bookmark_borderBesuch beim Künstler und ein heftiges Bild von der Elbe genau in dem Moment, wo das Wasser stillsteht

Gestern haben mich Freunde zu einem Maler in Hamburg-Bergedorf mitgenommen. Rolf wohnt im Künstlerhaus zusammen mit Britta. Er ist Maler, sie ist Bildhauerin. Man muss aber ehrlich sagen, dass wir eigentlich wegen der Bilder da waren.

Jedenfalls wohnen die da und ihr Atelier haben sie auch da. Britta sagt: So ist es am besten. Man weiß halt, wo man seine Sachen hat. Zum Beispiel: die Pinsel, mit denen man seine Bilder malt (siehe oben). Praktisch!

Tja. Und dann haben wir mit Rolf über seine Bilder gesprochen. Wir waren am Anfang alle ein wenig unbeholfen. Weil: Man kennt einander ja nicht, und Bilder können eine sehr persönliche Angelegenheit sein. Worüber soll man da reden? Etwa über Gefühle????

Also reden wir erstmal über Zoologie. Rolf hat nämlich viele Bilder gemalt, auf denen Tiere zu sehen sind. Zum Beispiel hängt da ein Tanrek (oben im Foto: das Tier rechts hinten an der Wand). Der Tanrek sieht aus wie eine Mischung aus Igel und Spitzmaus. Dann ein Bild von Eisvögeln. Bilder von Fischen: ne Scholle, ein Hornhecht, mehrere Bücklinge. Eines meiner Lieblingstierbilder ist eigentlich gar kein Tierbild. Es zeigt zwei alte skandinavische Konservendosen mit Makrelen drin. Das hat mir gefallen. Es ist ein großes Bild.

Hier hat mein alter Freund Kai ein Foto von mir und Rolf gemacht. Das mit den Masken ist übrigens kein Fake. Wir haben in den Räumen alle Masken getragen. Auch interessant, wie solche Entscheidungen zustande kommen. Erst viel Achselzucken und dann setzt sich einer ne Maske auf und dann ziehen alle nach. Meine Brille beschlägt, wenn ich eine Maske trage. Links im Hintergrund sieht man die goldenen Bücklinge. Rechts oben: Meerschweinchen vor den Zielscheiben von Sportschützen. Jawohl, auch Meerschweinchen haben Ziele!

Mir gefällt das, was Rolf so macht. Es inspiriert mich. Mein Lieblingsbild zeigt die Norderelbbrücke, auf dem die A1 den großen Fluss quert. Im Frühjahr habe ich die Brücke als Radfahrer und Fußgänger mehrfach von unten gesehen auf dem Weg von der Kalthofe zur Tatenberger Schleuse. Kürzlich hab ich erfahren, dass die Brücke umgebaut werden soll. Sie ist zu alt und zu schmal. Tja.

Jedenfalls hat Rolf da einen ganz besonderen Moment eingefangen. An der Elbe gibt es in Hamburg ja Ebbe und Flut mit einem tüchtigen Tidenhub. Und deshalb erlebt man da vier Mal pro Tag ein sehr merkwürdiges Phänomen. Mit einem Mal erstirbt jede Strömung und das Wasser steht vollkommen still, um kurz danach zunehmend schneller in die umgekehrte Richtung zu fließen. Genau diesen Stillstand, diesen Moment des Atemholens, hat Rolf in seinem Gemälde eingefangen. Das Bild hat die ganze Zeit über zu mir gesprochen und so was ist halt immer ne heftige und metaphysische Erfahrung. Wenn ich groß bin und Geld übrig habe, dann geh ich wieder zu Rolf und kaufe mir das Bild. Und wenn’s bis dahin ein anderer gekauft hat, dann hat sich der Strom eben gedreht und ist in die andere Richtung geflossen. Und das wäre auch in Ordnung.

Danach haben wir noch ein Stück Kuchen gegessen. Britta sagt: Man packt eine Mandelmischung in die Springform und dann kommt der Quark obendrauf mit Zucker, Eiern und Zitrone. Und während der Kuchen dann im Ofen sitzt, wandert die Käsemasse nach unten und dann sieht es am Ende aus wie ein Käsekuchen mit Mandeln obendrauf. Kurios und lecker zugleich. Hier trägt Britta übrigens das Bild mit der Elbbrücke durchs Atelier.

Was will ich damit sagen? Kunst macht uns zu besseren Menschen. Ich hatte ein paar Stunden, in denen alles stillstand, die Arbeit ruhte und ich mich mit interessanten Leuten über schöne Dinge unterhalten konnte. Und jetzt denke ich: Man macht so was insgesamt viel zu selten.

bookmark_borderWie Rauch von starken Winden

Lyrik aus der Barockzeit hat ihre Tücken. Die Sprache hat sich seither sehr verändert. Wir verstehen die meisten Sachen nicht mehr.

Und dann das Lebensgefühl! Die Leute hatten damals das Gefühl, dass alles den Bach runter geht. Naja. Es ging ja auch wirklich alles den Bach runter. Überall war Krieg. Und Hunger. Gelegentlich kam die Pest dazu. Was also tun? Die einen suchten Zuflucht in leiblichen Freuden. Sie wollten so viel Spaß wie möglich mitnehmen. Morgen schon konnte alles vorbei sein. Die anderen suchten ihr Heil in der Religion. Vielleicht gab’s ja nach dem Tod noch ein zweites Leben, das länger hielt und Besseres bot. Allen gemein war jedoch das Bewusstsein, dass das Leben flüchtig war. Nichts bleibt, nichts hat Bestand. Alles vergeht. Zack!

Andreas Gryphius hat darüber viele Gedichte geschrieben. In einem davon – es trägt den heute nicht mehr sagbaren Titel „Menschliches Elende“ (es heißt wirklich so, mit einem „e“ hinterm Elend) – zählt er auf, was unser Leben so auszumachen pflegt. Schmerzen. Falsches (weil flüchtiges) Glück. Angst. Leid. Wir sind wie Schnee, der in der Sonne schmilzt. Eine niederbrennende Kerze. Alles wie Geplapper und schlechte Gags. Das Leben: ready for Altkleidersammlung. Diejenigen, die schon gestorben sind: Wir fühlen sie nicht mehr. Keine Sau erinnert sich an sie. Man vergisst uns, wie man einen Traum vergisst nach dem Erwachen. Man kann das Leben und die Erinnerung daran nicht festhalten, wie man auch das Wasser eines Flusses nicht festhalten kann. Egal, wieviel Ruhm wir angesammelt haben – auch der wird nicht bleiben. Wer heute lebt, stirbt morgen. Wer morgen geboren wird, nun, der stirbt halt übermorgen. So geht das Gedicht.

Und in der letzten Strophe kommen dann die Sätze, die man vielleicht schonmal gehört hat und die das Gedicht über 350 Jahre lang im kollektiven Gedächtnis erhalten haben:

„Was sag ich? Wir vergeh’n, wie Rauch von starken Winden.“

Am Wochenende war ich jedenfalls auf einer Trauerfeier in meinem Heimatdorf. Es ging um Dieter Blau, der eine sehr wichtige Gestalt meiner Kindheit war und über den ich hier schon ein paar Sachen geschrieben habe. Nämlich hier. Und hier. Und hier. Und hier. Er ist mitten in der Pandemie gestorben, weshalb fast keiner dabei war, als er beerdigt wurde. Jetzt gab es einen Gedenk-Gottesdienst für ihn und danach ein Treffen im Gemeindehaus. Ich habe ein paar Leute dort gesehen, mit denen ich in meiner Kindheit regelmäßig zu tun hatte. Manche davon habe ich hinter ihren Masken nicht mehr erkannt. Und auch ohne Maske war’s nicht immer leicht.

Und ich habe gedacht: Seit unserer Kindheit sind wir alle schon oft gestorben und wieder neu geworden. Nicht nur beim Übergang in die Jugend und dann ins Erwachsenenalter. Denn auch danach geht’s ja immer weiter. Vielleicht kriegen wir Kinder und alles ist auf einmal anders. Dann werden die Kinder groß und machen ihr eigenes Ding. Vielleicht sterben die Eltern. Eine Freundin meinte mal: Sie sieht sofort, wer das schon hinter sich hat und wer nicht. Dann die Jobs. Sie kommen und gehen. Kollegen: kommen und gehen. Freunde: kommen und gehen. Partner: kommen und gehen. Und selbst wenn sie bleiben, dann ist es vielleicht die Liebe, die kommt und geht. Dann lebt man mit dem alten Partner, aber ohne die alte Liebe. Gesundheit: kommt und geht. Geschmeidige Gelenke: kommen und gehen. Wohnungen und Häuser: kommen und gehen. Geld, Wohlstand, Sicherheit: kommen und gehen. Und all das ist und war immer Teil von uns, Teil dessen, was wir „ich“ nennen. Es kommt, es geht. Und immer bleibt etwas zurück und muss etwas neu werden, was auch uns selbst wieder neu werden lässt.

Es war schön, wieder im Dorf zu sein. Aber es war auch anstrengend. Genau wie es anstrengend ist, Lyrik aus dem 17. Jahrhundert im Original zu lesen. Seit damals ist einfach ne Menge passiert.

Und klar, wir haben uns ein paar Geschichten von früher erzählt. Wir haben alte Bilder gesehen mit diesen fremden Kindern drauf, die wir einmal waren. Das war alles toll und ich bin froh, dass ein paar entschlossene Leute das geplant und durchgezogen haben, dass es überhaupt passiert ist mit dieser Feier und dass ich dabei war. Und trotzdem hab ich heute das schale Gefühl, dass wir nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt haben. Die allermeisten Dinge bleiben ja wirklich ungesagt, selbst dort, wo man sich Mühe gibt.

In der Beratung und manchen Formen der Psychotherapie gibt es diese Intervention, dass man sich hinsetzen und seine eigene Grabrede schreiben soll. Eigentlich ist das eine sehr einfache Übung. Aber sie ist auch wahnsinnig kraftvoll. Man blickt dabei auf sein ganzes Leben und zwingt sich, die eigene Existenz wie von außen zu sehen. Wer wollte ich eigentlich werden? Bin ich der geworden, der ich sein wollte? Der ich sein sollte? Die beste Version meiner selbst?

Wer seinen Weg ändern will, kann sich ja mal hinsetzen und so eine Rede schreiben. Und dann mal sehen, was alles geht. Und was alles kommt. Ein neuer Tod. Ein neues Leben. Vielleicht.

Heute denke ich: Diese Grabrede auf uns selbst, die wird vermutlich inniger sein, wichtiger, tiefer und wesentlicher als das, was dann wirklich neben unserem Sarg verlesen wird. Die selbstgemachte Rede kann wie ein Feuer aus Buchenholz sein, das im Schwedenofen knistert und die Stube tüchtig durchheizt.

Die wirkliche Grabrede ist dann eher wie der Rauch, der oben aus dem Kamin steigt. Dann kommt der Winterwind.

Und trägt den Rauch übers Dach davon.