zu wildfremden Leuten und fragt: „Und, was machst du so?“ Hab ne Menge gelernt dabei. Zum Beispiel, wie man in der Soziologie „Vermögen“ misst (es ist kompliziert und keine Methode perfekt), welchen Einfluss Zarathustra auf die Gedanken von Platon hatte, woher man in Michigan „Magic Mushrooms“ kriegen kann, mit welchen mathematischen Methoden sich Musik analysieren lässt und warum die Power der Künstlichen Intelligenz maßlos überschätzt wird. Und dann war da noch das Thema Immanuel Kant. Nicki und ich haben erst am Vormittag in einem Gespräch festgestellt, dass ich im Grunde Kantianer bin. Jetzt auf dem progressive dinner gerate ich doch glatt in ein einstündiges Gespräch über den Begriff der Subjektivität bei Kant. Und das auf ne Art, die ich mir in Tübingen auch sehr für mein Studium gewünscht hätte. Die Philosophie-Professorin sagt sinngemäß: Man versteht den alten Kant im Englischen tendenziell besser als im Deutschen, weil das Englische eine andere Form von Klarheit erzeugt. Kürzere Sätze und all so was. Im Deutschen ist Kant nicht immer leicht zu verstehen. „Aber Hegel war schlimmer!“, sagt sie.

Was ich mit all dem sagen will: Hier in der Stadt steht hinter jedem Busch ein Nerd. Es ist ganz unglaublich. Ich genieße das sehr, auch wenn mir klar ist, dass das ein elend privilegiertes Leben ist und mit dem Rest der Welt nicht immer sehr viel zu tun hat.

5. Kapitel
Und das bringt mich zwanglos zum Traum der vergangenen Nacht. Da ist genau diese Welt nämlich untergegangen. Und zwar so richtig. Wenn ich mir jetzt so die Nachrichten ansehe, mit Inflation, Krieg, Klima, Corona und all den wachsenden Spannungen überall, dann … tja. Vielleicht macht sie gerade ja wirklich genau das. Es wäre elend schade drum.

bookmark_borderSoftball und die Kunst des Nichtstuns

Metzger’s Michigan Monday #2

Letzte Woche habe ich aktiv an einem Sportereignis teilgenommen. Und zwar. Haben die Leute aus Nickis Institut für so ne Art bunte Liga im Softball gemeldet und waren dankbar für Unterstützung. Softball ist wie Baseball, nur großzügiger.

Zum Beispiel ist die Keule, mit der man den Ball schlägt, nicht aus Holz, sondern aus Aluminium, was den Schwung erleichtert. Ich hab mir also so einen Schläger in die Hand drücken lassen und mein Glück versucht. Der Mensch, der einem den Ball zuwirft, spielt für die andere Mannschaft. Man kriegt den Ball deshalb selten so, wie man ihn gerne hätte. Ich habe all meine ersten Versuche vermasselt und war dann sofort raus.

Das Bild oben zeigt einen der wenigen Versuche, wo die Sache gut für mich ausging. Ich hab den Ball getroffen, hab’s auf die erste Base geschafft. Und nach tüchtigen Schlägen meiner anderen Teamleute bin ich dann tatsächlich „nach Hause“ gelaufen, was dem Team einen Punkt beschert hat. Ich mag das Bild sehr, man sieht, wie ich kurz davor bin, mit dem linken Fuß die Homebase zu berühren, also den Punkt zu machen. Rechts oben sieht man einen gelben Punkt – den Ball. Dahinter liegt unscharf ein bärtiger Mann quer in der Luft. Er hat den Ball hechtend geworfen, mit maximalem Einsatz. Die Frau neben mir wartet darauf, den Ball zu fangen. Wenn sie ihn fängt, ehe ich die Base erreiche, bin ich raus. Aber die Sache geht gut für mich aus, es war ein toller Moment. Entsprechend jubelnd zeigt mich das nächste (leider unscharfe) Bild:

Die eigentliche Lehrstunde hat mir jedoch eine andere Frage beschert: Was tun, wenn der Ball mir nicht gut zugeworfen wird? Dafür gibt es strenge Regeln. Der Ball darf nicht zu hoch sein, nicht zu flach, nicht zu weit rechts, nicht zu weit links. Pitcher sein – das ist ein schwieriger Job. Und die Faustregel bei so einem schlechten Ball lautet: Du machst gar nichts! Der Pitcher kriegt einen Fehler aufgeschrieben. Wenn er drei davon gemacht hat, darfst du ganz umsonst zur ersten Base marschieren. Und, Junge, HABEN mir meine Leute das eingebläut! „You don’t swing!“ Natürlich muss man vorher trotzdem so TUN, als würde man draufhauen. Wie ich hier im nächsten Bild. Bei all meinen Fehlversuchen meinten meine Leute: „Das Dastehen sah schon mal ganz gut aus.“

Das war sehr höflich. Überhaupt: Ich mag das Jubeln und Anfeuern sehr – es ist immer noch Amerika! Mein größtes Problem bestand darin, dann auch WIRKLICH nicht zu schlagen. Ich konnte es nicht.

Denn: Ich WILL diese blöde Kugel treffen, es ist ein Reflex, auch wenn die Kugel schlecht geworfen ist! Man haut dann natürlich vorbei – nach dem zweiten Fehlversuch ist man raus. Meine Leute verbergen ihre Gesichter schamvoll in ihren Händen. „Anfängerfehler“, meint Nicki trocken.

Und damit sind wir bei der großen Weisheit des Tages: Nichtstun ist eine Kunst. Es ist sehr schwierig, absichtsvoll nichts zu tun – zumal, wenn die Situation nach Aktion schreit, nach Lösung und Handlung. Ich beschäftige mich ja seit Jahren mit den möglichen Interventionen von Regierungen. Aus der Psychologie kommen dazu ganz interessante Ideen, wie man das ohne viel Aufwand machen kann und ohne die Freiheit der Menschen zu stark zu beschränken. Ein paar kluge Leute aus England haben über eine Art und Weise nachgedacht, dieses Regierungshandeln einzuordnen. Sie haben acht Stufen des Eingreifens ausgemacht. Die unterste Stufe – und das war damals ein großer Aha-Moment für mich – lautet: „Wir machen gar nix.“ Das bewusste Nichtstun ist AUCH eine Form der Intervention, eine Art des Eingreifens. Man entscheidet sich fürs Nichtstun – und das ist manchmal das Allerbeste überhaupt. Wie beim Softball, wenn die Kugel schlecht geworfen wurde.

Damals, vor Urzeiten, hab ich mich in meiner Magisterarbeit ja mit der Rednerschule der Nationalsozialisten in den späten 1920ern und frühen 1930ern befasst. Ich habe dabei auch ne Menge über die Führungsstrukturen der Partei gelernt. Es gab andauernd Zank zwischen irgendwelchen Abteilungsleitern und dann haben alle den großen Vorsitzenden angeschrieben und gesagt: „Jetzt tu doch endlich mal was!“ Man findet das auch in den Tagebüchern von Goebbels: Alle paar Seiten jammert er darüber, dass Hitler mal wieder NICHTS TUT und Probleme nicht auflöst. Ihm war entgangen, dass das Nichtstun komplett Absicht war und sozusagen das Machtprinzip seines Meisters. Sollen die andern sich doch kloppen! Soll der Ball doch fliegen und der Pitcher nen Fehler aufgeschrieben kriegen! Seit jenen Tagen hab ich in der Zeitung immer wieder Klagen gelesen über Menschen mit großer politischer Verantwortung. Über ihr Aussitzen. Ihre Unsichtbarkeit und all das. Tja.

Nichtstun ist eine Kunst. Und niemand sollte unterschätzen, wie sehr es gegen unsere Impulse geht. Man muss Respekt davor haben, wenn jemand das gut hinkriegt.

Dennoch bevorzuge ich persönlich natürlich die Aktion. Das Tun macht mir mehr Freude als das Nicht-Tun. Und so habe ich Nicki dazu überredet, ein Gericht auszutesten, das ich noch nie gekostet habe. Also sind wir mit der inzwischen nicht mehr stinkenden Schäferhündin in die Innenstadt marschiert, um bei Zingerman’s zwei „Knishes“ zu bestellen. Es handelt sich um ein Gebäck, das man mit gewürztem Kartoffelbrei oder anderen Sachen gefüllt hat.

Die Teigkissen waren im Januar Stadtgespräch, als die hiesige Uni ihren Präsidenten gefeuert hat. Er hatte ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin. Zusammen mit der Absetzung hat man gleich noch ein paar hundert Emails ins Netz gestellt, die die beiden einander zugeschickt hatten. Ich fand die Veröffentlichung einigermaßen schäbig, eine Aktion mit ranzigem Beigeschmack, sozusagen. War natürlich trotzdem unterhaltsam. Ein Satz des Präsidenten aus der Korrespondenz hat es sogar in die Headline der Berichterstattung geschafft: „I can lure you to visit with the promise of a knish?

Knishes, so viel kann ich sagen, sind nahrhaft und lecker. Preis: 4,99 $ das Stück.