bookmark_border„Kommt n Mann in Amerika zum Arzt …“

Mein gestriges Erlebnis beginnt wie ein alter Witz: „Kommt n Mann zum Arzt …“ Bis jetzt hab ich hier noch nie medizinischen Rat eingeholt. Das System hat keinen guten Ruf. Und: Es ist teuer. Das ist eine Kombination, die mich abschreckt.

Gestern bin ich aber doch mal in einer Praxis gelandet, und das kam so. Ich hab vor einigen Wochen zu viel Tennis gespielt (und Pickleball) und seither zwickt das Knie. Normalerweise wird so was ja nach ein paar Tagen besser. Diesmal nicht. Also hab ich meine Krankenversicherung kontaktiert und mir bestätigen lassen, dass sie solche Dinge abdeckt. Glück gehabt!

Also beim orthopädischen Dienst der hiesigen Uni angerufen, wo man mich einigermaßen bald zur Abteilung für Sportmedizin durchgestellt hat. Dort gab’s einen freundlichen Aufnahmeprozess. Dann zurück durchgestellt zur Zentrale, wo ich dieselben Daten alle nochmal buchstabieren durfte. Hab ich schon mal erzählt, dass mein Name für die Menschen in Amerika absolut unlesbar ist? Nein? Nun: Mein Name ist für Menschen in Amerika absolut unlesbar. Sie holen Luft, setzen an, murmeln etwas Unverständliches, holen nochmal Luft … und dann sagen sie: „Wie spricht man DAS denn bitte aus?“

Genau dasselbe passiert auch im umgekehrten Fall. Ich nenne meinen Namen. Es entsteht eine sehr unangenehme Pause. Ich dann so: „Soll ich buchstabieren?“ Mein Gegenüber öffnet nickend die Sektflasche – oder sagt am Telefon „Yes, PLEASE!“

Nach dem zweiten Aufnahmeprozess lande ich jedenfalls wieder in der Sportmedizin. Ich so: „Hier bin ich wieder. Wann kann ich einen Termin kriegen?“ Ich rechne mit „irgendwann in drei Wochen“. Stattdessen sagt die Frau in der Leitung: „Wie wär’s mit morgen?“ Ich so: „Okay. Wow. Ja, her damit!“ Wo kriegt man denn in Deutschland einen Termin „für morgen“, wenn man zum Orthopäden will? Als Kassenpatient? Hm. Vielleicht bin ich hier einfach kein Kassenpatient? Keine Ahnung.

Oben auf dem Bild sieht man jedenfalls das Gebäude, in dem die Sportmediziner hausen, ein langer, flacher Lindwurm mit viel Glas außenrum. Der Komplex gehört zu Domino’s Pizza, die haben unterm selben Dach ihr Headquarter (also die Zentrale für die ganze Welt; krass, oder?). Hinterm Haus grast angeblich eine Bisonherde. Leider hab ich mich erst nach meinem Besuch durch die Website geklickt. Anfängerfehler! Sonst hätt ich mir die Tiere natürlich angesehen. Beim nächsten Mal dann.

Beim Empfang haben sie vor jeden Schalter einen Stuhl gestellt. So halten die Leute den empfohlenen Covid-Abstand, ohne dass man sie mit einem Schild darauf hinweisen muss. Clever!

Beim Gespräch mit der freundlichen Dame hinter der Glasscheibe entsteht ein kurzer Dialog, den ich eher in Deutschland erwartet hätte. Er spricht von Technologieskepsis.
Ich: „Ah, Ihr Computer weiß alles. Wir vertrauen der Maschine.“
Sie: „Naja, vielleicht vertrauen wir der Maschine auch ein bisschen zu sehr.“

Empfangsraum und Wartezimmer sind hier übrigens dasselbe. Außer mir sitzen noch 15 andere Menschen hier. Aber nach ein, zwei Minuten wird schon mein Name aufgerufen. Ein junger Mann führt mich in die Innereien des Drachen, stellt allerhand Fragen, misst meine Körpergröße und nimmt mein Lebendgewicht. Ich bin etwas kleiner und etwas schwerer, als ich dachte. Bitter, aber normal (gibt Studien dazu). Danach Blutdruck. Besser als erwartet. Toll, wie man dabei spürt, wie der Oberarm plötzlich lospumpt. Neben mir an der Wand hängt das Bild eines Rennradfahrers als dezent-wortloser Hinweis: „Hier geht’s um Sportverletzungen.“

Der junge Mann hat den Behandlungsraum noch nicht verlassen, als schon die Röntgenassistentin in der Tür steht, um mich nach nebenan zu begleiten. Junge, was für eine Effizienzmaschine die hier aufgebaut haben. Man könnte sagen: Wie in einer Fabrik. Andererseits wirkt jeder menschliche Kontakt extrem entspannt, freundlich und zugewandt. Ich bin ehrlich beeindruckt.

Dann, zack!, vier Aufnahmen vom Knie gemacht mit einem furchteinflößenden Apparat, auf dem das Wort „Siemens“ steht. „Das ist die modernste Maschine, die wir haben“, sagt die Frau. Sie trägt keinen weißen Kittel, sondern den dunkelblauen Sweater der hiesigen Uni. Im Röntgenraum nicht mehr als 16, 17 Grad.

Zurück in den Behandlungsraum. Keine fünf Minuten später erscheint bereits die Ärztin. Sie hat die Röntgenbilder schon gesehen und fängt gleich an, Ärztinnen-Sachen zu machen: Fragen stellen, am Knie rumdrücken. Nach rechts, nach links, nach vorne, nach hinten, während ich stehe, liege, sitze. Sie tut alles, damit ich endlich mal „Aua“ sagen. Danach nickt sie zufrieden, nun weiß sie mehr. Am Ende stellt sie eine achselzuckende Diagnose. Nichts Schlimmes. Keine OP, kann aber trotzdem ein bisschen dauern.

Ich dann: „Wie läuft das jetzt eigentlich mit der Kohle?“
Sie: „Keine Ahnung. Ich bin nur die Ärztin.“

Ich geh also nach draußen zum Checkout. Auch dort stehen wieder die Stühle, damit die Patienten Abstand halten.

Man gibt mir einen Termin zur Physiotherapie. Allerdings erst für zwei Wochen später. Ich frage auch hier, wie das jetzt mit der Bezahle läuft. Die Frau hinterm Glas tippt auf ihre Tastatur und sagt etwas. Eine andere Kollegin kommt hinzu und sagt auch etwas. Danach beide so: „Have a nice day.“ Ich: „Ja, für Euch auch – aber wie das mit der Kohle läuft, weiß ich immer noch nicht.“ Die zweite Frau: „Warum findest Du das nicht einfach selber raus?“ Und damit verabschiedet man mich hinaus ins Leben. Das alles geschieht mit einem ehrlichen Lächeln, wird sehr freundlich gesagt und ist nicht böse gemeint.

So. Hier also mein Fazit: Das lief alles deutlich flinker und effizienter, als ich das in Deutschland schon erlebt habe (vor allem von den Orthopäden, wo man ja echt das Heulen kriegen kann). Die scheinen ihre Prozesse voll im Griff zu haben. Von dem, was sie sagen und machen, merke ich kaum einen Unterschied zu Deutschland (und ein Knie ist auch hier nur ein Knie). Außer vielleicht, dass sie sofort die Röntgenmaschine anschmeißen, ohne dass ein Doc auch nur Guten Tag gesagt hat. Hat Vorteile und Nachteile. Schneller ist es auf jeden Fall.

Eine Sache fällt mir aber dann doch auf: Das Geld, das hinter all dem steckt, ist wie bei uns verborgen unter einer glatten, menschlich-lächelnden Oberfläche. Und selbst die professionell Beteiligten wissen nur zum Teil oder gar nicht, wie diese Maschine so genau funktioniert, was sie ölt, schmiert und am Laufen hält. Ich dachte echt, dass ich hier darüber mehr lernen würde. Bisher bin ich in dieser Sache aber noch genau so klug oder dumm wie zu Hause in Deutschland.

Jetzt warte ich mal ab, was da kommt. Und was der Spaß gekostet hat. Andererseits: So richtig vergleichen kann ich das eigentlich gar nicht. Denn was es bei uns so kosten würde, das weiß der Geier. Ich jedenfalls weiß es nicht.

bookmark_borderDer teuerste Wahlbrief meines Lebens

Hab dieser Tage den teuersten Wahlbrief meines Lebens verschickt. Und das ging so.

Wie neulich schon erwähnt, sind meine Briefwahlunterlagen am Wochenende hier in Michigan angekommen. Die Papiere aus Hamburg haben eine ganze Weile gebraucht. Ich hatte also nur noch wenig Zeit, sie zurückzuschicken. Wär‘ mit der normalen Post nicht gegangen. Keine Chance.

Also hab ich am Montag bei FedEx angerufen. Der Chef des örtlichen Büros hat einen sehr deutschen Namen und deutsche Wurzeln, weshalb wir uns, um mein Anliegen angemessen abzuhandeln, spaßeshalber meiner Muttersprache bedient haben. Lustig.

Ich so: „Kriegt Ihr die Unterlagen bis Samstag nach Hamburg?“
Er so: „Ja, FedEx kann das. Wird aber nicht billig.“

Also bin ich hingefahren. War dann aber doch nicht so einfach. Denn die Postleitzahl der Kreiswahlleitung Hamburg-Mitte ist bei FedEx nicht im System verzeichnet. Vielleicht handelt es sich um eine temporäre Postleitzahl, die nur bei Wahlen genutzt wird? Man kann bei FedEx jedenfalls nicht einfach ne Postleitzahl draufschreiben und hoffen, dass alles gut geht. Wir haben das Ding dann ans Bezirksamt in der Caffamacherreihe adressiert, ich hab noch einen Aufkleber mit den Worten „Wahlbrief – eilig“ draufgeschrieben (auch damit der Zoll den Brief nicht versehentlich abfängt, was wohl gelegentlich vorkommt).

Tja. Und jetzt hab ich über die FedEx-Seite gesehen, dass der Brief schon am Mittwoch zugestellt wurde. Teufelskerle sind das.

Ich habe also gewählt.

Der Brief hat 75 Dollar gekostet. „You are a good citizen“, hat der Typ hinterm Schalter gemurmelt, und da wollte ich nicht widersprechen.

Was ich eigentlich damit sagen will: Wenn ich von hier aus meinen Zettel in die Urne kriege und dabei so einen Aufstand mache, dann könnt Ihr das auch. Oder?

Jetzt am Sonntag, 26. September, irgendwann zwischen 8 und 18 Uhr.

bookmark_border7000 Schritte pro Tag sind genug – vielleicht

Wie viele Schritte pro Tag sind am gesündesten? Wie viel Bewegung brauchen wir?

Im Jahr 2009 bin ich zum ersten Mal für Psychologie Heute in die USA geflogen – zum ersten Weltkongress für Positive Psychologie in Philadelphia. Das war ein großes Abenteuer und vermutlich der Punkt in meinem Leben, an dem ich endgültig zu einer Art Fachjournalist für psychologische Forschung geworden bin.

Jedenfalls erinnere ich mich noch gut an einen Auftritt von Martin Seligmann, dem Paten der Positiven Psychologie. Dabei berichtete er stolz von seinem Schrittzähler, den er damals immer bei sich trug. Seligmann erzählte, dass 10.000 Schritte pro Tag genügen, um uns langfristig fit und gesund zu halten.

Inzwischen haben wir es alle gelesen: Die Story mit den 10.000-Schritten sind ein uralter Marketing-Trick aus Japan. Sie wird durch keine wissenschaftliche Forschung gestützt.

Dieser Tage habe ich auf NPR, sozusagen dem Deutschlandfunk der USA, ein Interview gehört mit einer Forscherin, die sich die Sache genauer angeguckt hat. Sie hat untersucht, wer wie viele Schritte pro Tag macht. Und wer wie lange lebt. Das ist eine ziemlich grobe Art, Dinge zu messen. Aber sie ist besser als nichts. Jedenfalls zeigen die Zahlen: Die Menschen, die im Schnitt zwischen 7000 und 10.000 Schritte pro Tag gehen, leben im Schnitt signifikant länger als jene, die weniger als 7000 Schritte gehen. Ab 10.000 Schritten scheint es einen Plateau-Effekt zu geben: Man lebt also nicht länger, wenn man 11.000, 12.000 oder 13.000 Schritte macht. Wie schnell man dabei geht, scheint im Übrigen keine Rolle zu spielen. Hauptsache Bewegung!

Das ist eine verlockende Botschaft. Sie lautet: 7000 Schritte pro Tag sind genug. Puh. Glück gehabt! Die Studie erzählt mir etwas, das ich gerne höre und vermutlich werde ich mir die Sache auf Dauer merken. Tolle Story.

In solchen Momente verfluche ich allerdings meinen Beruf. Denn wo ich mich fürs Schreiben bezahlen lasse, zitiere ich für die internen Faktenchecker fast nur noch Originalstudien. Das gehört sich so. Um diese Quellen zu zitieren, muss ich die Dinger auch lesen. Und dabei merkt man oft, dass die Sache in Wahrheit komplizierter ist – und manchmal auch anders, als sie andernorts später in der Zeitung steht (ganz früher hab ich ja für eher unterhaltende Presseorgane geschrieben; dort galt die Regel, dass man eine Story auf keinen Fall „totrecherchieren“ darf. Die Regel gilt dort heute bestimmt nicht mehr. Glaub ich. Aber früher, da war das noch so).

Bei der 7000-Schritte-Studie jedenfalls verrät mir das Originalpaper, dass von all den Teilnehmenden am Ende der Studie noch mehr als 96 Prozent am Leben waren. Weniger als vier Prozent sind gestorben. Das sind nicht sehr viele Fälle – eine eher dünne Datenbasis.

Nur 40 Prozent der Leute im Datensatz haben überhaupt regelmäßig einen Schrittzähler getragen. Was mit den anderen Teilnehmenden war, weiß kein Mensch. Wie viele Schritte haben sie gemacht? Wann sind sie gestorben? We don’t know.

Man hat die Zahl der Schritte auch nicht über viele, viele Jahre gemessen, sondern nur für eine Woche (bei manchen waren’s auch nur drei Tage). Auch das ist keine berauschende Datenbasis.

Kurz: Die ganze Messung ist kaum mehr als eine grobe Schätzung, eine Gleichung mit vielen, vielen Unbekannten. Kann also sein, dass die Sache mit den 7000 Schritten stimmt. Vermutlich stimmt sie aber nur so ungefähr. Oder gar nicht.

Es ist jedenfalls kein Wunder, dass andere Studien zu anderen Empfehlungen kommen. Zum Beispiel: Für gesunde Knie genügen 6000 Schritte pro Tag.

Und hier: Für (ältere) Frauen sind 4400 Schritte schon total super, was die Lebenserwartung angeht. Ab 7500 Schritten erreicht man ein Plateau, ab dem die eigene Langlebigkeit nicht mehr zunimmt.

Mist! Eigentlich wollte ich nur eine kurze Notiz über die 7000 Schritte schreiben. Jetzt bin ich fast wieder so schlau oder dumm wie vorher.

Kommt davon, wenn man die Dinge totrecherchiert.

Journalismus nervt.

bookmark_borderAuf dem See schwimmt ein Kanu aus Beton

Gestern in Ann Arbor einen Spaziergang um den schönen Argo Pond gemacht. Am Steg liegt ein Paddelboot, das deutlich schnittiger aussieht als die bunten Plastikboote, in denen die Menschen hier normalerweise sitzen. Das Boot scheint mir zunächst aus Metall zu sein. Es macht mich jedenfalls neugierig, und weil ich gerne mit Fremden rede, hab ich die jungen Leute angequatscht, die um das Boot herumstanden. Und siehe da:

Das Kanu ist aus Beton! Ich habe zwar schon mal davon gehört, dass so was funktioniert, aber gesehen hab ich’s, glaub ich, noch nie. Die jungen Leute studieren an der hiesigen Uni Bauingenieurwesen. Und da gibt’s tatsächlich eine eigene Gruppe von Verrückten, die regelmäßig solche Boote bauen, um an irgendwelchen Betonboot-Meisterschaften mitzumachen.

Deborah, die zur Gruppe gehört, sagt: Dies ist das erste Mal, dass sie das Boot überhaupt zu Wasser lassen. Sie machen jetzt alle möglichen Tests, um über Winter ein noch besseres Ding zu bauen und im April bei den nächsten Meisterschaft ordentlich abzuräumen.

Ich hab später zugesehen, wie sie damit über den See gepaddelt sind. Klar, so ein Betonboot ist viel schwerer als ein Plastikboot. Aber alles in allem hat die Sache auf dem Wasser nicht unelegant ausgehen. Ist es nicht toll, wenn man im Studium solche Sachen machen kann und mit Spaß und in einer tüchtigen Gruppe gut wird in seinem Beruf? Mich begeistert so was immer.

Später kurz gegoogelt: Soooo neu sind Betonboote gar nicht. In den USA gibt es entsprechende Meisterschaften schon seit den 1980er Jahren. Verrückt, was man alles nicht mitkriegt.

Am Ufer des Sees flaniert außerdem eine stolze Gottesanbeterin. Sie ist gut getarnt, weshalb ich einen Kreis um sie gemacht habe. Heftiges Tier.

Auf dem Weg zurück überqueren wir wild die Bahnstrecke nach Chicago (siehe unten). Wir machen das andauernd, alle machen es so. Ich hab mir nie was dabei gedacht. Aber. Auf dem Spaziergang treffen wir eine Hundebesitzerin, die ich früher häufiger gesehen habe. Sie ist damals – vor der Pandemie – immer mit einer sehr schönen Schäferhündin spazieren gegangen. Jetzt hat sie einen anderen Hund. Was ist mit dem alten passiert? „Wurde vom Zug überfahren“, sagt sie. Und zwar so. Es ist ein windiger Tag – der Wind verbläst Tennisbälle und Geräusche. Sie wirft den Ball, der Ball fliegt weiter, als er soll, die Hündin folgt ihm über die Gleise, der Zug kommt ohne Signalhorn ums Eck – und zack. Sie lag dann am Ende tot am Damm, den Ball noch im Maul, sagt die Besitzerin. Traurig.

Jetzt lagen meine Wahlunterlagen im Briefkasten. Gerade bei FedEx gewesen. Kriegen sie das Ding bis Samstag zurück nach Hamburg? Die Mitarbeiterin weiß es nicht. „Heute am Sonntag geht eh nix raus.“ Aber morgen kommt der Chef wieder. Vielleicht kriegt er die Sache hin. „Wird jedenfalls nicht billig“, sagt die FedEx-Frau. Bin gespannt, was ihr Chef morgen zu sagen hat (die Wahlscheinnummer im Bild hab ich retuschiert).

bookmark_borderWie die University of Michigan eine der besten Unis der Welt wurde – und was die jüdischen Studierenden damit zu tun haben

Neulich waren wir ja im großartigen Camp Michigania. Unser Mit-Camper und Klezmer-Klarinettist Bert Straton hat mir danach eine Email geschrieben und dabei eine Bemerkung über die Religionszugehörigkeit der Teilnehmenden gemacht: „Lotsa Jews (can’t help myself)“. Ich habe kürzlich ja angekündigt, darüber mal ein Worte zu verlieren.

Also. Here we go. Die ersten Teil der Geschichte hab ich aus einer älteren Ausgabe des New Yorker – aufgeschrieben vom unvergleichlichen Malcolm Gladwell persönlich.

Die Story geht im Wesentlichen so: 1905 – grob gesagt in der Zeit, als mein Großvater geboren wurde – haben die noblen Ivy League-Unis an der Ostküste neue Regeln dafür aufgestellt, wie sie ihre Studierenden auswählen. Herkunft war nicht mehr wichtig. Es gab eine Art Aufnahmeprüfung. Wer „gut in der Schule“ war und Eltern mit genügend Kohle hatte, der konnte auf einmal in Harvard studieren. Klingt erstmal prima, oder? Die schlauen (okay: und reichen) Kinder hatten plötzlich bessere Chancen auf einen Platz an einer tollen Uni.

Jedenfalls, so schreibt Malcolm Gladwell, führte das neue System schon 17 Jahre später „zu einer Krise“. Genauer: „der jüdischen Krise“. Im Jahr 1922 waren mehr als 20 Prozent der Erstsemester Juden. 1925 waren es sogar mehr als 28 Prozent. Die Bestimmer in Harvard sahen die Existenz ihrer Hochschule dadurch bedroht. Denn die reichen Ehemaligen – angelsächsisch, weiß, protestantisch – hatten zunehmend weniger Lust, jährlich große Summen an die Uni zu spenden. Gladwell schreibt: „Es erwies sich jedoch als schwierig, die Juden außen vor zu lassen, denn als Gruppe waren sie in der Schule einfach besser als alle anderen.“

Die Uni-Leitung hatte schnell ein paar Ideen. Eine Quote einrichten – nicht mehr als 15 Prozent Juden pro Semester. Oder: Die Anzahl der Stipendien für jüdische Studierende beschränken. Oder: Gezielt Leute aus Vierteln anwerben, in denen weniger Juden wohnten. Die Sache mit der Quote war, so kann man lesen, politisch nicht durchsetzbar, die beiden anderen Tricks zeigten nicht die gewünschte Wirkung.

Aber dann kam Harvard – und dann auch Princeton und Yale – auf eine Idee, die besser funktionierte. Man würde weiter die „akademisch Besten“ an die eigene Uni lassen. Natürlich!

ABER: Man würden künftig neu definieren, wer die „akademisch Besten“ sind. Und genau damit war die Zeit guter Schulnoten und prächtig absolvierter Aufnahmeprüfungen vorbei. Es kam plötzlich auf den „Charakter“ und die „Persönlichkeit“ der Bewerber an. Man verlangte jetzt Empfehlungsschreiben von Leuten, die den jungen Recken „gut kannten“. Bewerber mussten ein Foto von sich mitschicken. Und einen selbstgeschriebenen Aufsatz über die eigenen Führungsqualitäten. Außerdem gab es jetzt Fragen zu: „Rasse und Hautfarbe“, „Religionszugehörigkeit“, „Mädchenname der Mutter“, „Geburtsort des Vaters“, „Wie hat sich ihr Familienname oder der ihres Vaters seit Ihrer Geburt verändert?“ Außerdem führten Angestellte der Uni jetzt persönliche Interviews mit den Bewerbern, um „unerwünschte“ Kandidaten früh aus dem Verfahren auszusondern.

Anders gesagt: „Akademische Leistung“ wurde explizit wieder eine Frage der Herkunft. Nach dem alten Motto: „Stallgeruch schlägt Begabung“ (was mich an meinem alten Journalisten-Merkspruch erinnert: „Netzwerk schlägt Recherche“).

Die Sache funktionierte. Gladwell schreibt: Bis zum Jahr 1933 lag die Zahl der jüdischen Erstsemester wieder unter 15 Prozent. „Wenn Ihnen dieses neue Auswahlverfahren irgendwie bekannt vorkommt, dann liegt dass daran, dass die Ivy League es bis heute verwendet.“

Und hier kommt die hiesige University of Michigan ins Spiel.

Die Hochschule war damals schon ehrgeizige. Auch sie hat ihre Zugangsbestimmungen damals reformiert. Aber in Michigan achtete man mehr auf akademisch Eignung – Religionszugehörigkeit war dabei egal. Den Rest regelte der Markt: Viele der klugen, reichen Köpfe aus jüdischen Ostküsten-Familien gingen halt nicht mehr nach Harvard – sondern nach Ann Arbor. Der University of Michigan hat das ausgesprochen gut getan: Sie wurde über die Jahre eine der drei besten staatliche Hochschule der USA, das „Harvard des Westens“. John F. Kennedy hat die Sache in einen Gag verwandelt. Der Harvard-Absolvent erzählte gerne, er habe seinen Abschluss am „Michigan des Ostens“ gemacht.

Aus dieser Zeit stammt eine spannende Firma namens Campus Coach. Ein Student aus Michigan konnte wegen eines Zugstreiks (!) in den Ferien nicht zurück nach New York fahren. Also mietete er einen Bus an und verkaufte Tickets an seine Kommilitonen. Damals studierten so viele junge New Yorker in Ann Arbor, dass der Bus locker voll wurde. Der junge Mann hatte eine Geschäftsidee entdeckt, eine Art Flixbus aus den späten 1920ern. Die Firma läuft noch heute. Cool, oder?

Die Zulassungsbedingungen vor mehr als 90 Jahren haben bis heute ihre Spuren hinterlassen. Derzeit sind nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung in Michigan jüdischen Glaubens. Dagegen stellt die jüdische Community rund 15 Prozent aller Studierenden an der University of Michigan: Rund 6700 – unter rund 45.000 Studierenden insgesamt. Die Story erzählen sie Dir noch heute überall: Während alle was gegen die Juden hatten, hat Michigan seine Tore offen gehalten. Das ist ne gute Geschichte. Und ich trage sie gerne weiter.

bookmark_borderChicken of the Woods schmeckt nicht wirklich nach Hühnchen

Meine Eltern waren schon immer Pilzsammler, was auch mich zu so ner Art Pilzsammler macht. Am Sonntag war ich mit Nicki an einem kleinen See in der Nähe von Ann Arbor. Dort lag ein Paddelboot, das wir benutzen konnten. Also haben wir das Paddelboot benutzt und sind danach noch ne Runde durch den See geschwommen. Es war warm und richtig Sommer, auch wenn der Himmel voller Wolken hing.

Auf dem Weg zurück zu unseren Klamotten ist uns ein junger Mann begegnet. Er hatte einen Stoffbeutel dabei, in dem Sachen drin lagen. Ich dachte zunächst: Brotreste für die Karpfen und Enten. Aber nein. Es waren Pilze. Er meinte: „Das ist Chicken of the Woods. Ich kann Euch verraten, wo’s noch mehr davon gibt.“ Wir so: Verrat’s uns, Fremder. Also hat er uns die Stelle beschrieben. Wir sind hingegangen und haben uns so viel genommen, wie wir für ein Abendessen gebraucht haben (siehe das Bild oben). Ich bleib‘ dabei: Mit Fremden reden ist überhaupt das Allerbeste.

Chicken of the Woods ist DER Pilz hier in Michigan. Wir waren vor Jahren mal bei einer Waldführung, einer so genannten „Mushroom Hunt“ (jawohl, der Amerikaner sammelt keine Pilze, der jagt sie!) – und da haben sie praktisch nur von diesem Pilz gesprochen. Weil: Soooo ergiebig. Und soooo lecker. In Deutschland heißt derselbe Pilz „Gemeiner Schwefelporling“, und vielleicht ist genau das der Grund, warum ich diesen Pilz in der alten Heimat weder so richtig kenne noch jemals gesammelt habe. Wikipedia behauptet: Er ist häufig in Deutschland. Tja.

Zu Hause haben wir ihn jedenfalls geputzt und paniert.

Alsdann in die Pfanne gehauen.

Und danach mit Pasta und irgendwas gegessen, das halt noch da war. Wir haben so getan, als wär’s Hühnchen. Die amerikanischen Rezepte sagen alles: Genau so schmeckt’s. Aber ganz ehrlich: Es schmeckt gar nicht wirklich so. Es schmeckt anders. Man könnte dieses Dinge keinem Menschen für Huhn servieren und damit durchkommen. Mogelpackung!

Ich will nicht sagen, dass es schlechter schmeckt. Aber halt anders. Die knallige Farbe kommt nach dem Braten fast noch stärker durch als davor.

Sprache, Sprache, Sprache. Gemeiner Schwefelporling klingt nach „Finger weg“. Chicken of the Woods dagegen – das ist ein Namen mit Schmackes. Nicki sagt: Marketing ist alles! Wo sie Recht hat, hat sie Recht.

bookmark_borderHausmusik

Gestern hat mich Scott besucht, um Hausmusik mit mir zu machen. Er hat sein neues Banjo mitgebracht, auf das er mit Recht sehr stolz ist. „Weißt Du, warum es wie Gold glänzt? Weil sie dafür echtes Gold verwendet haben!“ Jawohl. Hier stimmt sie noch die alte und leider längst vergessene Weisheit: Was wie Gold glänzt, das ist auch aus Gold!

Scotts Banjo klingt wahnsinnig gut. Nicht nur, weil er es gut und mit Liebe spielt. Sondern auch, weil es sich um ein „Ome“-Banjo handelt. Ome, das ist ein kleines Familienunternehmen aus Colorado. „Die bauen nur ein paar Instrumente pro Jahr“, sagt Scott. Er hat durch einen Zufall (nämlich: den Originalkaufbeleg, der noch mit im Koffer des Instruments lag) eine musikalische Verwandtschaft mit dem Erstbesitzer des Instruments festgestellt. Er MUSSTE es einfach kaufen, das Schicksal hat es so gewollt.

Und so bin ich gestern – durch eine Verkettung günstiger Zufälle – zu einer Bluegrass-Session gekommen, obwohl ich von Bluegrass keine Ahnung habe. Hier ein kleiner Ausschnitt. Man kann dazu tanzen oder sich einfach drüber freuen, dass Menschen miteinander Musik machen. Ist das nicht schön?

Im Hintergrund sieht man übrigens Theo, den Kater. Katze Sasha und Hund Coco lagen davor auf dem Teppich. Manchmal haben sie mit den Pfoten den Takt mitgewippt, es war eine Freude.

Im Übrigen sagt Scott, dass ich aufhören soll mit diesem WhatsApp-Quatsch. „Damit verletzt Du eine ganze Reihe sozialer Normen hier bei uns. Besorg Dir gefälligst ne amerikanische Telefonnummer.“

Eigentlich weiß man das schon. Trotzdem verrückt, dass hier in den Staaten kaum jemand WhatsApp verwendet. Das machen nur die Ausländer. Tja.

Außerdem hab ich mich beruflich gestern mit einem Mathematiker-Streit im 18. Jahrhundert beschäftigt. Das Zwischenmenschliche kann ich verstehe. Aber die Mathematik dahinter? Man weiß im Grunde überhaupt gar nichts.

Keine weitere Pointe.

bookmark_borderDie Leute im Camp Michigania

Eine Sache vorab. Google Translate ist besser als nichts. Aber DeepL ist viel, viel besser.

Nun zur Sache.

Am Ende hab ich beim Camp Michigania eine Urkunde bekommen für maximale Begeisterung beim Tennis und beim Pickleball. Meine letzte Rückhand ist jetzt schon zehn Tage her und das Knie tut immer noch weh. Hat man davon! Falls jemand noch nie von Pickleball gehört haben sollte: Hier hab ich mal drüber geschrieben und dabei Regeln und Liebreiz dieser Sportart besungen.

Jedenfalls gab’s in der Campwoche ein Pickleballturnier. Meinen Doppelpartner hab ich durch Zufall getroffen. Und genau darum geht’s in diesem Beitrag: Um all die Zufälle und die Leute, die man dabei trifft. Ich rede viel und gern mit Fremden. Es gibt Studien, die zeigen, dass es die meisten Menschen glücklicher macht. Einige davon hab ich kürzlich in einem Podcast vorgestellt. Camp Michigania ist jedenfalls eine Maschine, die genau solche Begegnungen und Zufälle erzeugt und das sehr zuverlässig. Mein Doppelpartner hieß George. George ist der fitteste 83-Jährige, den ich kenne. Und er hat das, was man ein „Händchen“ nennt. Er weiß genau, wo der Ball hin muss und er spielt ihn mit einem bitterbösen Spin. Ich habe erfahrene Athleten Luftlöcher schlagen sehen, weil Georges Bälle manchmal eine irrwitzige Flugbahn beschreiben. Angeblich hat George bei den letzten Michigan-Meisterschaften die Bronzemedaille geholt. „Aber nur in meiner Altersklasse“, sagt er. Es war jedenfalls die reine Freude, auch wenn wir am Ende natürlich nicht gewonnen haben.

Nach unseren ersten paar Matches meinte George: „So, wir gehen jetzt zu meiner Hütte. Ich hab Bier in der Eisbox.“ Und da saßen wir dann auf der Veranda und tranken unser Bier. Es war herrlich. George ist ein Amerikaner, wie man ihn sich amerikanischer nicht denken kann. Aber manchmal, wenn mir ein kompliziertes Wort nicht auf Englisch eingefallen ist, hab ich einfach das deutsche Wort verwendet und George hat es verstanden. „I understand everything“, sagt er. Auf seiner Geburtsurkunde hieß er noch Georg ohne das amerikanische „E“ am Ende. Die ersten Monate seines Lebens hat er in Österreich verbracht. Irgendwann – „after Kristallnacht“ – sei seinem Vater klargeworden, dass Wien, diese damals beste Stadt von allen, nicht länger die beste Stadt für eine jüdische Familie sein würde. Und so kam Georg nach Amerika, als er noch kein Jahr alt war.

Wir haben uns im Laufe der Woche in Michigania noch häufiger unterhalten. George ist ein fröhlicher Kerl, pragmatisch und zupackend. „Ich wollte lange nix wissen von meiner Religion und meiner Herkunft“, sagt er. „Ich wollte nur dazugehören. Nur das hat mich interessiert.“ Aber dann hat’s ihn halt doch irgendwann eingeholt. „Dass ich Jude bin, das ist Teil meiner Geschichte. Es hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin.“

Heute arbeitet er ehrenamtlich fürs Holocaust Memorial Center in Farmington Hills und hält dort gelegentlich Vorträge als Suvivor. Hier kann man seine Geschichte nachlesen. Tja. Mein Punkt ist: Jetzt hab ich Pickleball gespielt mit einem Kerl, der ungefähr so alt ist wie mein Vater und der überlebt hat, weil sein Vater früh genug gemerkt hat, was passiert in seinem Land. Michigania ist die Maschine, die zuverlässig Zufälle produziert. Ohne diese Maschine hätte ich nie mit George gesprochen und nie seine Geschichte gehört. Ich hätte nie gelernt, mit einem Butterflyboot zu segeln.

Und ich hätte auch Bert und seine Familie nicht kennengelernt. Das Ganze kam so. Bei der Begrüßung am ersten Abend meinte Bert, als er am Mikrofon stand: „Ich veranstalte eine Art TED-Talk am Dienstag. Wer ein Thema hat, kriegt 15 Minuten Zeit. Meldet Euch einfach.“ In normalen Jahren gehören solche Vorträge fest zum Programm. In Coronazeiten fallen sie aus. Bert hatte offenbar Lust, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nach der Vorstellung kam er stracks zu Nicki und mir und meinte: „Ihr zwei haltet einen Vortrag. Dienstag vor dem Haus von Arts&Crafts. Ich zähl auf euch.“ Warum er ausgerechnet uns gefragt hat, ist mir noch immer ein Rätsel.

Jedenfalls hing am nächsten Tag wirklich ein Zettel mit unseren Namen drauf am schwarzen Brett. Bei mir stand daneben der Satz: „Keine Ahnung, worüber der Typ reden will, aber er behauptet, dass er für Psychologie Heute schreibt.“

Also haben Nicki und ich zwei Tage später je einen Kurzvortrag gehalten. Nicki hat erzählt, warum die sozialen Medien gut für uns sein können (das ist ihr Forschungsgebiet). Und ich hab von meinem längst vergessenen Buch „Alle Macht den Kindern“ gesprochen – und darüber, was alles passieren kann, wenn Kinder mal ne Zeit lang die komplette Kontrolle haben über das eigene Familienleben. Hat Spaß gemacht, die Leute haben hinterher ein paar Fragen gestellt und dann freundlich geklatscht.

Bert jedenfalls ist ein interessanter Kerl. Er spielt Klarinette in einer Klezmerband. „Nicht wegen der Kohle“, sagt er. „Sondern, um was für die Community zu tun.“ Außerdem schreibt er ab und zu Kolumnen fürs Wall Street Journal.

Ich so: „Welche Themen?“
Er so: „Immobilien. Und Musik.“

Er schreibt auch über Sport jenseits der Lebensmitte. Ich hätte darin seine Bemerkung über die Schmerzen der 50-Jährigen aufmerksamer lesen sollen, dann wär mein Knie jetzt vielleicht in einem besseren Zustand.

Bert hat aber auch eine interessante Familie. Sein Sohn zum Beispiel, der auch mit im Camp war, spielt Schlagzeug in einer Band namens Vulfpeck, die ich sehr mag. Nicki sagt, dass ich mich ein bisschen blamiert habe bei unserer ersten Begegnung, weil ich in spontaner Begeisterung angefangen hab, die Basslinie des Vulfpeck-Songs „Dean Town“ zu singen. Aber das haben schon andere Leute vor mir getan.

Berts Frau Alice hat es im Internet zu einiger Berühmtheit gebracht. Ich habe 2019 sogar mal was über sie auf Facebook gepostet. Ohne Scheiß. Im Wortlaut hieß es damals: „Vulfpeck machen mich fertig. Ab 20:45. Wie die Mama mal eben für ne Meditation auf die Bühne kommt. Ich kann nicht mehr Leute.“ Hier das Video dazu. Guckt Euch ihren Auftritt an, er ist großartig.

Jedenfalls spielen Bert und Alice auch Pickleball. Und zwar gut. Ich verdanke ihnen einige tolle Matches (und möglicherweise auch das Aua im Bein).

Zum Ende des Camps hat Bert für den letzten Abend noch eine Art offene Bühne organisiert, bei der jeder was vorführen konnte. Ich war in den 1990er-Jahren ja mal Teil einer Straßenmusik-Gruppe in Oldenburg. Seither hängen zwei Klezmer-Songs irgendwo in meiner Hirnrinde. Bei einem konnte ich sogar noch Teile des jiddischen Texts. Und so hab ich mir von unserem Nachbarn eine Klampfe geliehen und mit Bert nach einer 15-minütigen Probe ein bisschen Musik gemacht.

Der Eimer im Vordergrund ist voller Bier. Eine Camperfamilie hat ihn gestiftet.

Auch das war: ein großer Spaß. Bert hat mich im Verlauf des Abends zwei Mal öffentlich gefeuert – und später wieder eingestellt. Sein Humor ist ein bisschen wie der Spin von George beim Pickleball: Man weiß nie so recht, wo der nächste Ball hingeht.

Die offene Bühne war auch ansonsten klasse. Kai hat erst das Mikro gehalten und dann spontan eine super witzige Comedy-Einlage hingelegt. „Don’t go to College“, ruft Bert ihm hinterher, als er die Bühne verlässt. Später schnappt sich ein Mädchen die Gitarre und singt zwei Songs. Anschließend meint sie: „Ich hab immer total Lampenfieber.“

Das hat mich beschäftigt. Ich finde, man sollte über die Bühne anders denken. Denn in den guten Momenten verbindet man sich dabei mit allen, die gerade zuhören. Man erschafft ein Netz, wo vorher nur einzelne Punkte waren – und wird dabei selbst Teil des großen Netzes. Wenn mir das nächste Mal jemand von Lampenfieber klagt, werde ich diese Geschichte erzählen. Vielleicht hilft’s.

Ein paar Tage nach Ende des Camps schreibt mir Bert in einer Email, „Gania“ sei ein bisschen „wie Schweden mitten in den USA“. „Sehr egalitär. Du kannst nicht sehen, ob jemand eine weltbekannte Neurologin ist, ein Verfassungsrechtler oder Schrotthändler. Alle laufen in T-Shirts und kurzen Hosen rum. Alle sammeln den Müll ein. Wir sorgen selbst für Unterhaltung und Vorträge – wie an einem riesigen Lagerfeuer, das ne Woche lang brennt.“ Das stimmt. Allerdings sollte man erwähnen, dass Vorträge und Entertainment ansonsten zum Programm gehören. Bert hatte einfach keine Lust, sich beides von der Pandemie wegnehmen zu lassen. Er schreibt weiter:
„Keiner schließt die Hütte ab. Die Kinder stromern den ganzen Tag draußen rum. Die Generationen vermischen sich. Ich hab tatsächlich mit ein paar Kindern und Jugendlichen gesprochen, was mir sonst im Alltag nie passiert, denn ich bin ein alter Mann.“ Unter den Campern waren im Übrigen, so schreibt Bert, „ne Menge Juden (ich kann’s nicht ändern“. Letzteres ist wahr. Es hat etwas mit der Geschichte der University of Michigan zu tun. Aber darüber schreib ich ein andermal.