bookmark_borderProbleme, Probleme – ist es „too much“ oder „too many“?

An einem Badesee in der Nähe gewesen. Wollte ausprobieren, wie bescheuert die Kombination aus Maske, Hut und Taucherbrille aussieht. Antwort: sehr bescheuert.

Vor der Liegewiese stand das obligatorische Hinweisschild zu Corona.

Und um ein Haar hätte ich das kleine Juwel unten in der Ecke verpasst. Die Scherzkekse von der Kreisverwaltung haben doch tatsächlich „Disco Dance“ mit auf die Verbotsliste gesetzt. Humor haben sie manchmal, diese Amerikaner!

Ansonsten über das Phänomen der Überforderung nachgedacht. Die Momente, in denen einem – oft sehr plötzlich – „alles zu viel“ wird.

Im Englischen gibt es dafür zwei Formulierungen. Es ist „too much“ oder „too many“. „Too much“: All das Holz, das der Sturm von den Bäumen geschmissen hat. „Too many“: All die Äste, die jetzt auf dem Waldboden liegen. „Too many“ kann man zählen, „too much“ kann man höchstens messen.

Mir ist irgendwann aufgefallen, dass Überforderung oft nicht daher kommt, dass die Probleme zu schwer zu lösen wären. Sondern daran, dass es zu viele sind, die einem gleichzeitig auf die Pelle rücken. Acht verschiedene Probleme gleichzeitig sind praktisch für jeden ein Knockout. Man fängt dann an durchzudrehen und die Leute in seinem Umfeld zu nerven.

Die Kinder hier scheinen das zu wissen. Sie haben die Äste im Wald zu kleinen Hütten gebündelt. Schon sieht das Chaos irgendwie geordnet aus, obwohl noch genau so viel Holz Bodenkontakt hat.

Und hier. Der Wald ist gerade voll mit diesen Gebäuden. Zwei Fotos genügen. Sie sehen alle gleich aus.

Warum ist das alles so? Im Studium hab ich noch gelernt, dass man nur sieben Elemente in seinem Arbeitsgedächtnis behalten kann. Bei ganz wenigen Leuten sind es neun, bei einigen nur fünf. Mit sieben kommt man aber ganz gut hin. Die Sache lässt sich kaum oder gar nicht trainieren. Man muss also damit leben.

Vor einiger Zeit habe ich eine Geschichte für Brand Eins gemacht und zur Vorbereitung das extrem spannende Buch „Scalable Innovation“ von Eugene Shteyn und Max Shtein gelesen. Darin finde ich folgende Passage:

„Neue Analysen zeigen jedoch, dass 7 ± 2 die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses überschätzt. Wenn man gebündelte Blöcke untersucht, können Erwachsene nur drei bis vier Einheiten speichern“

Shteyn/Shtein: Scalable Innovation

Möglich also, dass in Wahrheit schon fünf Probleme „too many“ sind.

Mein Tipp an mich selber (und alle, die’s interessiert) lautet also: Bei einer gefühlten Überforderung erstmal durchatmen und zwei der Themen verschieben. „Sorry, Jungs, aber das müssen wir morgen regeln.“ Und dann mal gucken, was passiert. Bei mir passiert: oftmals eine schnelle Beruhigung. Hab ich auch bei anderen schon beobachtet. Probleme sind häufiger „too many“, als man glaubt.

Am Abend haben wir übrigens „Dungeons & Dragons“ gespielt. Hat Spaß gemacht, ich kann das empfehlen – zumindest, wenn man einen tüchtigen „Dungeon Master“ am Start hat. Das war bei uns der Fall. Der junge Mann wird bald 13. Kein schlechtes Alter.

bookmark_borderDie Amygdala ist schuld, manchmal

Nachrichten geguckt. Alles geht um Rassismus und Polizeigewalt. Natürlich. Sie zeigen auch ein paar Videos von Afroamerikanern, die eine Begegnung mit der Ordnungshut nicht überleben.

Vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich für P.M. ein Interview mit Prof. Robert Sapolsky geführt, einem Neurowissenschaftler aus Stanford.

Dabei ging es auch um Polizeigewalt und die Rolle des Gehirns. Spoiler-Alert: Manchmal ist die Amygdala an allem schuld. Hier ein Auszug aus dem Transkript, ohne Bearbeitung.

JM: In unserer visuellen Wahrnehmung spielt die Amygdala eine interessante und manchmal folgenreiche Rolle. Bevor unsere Hirnrinde diese Informationen verarbeitet hat, landet eine sehr grobe Kopie in unserer Amygdala. Sie schlägt innerhalb von Millisekunden Alarm, wenn uns zum Beispiel ein Mensch begegnet, der eine andere Hautfarbe hat als wir.

RS: Ja, hier haben wir einen der stärksten Beweise für die Vorstellung, dass eine Vielzahl unserer Entscheidungen, auch unserer moralischen Entscheidungen, in viel stärkerem Maße von Emotionen geleitet sind, als wir das gerne hätten. Anders gesagt: Es sind oftmals Gehirnareale wie die Amygdala, die unsere Entscheidungen treffen. Und die rationaleren Teile unseres Gehirns liefern danach nur noch eine vernünftig klingende Begründung. Emotional entscheiden wir in Sekundenbruchteilen. Die Begründung kommt später. Und die Daten aus der Neurobiologie passen wunderbar zu dieser Hypothese. Wenn wir uns jetzt diese konkrete Geschichte ansehen: Ja, die Amygdala bekommt einen sehr privilegierte Zugang zu unseren sinnlichen Informationen. Sie bekommt eine grobe Information über Reize, die Emotionen auslösen. Und zwar deutlich schneller als unser Kortex diese Daten verarbeiten kann. Wir reden hier über 100 bis 200 Millisekunden, was ein wahnsinnig kurzer Zeitraum ist. Und das ermöglicht sehr, sehr schnelle Entscheidungen, die auf sehr ungenauen Daten beruhen, weil, naja, der Kortex halt viel besser darin ist, akkurat zu arbeiten als die Amygdala. Und dann hat man plötzlich diese ganzen Geschichten, wo die Polizisten sich auf einmal sicher sind, dass der Typ, der gerade in die Tasche greift, um seinen Ausweis hervorzukramen, eigentlich eine Waffe ziehen will. Und dann, 14 Pistolenschüsse später, zeigt sich, dass er gar keine Waffe bei sich hatte. Und wir wissen heute, dass solche Missverständnisse in unglaublich starkem Maße etwas damit zu tun haben, welche Person da eigentlich nach seiner Brieftasche greift. Interessanterweise arbeite ich gerade mit einem pensionierten Polizeibeamten, der sich über dieses Phänomen große Sorgen macht und über das Ausmaß, in dem Polizeischulung solche Zwischenfälle praktisch unvermeidlich macht. Er zeigt mir dabei verschiedene Dashcam-Videos, also von Kameras, die an der Windschutzscheibe eines Streifenwagens angebracht sind und die dort alles filmen. Einige dieser Schießereien, oh, mein Gott, wissen Sie, ich bin einfach nur ein Professor, der an seinem Schreibtisch sitzt und Bücher liest. Aber das Schockierendste ist, wenn er sagt, guck dir einfach mal die Sekundenanzeige auf dem Bildschirm an. Und dann stellst du fest, dass die ganze Sache innerhalb von 1,3 Sekunden abgeht. Solche Sachen, wo du sehen kannst, dass der Polizist nach 0,7 Sekunden seine Waffe im Anschlag hat. Das ist genau das Königreich, in dem die Amygdala die vielleicht wunderbarste Sache der Welt ist, weil sie dir die Chance gibt, mit einem wahnsinnig schnellen Sprung dem Biss einer Giftschlange zu entkommen. Aber es ist ein Desaster in einer Welt, in der die Leute Knarren haben und entscheiden müssen, ob sie abdrücken oder nicht.

JM. Kann man Leuten beibringen, ihrer Amygdala zu misstrauen? Was tun wir da?

RS: Darum geht’s im letzten Kapitel meines Buches („Gewalt und Mitgefühl“, JM). Wie schafft man es, die Leute zu mehr Zusammenarbeit zu bringen? Inklusiv, zusammengehörig – und weniger aggressiv, fremdenfeindlich, ausschließend? Wenn jemand gezwungen ist, in der Nähe von jemandem zu leben oder zu arbeiten, der zu einer Fremdgruppe gehört, und selbst wenn man von Kindesbeinen an darauf konditioniert wurde, von „denen“ als „die anderen“ zu denken, dann entwickeln sich innerhalb von Wochen neue Einstellung gegenüber „denen“. Manchmal dauert es auch länger. Die kleinste Fassung dieser Geschichte lautet: Ich hasse sie. Aber ja, dieser eine Typ, der ist in Ordnung. All diese Geschichten benötigen eine Amygdala, die weniger reaktiv geworden ist.

JM: Eine meiner Lieblingsstorys ist die, wo man die Leute tippen lässt, was vermutlich das Lieblingsgemüse des anderen ist. 

RS: Ja, die Brokkoli-Studie. Das ist eine ganz erstaunliche Arbeit. Diese einfache Frage zwingt dich dazu, über den anderen als Individuum nachzudenken und seine Perspektive einzunehmen. Und schon hört die Amygdala auf, diesen Menschen als Mitglied einer Fremdgruppe zu sehen. Und da kann man sehen, dass wir als Menschen die bemerkenswerte Fähigkeit haben, unsere Neurobiologie und auch unser Verhalten zu ändern. Wenn es um die Geschwindigkeit geht, in der sich diese Dinge vollziehen, ist die Brokkoli-Studie wahnsinnig faszinieren. 

bookmark_border„Was machen Sie eigentlich beruflich?“

Kürzlich hat mich jemand sorgenvoll gefragt, was ich eigentlich beruflich mache. Die Frage ist berechtigt. Seit dem Beginn der Corona-Krise spende ich 15 bis 20 Prozent meiner Arbeitszeit, um diesen Blog zu schreiben („eigentlich“ sagt man „das Blog“, aber ich kann das nicht). Der ganze Rest nimmt also deutlich mehr Zeit ein – ist aber weniger sichtbar. Heute also drei aktuelle Antworten. Vielleicht inspiriert es ja jemanden, die entsprechenden Druckerzeugnisse zu erwerben, das würde mich freuen.

Da ist erstens die Psychologie Heute. Das Blatt ist immer noch eine Instanz. Mit dem Juli-Heft erscheint dort am kommenden Mittwoch „Siri, was stimmt nicht mit mir?“, eine Geschichte, auf die ich einigermaßen stolz bin. Ich musste mehrere Forschungs-Konferenzen besuchen (etwa die CSCW in Austin/Texas), um sie kapieren und schreiben zu können. Dies ist das Heft dazu:

Es geht im Kern um die Arbeit von Munmun De Choudhury, eine Informatikerin von der Georgia Tech. Munmun guckt sich an, was wir z.B. auf Twitter oder Facebook von uns geben. Ihr Computer kann aus diesen Daten dann ablesen, wie es unserer Psyche geht und ob wir womöglich Hilfe brauchen. Sie sieht unsere Krisen, bevor wir sie sehen. Manchmal: Monate vor uns. Ein Hammer, oder?

Munmun und ihre Kollegen, die an ähnlichen Projekten sitzen, analysieren zum Beispiel subtile Sprachmuster, aber auch die Bewegungsdaten unseres iPhones oder die Grautöne der Bilder, die wir posten. All das verrät etwas über uns. Der Text beginnt mit einem ähnlichen Gedanken, wie ich ihn hier gestern geäußert habe:

Man braucht keinen Zeitungsverleger mehr, um seine Ideen zu veröffentlichen. Auf Facebook, Twitter, Instagram, da geht das ganz leicht und deshalb machen es auch viele. (…) Wir gehen über die Straßen der digitalen Welt wie über frisch gegossenen Beton. Er härtet aus; un­sere Fußspuren bleiben sichtbar für lange Zeit. Und vielleicht noch deutlicher als einst bei Adenauer kann jeder erkennen, wie wir ticken, obwohl man uns gar nicht kennt.

„Siri, was stimmt mit mir nicht?“, Psychologie Heute, 7/2020

Leider – oder zum Glück? schwer zu sagen – liegt „Siri, was stimmt nicht mit mir?“ hinter einer Bezahlschranke. Man braucht ein Abo, um den Text lesen zu können. Oder man kauft sich das Heft am Kiosk oder den Artikel selbst für 1,99 Euro im Netz.

Die zweite Sache, von der ich etwas erzählen will, ist meine Arbeit für ein Heft namens „P.M. Fragen&Antworten“. Die Hefte sind immer interessant. Darüber hinaus hat das dortige Team in Zeiten der Pandemie eine neue Homepage aufgebaut, die ziemlich schick aussieht. Ich empfehle den Besuch. Man wird nicht dümmer dabei, versprochen. Dort arbeiten übrigens die härtesten Faktenchecker, denen ich bisher begegnet bin. Ich muss praktisch jeden Satz mit einer eigenen Studie belegen. Viel Arbeit. Ich hoffe, man sieht es den Texten nicht an. Wenn es sich einfach liest, hat es die meiste Mühe gemacht. Hier zum Beispiel ein kurzes Stück darüber, warum sich Vorurteile so lange halten.

Drittens hat mir mein Sohn gestern ein Foto geschickt – aus der April-Ausgabe von „P.M. History“. Dort ist meine Geschichte erschienen, in der es um das große Kawumm von Halifax geht – die größte menschengemachte Explosion vor der Atombombe. Nie davon gehört? Dann wird’s Zeit. Eine saftige Story über eine ganz unglaubliche Katastrophe, in der mehr Dinge schiefgegangen sind, als man sich so mal eben ausdenken kann. Wirklich. Wenn die Folgen nicht so schlimm gewesen wären, hätte man eine Slapstick-Komödie aus dem Stoff machen können.

Okay, hier, ein kleiner Ausschnitt: Zwei Schiffe dampfen durch die enge Hafeneinfahrt von Halifax. Das eine will hinaus, das andere hinein. Beide haben es eilig. Eines davon ist bis unter die Decke vollgestopft mit Sprengstoff und brennbaren Chemikalien. Das weiß aber keiner. Es ist nämlich gerade Krieg.

Drei Mal schicken die Kapitäne Signaltöne hin und her – jede Botschaft lautet im Wesentlichen: „Bitte ausweichen, ich halte meinen Kurs.“ Erst kurz vor dem Zusammenstoß verlieren die Kapitäne etwa zeitgleich die Nerven. Sie ändern ihre Fahrtrichtung. Tragischerweise entscheiden sich beide für dieselbe Seite.

„Die Apokalypse von Halifax“, P.M.-History, April 2020

Tja. Also: Das hier sind Dinge, die ich so beruflich mache. Ich liebe meinen Job. Er füttert meine Neugier, diesen hungrigen Drachen. Ich bin frei dabei und selbstbestimmt. Und all das ist Teil der Bezahlung. Hoffentlich kann ich das noch lange so machen. Das wäre klasse.