bookmark_borderLeidenschaft für Pasta

Wenn man wissen will, was einen von innen her antreibt, dann kann man ins Internet gehen und einen Fragebogen ausfüllen. Der „Charakterstärkentest“ der Uni Zürich dauert ewig und nervt enorm – aber die Ergebnisse können wahnsinnig erhellend sein. Ich habe daraus jedenfalls einige Dinge über mich gelernt, zum Beispiel, dass ich mich wahrhaft und mit unerschöpflicher Energie begeistern kann, wenn jemand anders etwas richtig, richtig toll macht.

Und genau sowas ist mir jetzt wieder mal begegnet. Ich hab jemanden getroffen mit maximaler Leidenschaft für Pasta. Zum Beispiel für diese Pasta hier. Sie befand sich in seinem Familienkühlschrank, er hat sie mir geschenkt.

Und das kam so: Nicki und ich waren in San Francisco auf der SPSP, der wichtigsten Forschungskonferenz für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Und durch eine Verkettung von Zufällen fand ich mich plötzlich wieder am Abend in einem kleinen Privat-Häuschen, in dem ich außer meiner Partnerin praktisch keinen kannte.

Die Gastgeber hatten eine Dachterrasse, von der aus man über die Bay und die halbe Stadt gucken konnte. Es war sozusagen eine „Bayview“-Terrasse. Die Leute waren alle gut drauf und mit besten Absichten unterwegs.

Und dann bin ich ins Gespräch mit dem Gastgeber Joshua gekommen und wir haben uns, wie das so zu gehen pflegt, auf einmal festgequatscht über gutes Essen, einfaches Essen, ehrliches Essen. Es hat sich rausgestellt: Es ist gelernter Koch. Aber seit ein paar Jahren hat er seine eigene kleine Firma, er macht Vollkornpasta. Angefangen hat die Sache damit, dass er Weizen von irgendwelchen Bauern aus der Gegend gekauft und mit einer Handmühle zu Mehl gemahlen hat. „Ich verstehe nicht, warum nicht alle ihre eigene Handmühle haben“, sagt er. Und wenn ich so drüber nachdenke … dann versteh ich das auch nicht. Mein Kumpel Kai hat eine eigene Mühle und macht sich daraus seine eigenen Haferflocken, was tatsächlich viel, viel besser schmeckt als das Zeug aus Elmshorn.

Joshua hat mir jedenfalls ein paar Packungen aus seinem eigenen Kühlschrank mitgegeben, einfach so zum Probieren.

Ich bin im süddeutschen Spätzle-Gürtel aufgewachsen und habe sowohl in Hamburg als auch Michigan meine eigene Spätzlemaschine in der Küche liegen. Sie bleiben nie lange unbenutzt. Ich bin Traditionalist und rühre Vollkornzeug nicht an.

Eigentlich. Denn DIESES Vollkornzeug hier ist einfach der Hammer. Die Pasta schmeckt intensiv und nach einem Boden, den man selbst mit dem Spaten umgegraben hat. Die Textur ist zart und rund und schmeichelnd. Ich habe nicht gewagt, eine Soße über die Pasta zu kippen. Nur ein bisschen Olivenöl und ein bisschen Parmesan. Es war ganz toll.

Hier hab ich einen Screenshot von Joshuas Homepage gemacht, also: von seiner Firma „Bayview Pasta“. Seht Ihr das Logo auf der Homepage? Es zeigt Joshuas Handmühle.

Und hier noch ein zweiter Screenshot, der Meister im Mehl. Ich hab ihn vollgelabert mit Vermeer, der immer wieder Menschen wie ihn gemalt hat. Menschen, die allein in einem Raum abhängen mit nur einer Lichtquelle und dabei ihrer Aufgabe nachgehen, ihrer Tugend, ihrer Bestimmung. Das gute Leben als Gemälde. Naja.

Man kann seine Sachen nur in San Francisco kaufen, sagt er. Es gab Anfragen von anderswo. „Aber was soll ich das Getreide aus Kalifornien nach sonstwohin fahren lassen? It doesn’t make any sense.“

Jedenfalls … wenn ich Leute wie Joshua treffe, dann ist das Leben schön und ich kann nicht anders, als die Geschichte weiterzuerzählen.

Und morgen geh ich los und kaufe meine eigene Getreidemühle. Vielleicht.

bookmark_borderWer will nen Laden in San Francisco aufmachen?

Gestern nen krassen Spaziergang durch die Oakland Hills gemacht. Man hat da diesen Blick über die San Francisco Bay. Oben auf dem Bild sieht man z.B. die Golden Gate Bridge und rechts davor Alcatraz mitten im Wasser. Es ist wahnsinnig schön hier und ich verstehe, warum so viele Menschen versuchen, sich in dieser Gegend niederzulassen.

Wir sind hier, weil wir der SPSP-Konferenz beiwohnen. Das ist eine Forschungskonferenz, bei der viele schlaue Menschen ihre Studien aus der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie vorstellen. Ich war schon häufiger dabei und hab jedesmal irre viel gelernt und – klar – auch neue Geschichten mitgebracht, zum Beispiel für Psychologie Heute oder P.M.

Seit ner Woche hab ich auch diesen Psychologie-Podcast bei Audible am Start. Er heißt „Sag mal, Du als Psychologin“ und ich unterhalte mich dabei mit Barbara Lich und Muriel Böttger über alle möglichen Psycho-Themen. In Folge eins: über Persönlichkeit. In Folge zwei: über Motivation. Diese Folge ist seit heute abrufbar. Checkt es aus und schreibt mir was dazu. Wir fangen erst an damit und können in Zukunft bestimmt viele Dinge besser machen. Vielen Dank für Eure Hilfe!

Ein Wort über den Zugang: Man braucht ein Audible-Abo, um den Podcast zu hören. Das ist einerseits schade, aber andererseits … kann man auch einfach ein kostenloses Probeabo abschließen und sich einen Reminder für in zwei, drei Wochen in den Kalender schreiben. Dann kündigt man wieder und der Spaß kostet gar nix. Und vielleicht bemerkt man unterwegs, dass einem viele der Sachen dort gefallen und dann bezahlt man halt Geld dafür und macht weiter. Alles ist möglich und wer weiß, wohin es führt.

Jedenfalls: Heute in der Mittagspause einen Spaziergang durch San Francisco gemacht. Ganz stumpf: einfach die Market Street runter zum Fähranleger – wie alle Touristen. Ich hab das schon ein paar Mal gemacht in meinem Leben. Vor zwei Jahren haben Nicki und ich ja ne Weile im Silicon Valley gewohnt, bevor uns die Pandemie von dort vertrieben hat.

Die Gebäude in San Francisco sind immer noch hübsch. Manche von ihnen können reden. Dieses Gebäude zum Beispiel sagt: Der S&P 500 hat einen schlechten Tag.

Ich hingegen habe keinen schlechten Tag, denn ich kann mich draußen bewegen, mir einen Kaffee aus einem der Läden holen, mir ein belegtes Brot kaufen, und das belegte Brot schmeckt ausgezeichnet. Außerdem scheint die Sonne, ich lebe also, wie man so sagt, ein sehr privilegiertes Leben. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.

Dennoch komme ich nicht umhin, ein paar Dinge zu bemerken. Zum Beispiel: Vor rund zwei Jahren war hier mehr los. Viel mehr. Wer will nen Laden in San Francisco aufmachen? Keiner! Ich fange irgendwann an, Fotos von all den leerstehenden Läden zu machen. Auf der Market Street gibt es eigentlich keine leerstehenden Läden. Denn dies hier ist eine supersupersupertolle Lage. Zumindest war das vor der Pandemie so. Jetzt hingegen:

Außerdem nehmen die Straßenhändler am Ferry Building nur Bargeld und keine Kreditkarten. Ähhh. Moment. Nein. Es ist genau umgekehrt. Die Straßenhändler nehmen gar kein Bargeld mehr. Es passt alles nicht so richtig zusammen.

Immerhin hab ich hier auf der Konferenz schon ein paar richtig tolle Vorträge gehört.

Über einen der vielen Gründe, warum Frauen seltener als Männer befördert werden.

Über Fake News in den sozialen Medien.

Über ein hammertolles Projekt aus dem Irak, wo man junge Christen und Muslime über gemeinsame Fußballmannschaften wieder miteinander ins Gespräch und sogar in Freundschaften gebracht hat.

Über Interventionen, mit denen man junge Leute dazu bringen kann, weniger zu saufen.

Über Paare während der Pandemie: Wer ist gut durchgekommen und wer nicht (erwartbar: Paare mit Kindern hatten es während der Lockdowns erheblich schwerer als Paare ohne Kinder)?

Dann war da noch dieser wirklich sehr detaillierte Vortrag über die Rolle der Dankbarkeit in romantischen Beziehungen. Ich sehe schon die Überschrift vor meinem inneren Auge: „Wie Dankbarkeit die Liebe stärkt“. Würd‘ ich lesen wollen … aber man weiß nie so richtig, welche Forschungsrichtung am Ende den Zuschlag der Redaktionen kriegt.

Und dann gab’s bei einem der Kaffeehöker noch ne Lebensweisheit to go – ganz umsonst. Life is good.

bookmark_borderPlötzlich hast Du Deinen eigenen Audible-Podcast

Es geht manchmal alles von selbst. Jens Schröder von Geo hat mich gefragt, ob ich nicht mal als Teil eines kleinen Teams was über Psychologie erzählen will. Und – zack! – plötzlich hast Du Deinen eigenen Audible-Podcast!

Jens gehört zu dem Trio, das jede Woche den Podcast „Sag mal, Du als Physiker …“ raushaut – und das inzwischen schon in der sechsten Staffel. Daraus ist über die Jahre ne ganze Podcast-Familie geworden. Das neueste Baby heißt „Sag mal, Du als Psychologin …“. Und seit Donnerstag sind wir damit draußen in der Welt. Ich rede dabei mit der Psychologin Muriel Böttger und der Geo-Journalistin Barbara Lich über alle möglichen Themen: Glück, Dankbarkeit, Kreativität, Lampenfieber, die Liebe – 24 Folgen, jeden Donnerstag kommt ne neue dazu.

In der ersten Folge geht’s um Persönlichkeit. Checkt es aus. Wenn’s Euch gefällt: Hinterlasst ne gute Bewertung. Wenn nicht: Erzählt es mir 😉

Ich finde die Podcast-Arbeit jedenfalls ziemlich aufregend. Es ist ein ganz anderes Spiel als das Schreiben für Magazine, das steht schon mal fest. Es fühlt sich schneller an. Und ich hab das Gefühl, an manchen Punkten trotzdem mehr Tiefe in die Themen zu kriegen. Das Gespräch ist eine gute Literaturform.

Ansonsten hatten wir dieser Tage wieder ein bisschen Neuschnee. Alle möglichen Tiere haben ihre Spuren hinterlassen. Irgendwann schmilzt der Schnee, dann sind die Spuren wieder weg. Der Schnee ist das Medium. Die Spuren sind die Artikel und Bücher, die wir schreiben, die Podcast-Episoden, die wir aufnehmen. Es bleibt alles ein Weilchen, dann ist es wieder verschwunden. Und die Erde dreht sich weiter, weil sie nicht anders kann.

Hier die Tiere – wie gut ist Eure Nase im Spurenlesen?
Hirsch, Waschbär, Truthahn, Katze, Opossum, Kaninchen.
Welcher Abdruck gehört zu welcher Kreatur?
Viel Spaß dabei!

bookmark_borderEin neues Schupfnudelrezept und ein namenloser Kanzler

Am Wochenende war unser Kumpel William wieder zu Besuch. Ich hab’s andernorts schon erwähnt: William kocht am besten. Wir haben diesmal Schupfnudeln gemacht. Das ist für mich was Besonderes. Denn mit meinem alten Schulfreund Holger hab ich vor vielen, vielen Jahren mal eine Schupfnudel-Wette abgeschlossen. Ich meinte damals: „Meine Mutter macht die besten Schupfnudeln der Welt.“ Er so: „Das kann nicht sein. Die macht nämlich meine Oma.“

Also war er bei uns zum Schupfnudeln-Essen. Und ich war mal bei seiner Oma. Es war alles ganz toll – wir haben uns auf Unentschieden geeinigt.

Als Student hab ich dann selbst Schupfnudeln gemacht, weil das wie Heimat geschmeckt hat.

Jetzt aber hat William mit seiner österreichischen Küche ein paar meiner Ur-Überzeugungen zerstört. Er macht Schupfnudeln ganz anders. Und besser. Da hilft alles Jammern nicht.

Und zwar ist es so: Da, wo ich herkomme, kocht man am Vortag seine Kartoffeln in der Schale. Man lässt sie ausdampfen und dann stehen über Nacht. Die Kartoffeln verlieren Wasser. Am nächsten Tag schält man die Kartoffeln, stampft sie, mischt sie mit Mehl, einem Ei, Salz und Muskat. Aus dem Teig rollt man die Schupfnudeln, man kocht sie wie Knödel im Salzwasser, lässt sie abtrocknen, um sie dann in der Pfanne knusprig zu braten. Eigentlich einfach – aber es dauert.

Jetzt aber William: Er lässt mich die Kartoffeln schälen, sie achteln und dann mit einer genau abgemessenen Menge Wasser im Topf kochen. Er stellt seinen Wecker, nach dem Klingeln lässt er mich eine vorher abgemessene Mehlmenge in den Topf kippen. In den Topf? In den Topf!

William sticht mit Holzkochlöffel ein paar Löcher in die Mehldecke, das Wasser brodelt daraus hervor, atmend wie ein isländischer Geysir oder der Wallende Born in der Vulkaneifel.

Wieder eine Weile später ist das Wasser fast verkocht, William nimmt den Topf vom Feuer und zerdrückt alles mit dem Stampfer zu einem schönen, festen Teig.

Dann das Formen der Schupfnudeln, reichlich Butter in die Pfanne und dann das gute Zeug bei mittlerer Hitze ausbacken.

in meiner Badischen Heimat gibt’s die Schupfnudeln meist mit Apfelbrei und in einem anderen Gang mit Blattsalat. Die Schwaben essen ihre Schupfnudeln mit Sauerkraut.

William jedoch gibt uns Puderzucker, Mohn und selbst gemachtes Pflaumenkompott.

Es schmeckt alles sehr gut und ging in der Zubereitung viel, viel schneller und einfacher als bei Oma und Mutter.

Ich ziehe meinen Hut und werde es beim nächsten Mal ohne fremde Hilfe ausprobieren.

Ansonsten wieder US-Nachrichten geguckt. Scholz war in Washington. NBC sagt tatsächlich: Der neue Chef aus Deutschland war da. Dann ein Satz, den Biden gesagt hat. Dass unser Neuer „Olaf Scholz“ heißt, bleibt unerwähnt. Merkel kannte jeder. Ihr Nachfolger hat in Amerika noch nicht einmal einen Namen. Traurig.

bookmark_borderDer Zauber einer Bibliothek vor der Erfindung des Internets

Dieser Tage musste ich an ein Abenteuer aus dem Studium denken, damals in Tübingen. Ich war im vierten Semester und eines der Seminare hieß so sinngemäß: „Wie schreibt man eigentlich einen Lexikonartikel?“ Ich so: Joa, warum nicht? – und hab mich angemeldet. Hat sich dann aber schnell gezeigt, dass die Dozentin die Sache sehr ernst meinte: Wir sollten WIRKLICH einen Lexikonartikel schreiben für ein wirkliches Lexikon. Am Ende des Semesters haben, wenn ich das richtig sehe, genau drei Teilnehmende die Sache durchgezogen. Einer davon ist jetzt Professor an genau dem Lehrstuhl, an dem wir damals studiert haben.

Der mir zugeordnete Artikel trug den Namen „Epanodos“. Es handelte sich um eine vergessene rhetorische Stilfigur, die keiner meiner verwendete und niemand mehr brauchte oder vermisste. Aber egal. Sie war nun mal da und deshalb hatten die Herausgeber ihr einen Platz zugedacht im gigantischen „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ – und zwar genau zwischen den nicht minder wichtigen Einträgen „Epanalepse“ und „Epenthese“.

Jeder musste zu Beginn des Semesters ein Referat über einen Aspekt der Figurenlehre halten und dann hat man jedem von uns eine Literaturliste in die Hand gedrückt und uns ein paar Wochen Zeit gegeben, das Material für unsere Artikel zu sammeln. In meinem Fall waren es mehr als 200 Bücher. Einige davon: antike griechische Schriften, die nur in Bruchstücken erhalten waren. Ich konnte kein Griechisch, aber ich wusste, wie meine Figur von den Griechen geschrieben wurde. Also … an die Zettelkästen gegangen, das griechische Werk über Stilfiguren rausgesucht, aha, es gab einen Band, in dem das Fragment mit abgedruckt war. Also das Buch bestellt und ausgeliehen und dann alles durchgelesen. Es war eine mühevolle Arbeit. Heute erledigt das eine Suchfunktion in weniger als einer Sekunde.

Dann tatsächlich: Da steht’s! Also die Seiten kopiert, das Buch zurückgegeben und rumgefragt … und tatsächlich einen Griechen gefunden, der damals Altphilologie studiert hat und sich mit rhetorischen Figuren auskannte. Er hat mir die Passage dann schnell beim Bier übersetzt. Und so ging’s weiter. Ich hab rund ein Dutzend antike Figurenlehren gelesen und die entsprechenden Passagen rausgeschrieben, dann ein paar Quellen aus der Spätantike, und danach ging’s über Renaissance, Barock, Aufklärung und so weiter bis heute. Die Bücher aus der Aufklärung waren besonders krass. Viele glaubten damals, dass alles mit allem zusammenhängt und man die Regeln nur finden und dem Universum sozusagen entreißen muss, um sie zu verstehen. Jede Figur, so war damals die These, ist mit einer bestimmten Gemütsregung des Menschen verbunden. Ich fand das aufregend und für einen kurzen Moment dachte ich: Genau so muss man’s machen. War aber natürlich Quatsch. Figuren und Emotionen sind nur lose miteinander verknüpft. Manchmal auch gar nicht.

Der für mich aufregendste Moment der Recherche waren die beiden Rhetorik-Bücher von Philipp Melanchthon. Melanchthon war ein wichtiger Reformator, er hat Luther dabei geholfen, die Bibel zu übersetzen. Jedenfalls hatte die alte Tübinger Bibliothek tatsächlich noch beide Rhetoriklehrbücher des Meisters irgendwo in trockenen, kühlen Speicherräumen gelagert. Und zwar: die Originalausgaben von fünfzehnhundertschießmichtot. Ich so: Okay, die muss ich lesen. Also einen Spezialantrag gestellt … und dann ging man einige Zeit später in einen sehr alten, holzvertäfelten Raum und ein alter Mann gab einem weiße Schutzhandschuhe, die musste man sich überstreifen und dann saß er daneben, während man las. Die Bücher waren furchtbar wertvoll. Und lange ungelesen: Beim Öffnen knackten Seiten und Umschlag wie die Dielen einer sehr alten und sehr unrenovierten Altbauwohnung. Es war ein heiliger Akt. Der Zauber einer Bibliothek vor Erfindung des Internets. Aber dann hatte Melanchthon, wenn ich mich richtig erinnere, nur die Passagen aus der pseudo-ciceronianischen „Rhetorica ad Herennium“ abgeschrieben wie alle anderen auch. Tja.

Was ich sagen will: Es hat Wochen gedauert, allein die ganzen Bücher zusammenzusuchen und in die Finger zu kriegen, zu lesen, abzuschreiben und wieder zurückzugeben. Fast in allen Büchern stand dasselbe. Allerdings kam es irgendwann zu einer kleinen Verschiebung. Jemand schrieb noch was anderes und ab dann haben das einige Fachleute auch mit abgeschrieben, aber ich weiß es nicht mehr genau.

Die jungen Leute können nicht erahnen, wie mühevoll der Zugang zu Wissen war, bevor Wikipedia und das Internet erfunden worden sind. Das Gedächtnis war viel wichtiger als heute.

Habe vorhin gegoogelt und gesehen, dass einige Fachbeiträge meinen Artikel zitiert haben: Da ist ein Aufsatz über mittelalterliche Kunstgeschichte, eine Dissertation über Thomas Bernhard, eine über den Minnesang, ein niederländisches Rhetorik-Lexikon. Es war also nicht alles umsonst. Und ein großes Abenteuer war es ohnehin. Es ist ein schönes Gefühl, sich daran zu erinnern. Ich habe Wochen meines Lebens mit einem versunkenen Konzept zugebracht und dabei eine Technik erlernt, die seither ebenfalls versunken ist. Und doch gibt mir all das eine andere, bessere Perspektive auf die heutige Zeit.

Ach so. Ein Beispiel für „Epanodos“ ist der Satz: „Du bist schön. Schön bist du.“ Man wiederholt einen Satz, dreht ihn dabei aber um. Man hätte sich die Sache auch sehr einfach machen können.

bookmark_borderHappy End mit Stromausfall

Das Interessante an Büchern und Filmen ist ja, dass sie irgendwie „ausgehen“. Das hat uns als Kinder immer am meisten interessiert. Jemand hatte ein Buch gelesen, wir noch nicht. Wir kannten nur den Anfang oder ein paar Grundfiguren. „Und, wie geht’s aus?“ – das war die wichtigste Frage. Dasselbe im Fernsehen. Damals war’s ja so: Ein Film lief einmal – und wenn man nicht aufbleiben durfte oder den Film aus sonstigen Gründen „verpasst“ hatte, dann war es das eben für die nächsten Jahre. Vielleicht sogar für immer. „Wie ist es ausgegangen?“ Es war immer dieselbe Frage.

Ich persönlich wollte immer, dass es „gut ausgeht“.

Denn wir wissen ja alle, wie unser Leben endet: Man stirbt und ist dann tot. Man weiß es vorher. Wie also kann ein Leben „gut ausgehen“? „In den Himmel kommen“ schien mir als Chance zwar plausibel, aber auch relativ abstrakt. Die Panik vor der eigenen Sterblichkeit hat im Kindergarten angefangen und dann sehr lange angehalten. Jeder Film und jedes Buch, das zu Ende ging, fühlte sich an wie ein Probelauf dafür. Es war immer ein großer Verlust. Dass die Erzählung für die Heldinnen und Helden gut ausgegangen war, tröstete immerhin ein wenig. Die offenen Enden oder gar die „auf der letzten Seite sind dann endlich alle tot“–Variante hab ich stets als düstere Zumutung empfunden. Warum den Schmerz mit Absicht verdoppeln?

Dieser Tage in Michigan reden jedenfalls alle vom Wetter. Bis kürzlich war’s noch: kalt und trocken. Der Fluss komplett zugefroren, mehr als zehn Zentimeter dick die Eisschicht, wir haben einen jungen Mann gesehen, der mit dem Fahrrad über den See gefahren kam.

Heute zum Frühstück fielen dann die ersten Flocken.

Der Wetterdienst sagt, dass wir bis zum nächsten Frühstück bis zu 40 Zentimeter Neuschnee kriegen könnten. Das ist sehr viel Schnee für meine Verhältnisse. Hab vorhin die Zufahrt geschippt und „Weg gemacht“, wie man in meiner alten Heimat sagt. Der letzte Schnee war trocken, leicht und pulverig. Dieser Schnee ist eine schwere Pampe. Ich fürchte, er wird für manchen Baum eine zu große Last. Die Bäume knicken dann, sie fallen in Leitungen – und wir haben keinen Strom. So könnte es kommen, aber man weiß es halt nicht genau.

Ich hoffe, die Sache geht gut aus. Mit Stromausfall oder ohne. Jetzt erstmal: Holz ins Haus bringen. Kerzen bereitlegen, den kleinen Gaskocher aus dem Keller holen für alle Fälle. Hund und Katze haben es sich schonmal gemütlich gemacht.