bookmark_borderDie Werbung sagt mir, wer ich bin: Zeitungsleser, Geldverschwender, Saitenzupfer, Kunstbanause, Baggerfahrer, Herzverbluter, Rotweintrinker, Ahnungsloser

Es heißt ja immer, dass die großen Tech-Konzerne alles über uns wissen. Sie sammeln Daten, jagen sie durch ihre schlauen Maschinen und – zack! – verführen sie uns mit maßgeschneiderter Werbung. So denkt man sich die Sache zum Beispiel bei Facebook.

Man kann den Spieß natürlich auch umdrehen und sagen: All diese Werbeanzeigen sind ein Indikator dafür, was Facebook über uns denkt, ein Spiegel, an dem wir den tadellosen Sitz unserer Persönlichkeits-Frisur überprüfen können und ob uns womöglich noch Zahncreme am Kragen klebt.

Die Werbung sagt mir, wer ich bin.

Tut sie das?

Um das zu prüfen, hab ich beim Frühstück einfach mal gesammelt, welche Botschaften mir die vielen Anzeigen auf Facebook so zurufen – auf nüchternen Magen. Hier kommen acht Sätze. Bei manchen hab ich genickt, bei anderen: mich gewundert.

Erstens: „Du liest Zeitung“

Das verraten Anzeigen fürs Hamburger Abendblatt und einen Podcast der FAZ.

—–

Zweitens: „Du hast zu viel Geld“

… am besten, Du gibst es schnell für unnütze, aber dafür teure Dinge aus! Zum Beispiel für teure Pullover, teure Holzfiguren, einen Tag im Flugsimulator, für Designer-Möbel, winterliche Zugreisen in die Schweiz – oder eine Kreuzfahrt in die Antarktis.

Drittens: „Du spielst Gitarre und hörst klassische Musik“

Das verraten Anzeigen für irgendwelche Streichkonzerte bei Kerzenlicht – und für dieses experimentelle Werkzeug, mit dem man ganz normal mit den Fingern greifen und dennoch Slide-Gitarre spielen kann. Genial!

Viertens: „Du magst Kunst – hast aber gar keine Ahnung davon

Das verraten Ausstellungshinweise (aus Hamburg), Anzeigen für (Obacht!) einen Online-Kurs, der Unwissenden innerhalb weniger Stunden einen Überblick über die gesamte Kunstgeschichte verspricht, für teure Kunstdrucke – und für die gar nicht mal so uninteressanten Bilder einer Malerin, die Frauen aus einer Linie zeichnet.

Fünftens: „Du hast zu wenig Geld“

Such Dir gefälligst Arbeit! Zum Beispiel als Nachhilfelehrer – oder (hier wird’s sehr konkret) als Baggerfahrer im Sielbau irgendwo im Lauenburgischen.

Sechstens: „Du hast ein gutes Herz – aber das Herz blutet“

So spricht der Spendenaufruf für ein SOS-Kinderdorf, die emotionale Familien-Kampagne eines finnischen Handy-Herstellers – und ein Therapieangebot für Traumatisierte. Vielleicht habe ich ein Trauma oder zwei. Gut möglich.

Siebtens: „Du ernährst Dich gesund und genussfreudig

Das sagen die Anzeigen für veganes Essen, Edeka – und nicht ganz billige Weingläser.

Achtens: „Du machst was mit Schreiben und Psychologie – und hast keine Ahnung, wie’s weitergeht“

Dies flüstert eine Anzeige für einen Kurs im Kinderbücherschreiben – und das schmeichelhafte Angebot, mich für das Masterprogramm in Neurowissenschaften am King’s College in London einzuschreiben.

Viele offene Fragen.

Bin ich all das wirklich?

Welche Anzeigen sind es bei Euch?

Wie gut fühlt Ihr Euch gesehen?

Und noch wichtiger: Bei welchen Anzeigen denkt ihr: „Das muss ich unbedingt ausprobieren?“ Mir ist das erst einmal passiert. Und das ist eigentlich zu wenig für all den Aufwand.

Aber tatsächlich hätt‘ ich mir neulich beinahe was gekauft.

bookmark_borderEiskalte Reklame

Dieser Tage waren wir in Dexter, das ist ein Städtchen vor den Toren von Ann Arbor. Von Wikipedia weiß ich, dass es dort einst eine spektakuläre UFO-Sichtung gab. Und einen schlimmen Tornado. An diesem Tag jedoch hingen im Monument Park übererwartbar viele Leute ab. Aha, eine Festivität! Also sind wir dem Wagen entstiegen, um die Sache zu bestaunen.

Da standen tatsächlich Eisfiguren rum. Oben: ein Einhorn. Desweiteren: ein Schwein …

… ein Paddelboot … 

… und ein Elch, sich einen Bierhumpen an die Lippen führend.

Im Netz dann nachgelesen: Es handelt sich bei dieser Veranstaltung um das „Dexter Ice Fest„. Es findet jeden Januar statt in der „schmucken Innenstadtgegend von Dexter“. Die Sause ist „aufregend und ein Spaß für die ganze Familie“. Die Idee: Jeder Laden in Dexter kann sich seine „eigene, kreative Skulptur“ schnitzen lassen.

Wenn in meinem Freundeskreis jemand Dexter erwähnt, dauert es keine zehn Sekunden, bis die Sprache auf einen ganz bestimmten Laden kommt: die „Dexter Bakery“. Die süßen Backwaren dort müssen ganz sensationell lecker sein. Einige Freunde fahren regelmäßig mit dem Rad dorthin, nur um sich ein paar Donuts zu ziehen. Die Betreiber der Bäckerei haben sich als kreative Skulptur einen Cupcake ausgesucht.

Das Schild unter der eiskalten Reklame verrät: Die Bäckerei ist ein „Silver Sponsor“. Es gibt auch Sponsoren in Gold und Platin. Je wertvoller das Metall, desto größer der Eisblock, aus dem die Skulptur gefertigt wird. Das Leben ist ein Stück Papier mit einer Zahl drauf.

In der Ecke steht ein Kriegerdenkmal, das an die Leute erinnert, die in den Bürgerkrieg gezogen und dann nicht mehr zurückgekommen sind.

Man hätte all das – die lokale Werbung, die kleinen Eisblöcke, die Kinder, die verloren dazwischen herumlaufen, das alte Denkmal, das trostlose Wetter – auch irgendwo in Deutschland sehen können. Und als Teenager vermutlich dabei gedacht, dass man ganz schnell mit der Schule fertig werden und woanders hingehen muss.

Seither ist Schnee gefallen und die Welt ist auf einmal sehr schön geworden.

Ansonsten: Auf Facebook gesehen, dass Helge Timmerberg ein neues Buch geschrieben hat. Ich habe früher ganz viel von ihm gelesen und mich stets dran erfreut und auch immer ne Menge gelernt dabei. Eine Passage von damals, die ich ne Zeitlang fast auswendig konnte, geht so:

„Adrenalin ist an und für sich nicht bösartig, sondern ein befreundetes Hormon. Es macht wach und putzmunter, denn es rast wie Rasierklingen durchs Blut und tut den Nerven gut, tausendmal besser als Kokain. Adrenalin ist der letzte Joker des Lebens. Und ist dieses auch ein durchgehend verschlafenes gewesen, egal, im Angesicht des Todes verschafft es Mega-Aufmerksamkeit für die Situation. Es gibt Adrenalin-Klassiker wie den Schatten eines Schlachtermessers hinter dem transparenten Duschvorhang, oder wenn man durch ein Flugzeugfenster schaut, und die Turbine brennt. Adrenalin auch, wenn im Hals der Apfel klemmt oder ein hungriger Wolf seine Lieder singt. Ein hungriger Wolf? Mir schien, es waren mehrere.“

Ich fürchte: Das neue Ding muss ich auch wieder lesen.

bookmark_borderZuhören ist schwer

Zuhören ist schwer. Sogar wenn ich mit meinen Kinder rede, ertappe ich mich manchmal dabei, wie die Gedanken auf Reisen gehen und sich mit irgendwas ganz anderem befassen. Meine Kinder sind mir sehr wichtig. Und selbst da! Warum ist das eigentlich so?

Neulich hatte ich ein Interview mit einem spannenden Psychologie-Professor hier aus Michigan. Eigentlich wollten wir uns persönlich treffen und einen Spaziergang machen. Aber dann haben die Covid-Zahlen just in der Woche unseres Termins neue Rekordwerte erreicht, also haben wir die Sache über Teams laufen lassen. Schade, aber natürlich viel, viel besser, als gar nicht zu reden.

Ich verfolge die Arbeit von Ethan Kross schon seit einigen Jahren. Gelegentlich hab über einzelne Studien von ihm berichtet. Er hat kürzlich ein Buch darüber geschrieben, das demnächst auch in deutscher Übersetzung erscheint. Und er hat dabei einen Begriff gefunden für diese innere Stimme, die da oben unaufhörlich redet und plappert, ohne Punkt und Komma, wie man bei James Joyce nachlesen kann im 18. Kapitel des „Ulysses“. Dort klingt das dann so über viele, viele Seiten:

I suppose she was pious because no man would look at her twice I hope I’ll never be like her a wonder she didnt want us to cover our faces but she was a welleducated woman certainly and her gabby talk about Mr Riordan here and Mr Riordan there I suppose he was glad to get shut of her and her dog smelling my fur and always edging to get up under my petticoats especially 

So schnattert es da oben. Vielleicht nicht ganz so versaut wie bei Joyce, aber in derselben Grammatik. Und manchmal wird diese innere Stimme zu laut. Sie dreht sich im Kreis. Sie redet die ganze Zeit immer dasselbe. Sie urteilt dann über andere oder uns selbst. Kennt vermutlich jeder. Das sind die Phasen, in denen die innere Stimme nervt. Ethan nennt dieses Phänomen „Chatter“, das „Geplapper“. Es gibt viele Interventionen, um besser damit umzugehen. Man kann das alles in Ethans Buch nachlesen. Er hat einen erstklassigen Job gemacht, „Chatter“ verkauft sich in den USA wie geschnitten Brot.

In unserem Gespräch hat Ethan mich jedenfalls auf etwas aufmerksam gemacht, über das ich bisher nicht genug nachgedacht hatte:

Wir haben nämlich nicht nur eine innere Stimme, sondern auch ein inneres Ohr.

Es redet da oben, aber es hört auch zu. Man nennt dieses Zusammenspiel von innerem Reden und innerem Lauschen die „phonologische Schleife“. Sie frisst, wenn die Stimme zu „Chatter“ wird, jede Menge Speicherplatz im Gehirn – und zwar just an der schwächsten Stelle unseres biochemischen Rechenzentrums: in unserem Arbeitsgedächtnis.

Ich glaube manchmal, dass meine Generation und die Generationen davor sich ihres Arbeitsgedächtnisses stärker bewusst sind, als das bei jüngeren Leuten der Fall ist. Wegen des Telefons. Früher ging das nämlich noch so: Man wollte wen anrufen, schlug die Nummer im Telefonbuch nach – und hatte sie auf dem Weg von Buch zu Festnetzapparat schon wieder vergessen. Man musste also wieder zurücklaufen und nochmal nachschauen. Oder sich die Nummer auf einen Zettel kritzeln. Oder das Telefonbuch zum Telefon tragen. Die Sache war in jeder Variante demütigend.

Als Student hab ich in der ausgezeichneten Vorlesung „Allgemeine Psychologie I“ noch gelernt, dass in unser Arbeitsgedächtnis nur sieben plus/minus zwei Elemente passen. Das war damals noch Lehrbuchmeinung. Heute gehen die Fachleute eher von vier Dingen aus. Mehr Platz ist nicht. Sobald da was Neues hinein will, muss etwas Altes hinaus. Man ist verloren in seinen Gedanken, seinem Chatter, man liest die Telefonnummer, es dauert nur wenige Sekunden, und der innere Gedankenstrom hat die Nummer schon wieder aus dem Speicher hinausgeplappert.

Genau deshalb ist es so schwer, zuzuhören. Weil im Inneren die ganze Zeit jemand gegen das äußere Gespräch anlabert. Und wenn wir Stress haben, zu viel Arbeit, irgendwelche Konflikte, die uns gerade belasten, dann ist das innere Gelaber auf einmal viel stärker und lauter als die Sätze, die von außen in unser Ohr dringen.

Wir leben dann durch unseren Tag wie durch einen Traum. Wir verpassen den Film im Außen durch den Film, der innen läuft. Wir „fahren Filme“, wie man früher gesagt hat.

Wer träumt, ist ein schlechter Zuhörer.

Das hab ich mir jedenfalls vorgenommen heute zum Frühstück: Dass ich 2022 zum Jahr des Zuhörens machen möchte. Weil ich es wichtig finde und ich mir eingestehe, dass es nicht zu meinen Stärken zählt.

Man kann sich das abgucken bei manchen Leuten, die ihr Geld mit klinischer Psychologie verdienen. Von Zeit zu Zeit werden sie das Gespräch unterbrechen und sagen: „Lass mich kurz zusammenfassen, was bei mir angekommen ist, damit wir sehen können, ob ich alles richtig verstanden habe.“

Wenn jemand das schon ne Weile beruflich macht, fühlt sich dieses Unterbrechen fürs Gegenüber ganz geschmeidig, wertschätzen und angenehm an. Wenn jemand erst damit anfängt, klingt es manchmal seltsam und gelegentlich sogar manipulativ. Vielleicht liegt’s auch nicht an der Routine, sondern an der inneren Haltung. Schwer zu sagen. Fest steht: Manche Leute können das ganz ausgezeichnet. Zuhören ist möglich.

Jedenfalls hab ich mir das vorgenommen. Gelegentlich mal den Fluss unterbrechen. Innehalten. Zusammenfassen, was man gehört hat. Und dann weitermachen.

Und wenn meine Story über Ethan und den „Chatter“ fertig ist und irgendwo erscheint, dann sag ich Bescheid. Versprochen.

bookmark_borderSegler auf dem Eis

Es ist tüchtig kalt dieser Tage. Der See ist seit Tagen zugefroren, und die Leute machen sich ihren Spaß daraus. Kinder spielen Eishockey. Am Samstag seh‘ ich hier zum ersten Mal zwei Eissegler. Der Wind ist schwach, aber wenn sie ne günstige Brise erwischen, dann nehmen die Jungs gut Fahrt auf. Klar eigentlich: So richtig viel Reibung gibt es nicht auf dem Eis.

Direkt am Damm macht der See unterm Eis merkwürdige, basslastige Geräusche. Unheimlich. Vielleicht liegt es an der Strömung, die unterhalb der Eisschicht immer noch Richtung Wasserfall drängt.

Gestern dann einmal um den See herumgewandert. Am anderen Ufer stehen die Eissegler. Das sind keine besonderes neuen Geräte, aber irgendwie hab ich das Gefühl, dass das ein sehr schönes Hobby sein kann.

Gerade nachgesehen. So richtig teuer müssen die Dinger gar nicht zu sein. Im Netz verkauft jemand aus Ohio zwei Boote inklusive Segel für je 500 Dollar.

Dann entdecken wir nah am gegenüberliegenden Ufer zwei Leute auf dem Eis, die sich merkwürdig bewegen. Sie tragen keine Schlittschuhe, so viel steht schon mal fest. Durch den Feldstecher wird dann klar: Es handelt sich um Eisangler. Sie bohren sich gerade ihre Löcher. Später dann sehen wir, wie sie ein Zelt über eines der Bohrlöcher stellen. Freunde haben mir erzählt, dass Eisfischen hier in Michigan ne große Sache ist. Auch cool, irgendwie.

Am Ende macht Coco einen kleinen Ausflug über den See, Neugier und Übermut treiben sie hinaus. Sie will, dass wir Stöckchen werfen. Sie bewegt sich tapsig und schlitternd wie ein Welpe. Das Eis macht alle wieder jung. Der Winter ist eine schöne Jahreszeit. Aber kalt.

Gestern haben sie hier im Übrigen den Präsidenten der Uni gefeuert. Er hatte wohl eine Affäre mit einer Mitarbeiterin. Und sie haben sich Sachen über die Geschäftsmail geschickt. Keine gute Idee. Viele der Mails stehen jetzt einfach so in der Zeitung und alle reden darüber. Es gefällt mir nicht. Ich finde es übertrieben. Aber das ist Kultur. Ich muss in den nächsten Tagen nochmal was dazu sagen.

bookmark_border1000 Liegestütze pro Monat für den Rücken

Seit einigen Jahren mache ich mindestens 1000 Liegestütze pro Monat. Das ist gut für den Rücken und eigentlich für alles und hilft mir sehr. Ab und zu ergibt sich ein Gespräch darüber und die meisten Leute fragen dann nach und interessieren sich sehr dafür. Heute also mal ein Blogeintrag dazu.

Die Sache kam nämlich so: Mit Mitte 30 hatte ich auf einmal große Probleme im dem Rücken. Lendenwirbelbereich. Das Übliche. Es tat sehr weh, hat mir das Leben schwer gemacht und wurde nicht wirklich besser. Davor bin ich über Jahre Marathon gelaufen. Jetzt konnte ich mir an manchen Tagen kaum noch die Schuhe binden. Keine schöne Erfahrung.

Die Probleme sind über mehrere Jahre geblieben. So richtig geändert hat sich die Sache erst, als mein Sohn, er war damals noch im Kindesalter, auf einmal wissen wollte, was man eigentlich tun muss, um einen Sixpack zu kriegen. Mein Kumpel Marvin meinte: „Mach einfach Liegestütze.“ Also haben mein Sohn und ich ein gemeinsames Projekt daraus gemacht.

Wie fängt man an? Marvin meinte: „Du machst jeden Morgen genau zehn Liegestütze. Jeden Tag, direkt nach dem Aufstehen. Eine Woche später machst Du genau eine mehr. Genau eine. Und am nächsten Tag … da machst Du wieder eine mehr. Genau eine. Und das machst Du so lange, bist Du nicht mehr steigern kannst. Und dann machst Du diese Anzahl weiter. Jeden Morgen. So lange, bis Du wieder eine draufpacken kannst.“

Das klang einfach. Zehn Liegestütze waren machbar. Die Regel „gleich nach dem Aufstehen“ hat ganz erstaunlich gut funktioniert. Man musste nicht lange überlegen, einfach machen und – zack! – ging’s in den Tag mit dem guten Gefühl, schon was für sich getan zu haben.

Eine Woche später dann die Steigerung. Auch das ging erstaunlich leicht. Der Trick an der Sache ist vermutlich, dass man sich mit der Methode jeden Tag ein kleines Erfolgserlebnis holt.

Ich war damals schon Anfang 40 und fühlte mich alt. Zu merken: „Hey, Dein Körper reagiert wahnsinnig schnell auf sowas“ – das war einfach toll.

Jedenfalls sind die Liegestütze jetzt seit mehr als zehn Jahren eine gute Gewohnheit geworden. Allerdings gab’s zwei Punkte, an denen sich die Sache verändert hat.

Da war nämlich erstens der Punkt, an dem das einfache Steigern der Morgenration irgendwie uncool wurde. Die Motivation der ersten Monate war plötzlich weg.

Also hab ich mich gefragt: Was will ich eigentlich?

Bestandsaufnahme:
– Der Rücken tut nicht mehr weh.
– Ich habe wieder angefangen, im Verein Tischtennis zu spielen und mich auch sonst wieder mehr und mit mehr Freude zu bewegen.

Will ich neue persönliche Liegestütz-Rekorde aufstellen?
– Nö.
– Ich will weiter schmerzfrei bleiben und mich bewegen können!

Okay, cool. Wie krieg ich das hin?
– Indem ich mir ein Ziel setze, dass ich locker schaffen kann und bei dem ich langfristig dranbleibe.

Also: 35 Liegestütze jeden Morgen.

Das war dann tatsächlich mein Plan. Keine Steigerung mehr, sondern ein Programm, das locker in meinen Alltag passte. Das lief erstmal super über mehrere Jahre.

Aber dann kam irgendwann der zweite Punkt: Ich habe angefangen, mich selbst zu bemogeln. Und zwar so dolle, dass ich es selbst gemerkt habe. Manchmal hab ich die Liegestütze nicht mehr jeden Tag gemacht, sondern nur noch drei, vier Mal pro Woche. Das war nicht genug.

Also wieder überlegt: Was will ich eigentlich? – Immer noch dieselbe Antwort: gesund und schmerzfrei bleiben.

Wie krieg ich das hin? Wie kommt mehr Regelmäßigkeit in meine Übungen? Und zwar so, dass ich die Übungen auch mal ausfallen lassen kann, ohne dass gleich der ganze Plan im Eimer ist?

Ich habe also 35 (meinen eigentlichen Tagessatz) mit den 30 Tagen eines Monats multipliziert: 1050. Hm. Ich könnte ja jeden Tag nach meiner Mini-Einheit einen Eintrag in meinen Kalender machen. Dann immer am Sonntag dazuschreiben, wie viele Liegestütze es bisher im laufenden Monat waren – nur so, um auf dem Laufenden zu bleiben. Und dann zusehen, dass ich am letzten Tag des Monates auf mindestens 1000 komme.

An manchen Tagen hab ich keine Lust. Oder bin mit dem Kopf woanders. Dann mach ich am nächsten Tag eben mehr. Das System ist flexibel und gnadenlos zugleich. Das gefällt mir.

Genau so mach ich das jetzt jedenfalls seit dem 1. Januar 2018. Alles steht im Kalender. Es sorgt dafür, dass ich am Ball bleibe. Der Rücken gibt Ruhe. Die Methode hat mein Leben viel besser gemacht. Und es vergeht eigentlich kein Monat, an dem ich mich nicht mindestens einmal darüber freue wie Bolle. Man darf den Schmerz nicht vergessen, nur weil er grad nicht da ist.

Ja. Nur so, falls es wen interessiert.

Und ansonsten meine Meinung: Gewohnheiten sind die beste Form der Intervention.

bookmark_borderEin Kessel Buntes – die TV-Sonntags-Nachrichten in den USA

Heute mal wieder die NBC-Abendnachrichten geguckt. Und zwar aufmerksamer als sonst, weil mir mein Kumpel Dirk dieser Tage ein paar Gedanken über die Rolle der alten Medien in der Pandemie geschickt hat. Außerdem hab ich ja während der ersten Corona-Welle schon mal nen Blogbeitrag über die NBC-Nachrichten geschrieben. Damals ging’s tüchtig auf den Wahlkampf zu, es war entsprechend eine sehr politische Nachrichtensendung mit sehr viel harter Recherchepower dahinter. Wie sieht das alles heute aus? Nun. Es sieht viel, viel weniger politisch aus. Washington hat praktisch gar keine Rolle gespielt. Klar. Ist auch die Wochenendausgabe. Möglich aber auch, dass man der Biden-Administration bei NBC deutlich weniger auf die Füße tritt, als das noch bei Trump der Fall war. Hier jedenfalls die Beiträge. Bitte festhalten!

Am Anfang kommt ne Geschichte über ein Feuer in New York. Ein schlimmes Feuer. Menschen sind dabei gestorben. Trotzdem. Es war ein Feuer. In einem Haus. Das war in den Augen der Redaktion das wichtigste Ereignis des Tages. Auf der ganzen Welt. Hm.

Dann: Corona. Natürlich. Die Story: Es gibt so viele Fälle, dass jetzt überall die Leute fehlen, um die Arbeit zu machen. In Kalifornien hat man deshalb drastische Maßnahmen beschlossen: Wer im Krankenhaus beschäftigt ist und positiv auf Covid testet, zugleich aber keine Symptome hat, soll einfach weiter zur Arbeit kommen. Ohne Test. Ohne Quarantäne. Ohne gar nix. Das ist auf jeden Fall interessant. Supermarktregale sind leer, weil keiner mehr da ist, um die Neuware einzuräumen. In den Apotheken bilden sich lange Schlangen, weil zu wenig Personal die Tabletten rausrückt. Die Schulen schalten auf Online-Unterricht, weil zu viele Lehrkräfte ausfallen und so weiter. Schlimm.

Dann nochmal Corona. Mit der Statistik der CDC stimmt was nicht: Die meisten Leute, die als Krankenhaus-Corona-Fälle gemeldet sind, werden eigentlich wegen ganz anderer Dinge behandelt. Sie sind nicht an, sondern mit Covid erkrankt. Sozusagen. Auch interessant.

Dann endlich Politik: die Russland-Krise in Osteuropa und wie die amerikanische Außenpolitik darauf reagieren will. Die Botschaft: Putin ist ein gefährlicher Kerl, aber wir haben die Sache im Griff. Es gibt nämlich „tough talks“ (siehe das Foto ganz oben). Beruhigend.

Dann nochmal Corona – diesmal aber mit einer Überleitung in die bunte Ecke der Nachrichten: Djokovic in Australien. Kann er spielen? Kann er nicht spielen? Seltsame Geschichte.

Dann nochmal Corona. Die Schülerinnen und Schüler – ihr Unterricht findet vielerorts wieder online statt. Eine Reporterin redet mit einigen von ihnen. Alle sagen: Sie mögen es nicht. Hm.

Jetzt wird’s endlich bunt: Ein paar arglose Bürger in Wisconsin waren beim Eisangeln, dann hat sich die Eisscholle gelöst, auf der sie standen. Ein Boot musste sie retten. Puh, die Sache ist gerade nochmal gut gegangen.

Dann gab es ein geplatztes Wasserrohr unter einem Sessellift. Menschen wurden verletzt. Kurios.

Schließlich noch die herzerwärmende Story eines Polizisten, der sich in seiner Freizeit als Captain America verkleidet, um Kindern eine Freude zu machen.

Unterm Strich: Sehr viel Buntes, sehr viel Unterhaltung. Anders als Heute Journal und Tagesthemen: kein aktueller Sport, kein Wetter, viel weniger nationale und internationale Politik. Im Grunde war das eine sehr affirmative Nachrichtensendung. Man hat hinterher das Gefühl: Ja, Pandemie und alles – aber im Großen und Ganzen geht’s uns doch super.

Kein Wort über den Präsidenten, wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Das wäre Trump nicht passiert.

Danach noch ne Folge Family Guy gesehen. Die Serie ist in vielen Staffeln ganz sensationell geschrieben. Staffel 19 jedoch ist eine Schande. Ein Abgesang. Man bettelt darum, dass endlich jemand den Stecker zieht. So. Musste mal gesagt werden.

bookmark_borderDie Sachen, die man früher geschrieben hat, gehören einem nicht mehr

Gestern wie üblich den Hund ausgeführt. Dabei am Straßenrand der Newport Road dieses alte Ackergerät entdeckt. Eine Mähmaschine. Halb verschneit. Ich vermute: eine McCormick. Ich hab mich vor ein paar Jahren mal mit so was beschäftigt und heute fällt mir auf, dass die Sachen, die man früher geschrieben hat, einem nicht mehr gehören.

Jetzt hab ich hier Feierabend gemacht und versucht, mich zu erinnern. Bei Nicki im Haus steht ein Exemplar des Buches, das ich vor sieben Jahren geschrieben habe. Es heißt „Und doch ist es Heimat“. Es geht um mein Heimatdorf 1945. Und das Kapitel 39 heißt tatsächlich „Die Mähmaschine“.

Ich habe es gerade gelesen und es fühlt sich seltsam an.

„Sie ruht unter Spinnweben und wird nie mehr erwachen. Noch erkennt man deutlich die versetzten Querstreben in den eisernen Hinterrädern und den einzelnen nach hinten gezogenen Metallsitz.“

So geht es los.

Hier sind die Hinterräder der Maschine in Ann Arbor. Sie sehen so aus, wie das Buch sie beschreibt.

Es fühlt sich alles seltsam an.

Das Kapitel handelt von einem Zwölfjährigen, der sich das Hemd seines Vater anzieht, um eine große Wiese zu mähen, „eine Arbeit, für die man zu zweit sein sollte, selbst wenn man schon erwachsen ist.“ Aber der Junge macht die Arbeit allein. Er leiht sich ein altes Pferd. Das Pferd ist schmutzig. Er macht es sauber. „Wir wollen fein aussehen, wenn’s gleich nach draußen geht.“

„Er striegelt und bürstet dem Tier die Nacht von den Flanken, aus der Mähne, aus dem Schweif. Dann legt er ihm das Zaumzug an und führt es hinaus auf den Hof, wo er gestern schon die McCormick bereitgestellt hat. Er schirrt den Gaul an, legt ihm das Kummet um den Hals, sichert mit dem Gurt am Schweif, hängt die Zügel ein. Sie Sense und die Gabel hat er an der Maschine festgemacht. Er steckt den Wetzstein in die Tasche …“

„Hermann öffnet das Hoftor, klettert auf den eisernen Sitz … 

… löst die Bremse, und dann geht es hinaus mit Pferd und Mähmaschine. Die Eisenräder rattern übers Pflaster der Oberen Gasse, während im Milchgrau des Morgens hier und da ein Hahn kräht aus den Hinterhöfen, wo es noch Hähne gibt.“

Ich lese ein paar Seiten und möchte einen Stift nehmen, um Passagen zu streichen und andere hinzuzufügen. Aber die inneren Bilder von damals kommen dann trotzdem ganz von selbst. Das geht husch, husch zwischen einem Wort und dem anderen. Und das Gefühl dahinter beim Schreiben und beim Ausdenken. Das Gefühl sagt: „Du bist noch nicht so weit. Aber Du muss trotzdem.“ Und im Moment fühlt es sich an, als wär’s ungerecht und zu viel. Aber hinterher denken die Alten über ihr Leben nach und genau diese Momente bleiben. Über diese Momente wollen sie reden. Über die Momente, wo sie zu jung waren und überfordert und wo sie trotzdem diese Erwachsenendinge machen mussten. Und ich erinnere mich an die Geschichte, die echte erlebte Geschichte, die mir das Grundfutter für das Kapitel gegeben hat. Der alte Mann hat sie mit Trauer erzählt, weil seine Kindheit keine war. Aber auch mit Stolz, weil er’s halt irgendwie doch hingekriegt hat.

Man muss beim Schreiben wieder zurückgehen zu den ganz einfachen Dingen. Zu den ganz archaischen Erfahrungen.

Jedenfalls. Da war eine alte Mähmaschine am Rand der Newport Road. Eine McCormick, wie ich vermute. Eine geschenkte kleine Zeitreise. Jetzt muss ich den Hund füttern.

bookmark_borderBoostern in Amerika geht dann doch leichter als erwartet

Boostern in Amerika geht dann doch leichter als gedacht. Hab ja neulich berichtet, dass ich mich in Michigan boostern lassen wollte – aber gescheitert bin. Die Behörden sagen: „Das machen wir erst sechs Monate nach der Zweitimpfung.“ Solche Sachen ziehen sie hier eisern durch. Ein Faktor, wie ich vermute: In den USA gibt’s halt nicht mehr so super viele Leute, bei denen die Impfung noch keine sechs Monate her ist. Und wegen der paar Hansel ändert man keine Bundes-Richtlinie. Sieht dann ja so aus, als wär‘ man wankelmütig! Wie gesagt: Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist. Aber der Gedanke leuchtet mir ein.

Heute waren meine sechs Monate jedenfalls vorbei. Ich hatte einen Termin bei Walgreens, das ist eine sehr große Apothekenkette hier. Man muss ein paar Online-Formulare ausfüllen, vor Ort ein paar Angaben unterschreiben, ein paar freundliche Worte wechseln, danach etwa eine Viertelstunde warten, bis alles in den Computer gefüttert ist – tja, und dann setzt man sich hinter eine spanische Wand hinten in den Ecke des Apotheken-Supermarkts (sie verkaufen da sogar Hundefutter) und kriegt seine Spritze. Es ging alles kurz und schmerzfrei. „Übung macht die Meisterin“, sagt die junge Frau im weißen Kittel. Ich nicke zustimmend.

Beim Warte-Schlendern stolpere ich fast über einen Regalaufsteller, in dem sie Covid-Tests verkaufen. Das heißt: In dem sie NORMALERWEISE Covid-Tests verkaufen. Die Tests sind nämlich alle. „Completely sold out“ – wie fast überall in der Stadt.

Das Preisschild verrät: So lange noch Tests da waren, hat man für eine Packung rund 24 Dollar abgedrückt. In einer Packung waren zwei Tests. Das scheint mir ziemlich teuer zu sein. Aber nun. Sie sind trotzdem alle weggegangen.

Ansonsten hat’s über Nacht tüchtig geschneit. Ich habe am Morgen 75 Minuten lang geschippt. Wir gehen mit dem Hund durch den Schnee, während die Sonne scheint, und es ist alles sehr schön und außerdem hat mein Vater noch Geburtstag und bei all dem kommt mir auf einmal der Gedanke, dass es vielleicht ein ganz tolles Jahr wird, dieses 2022.