bookmark_borderEs fehlt etwas

Das sind die Kühltürme von Philippsburg. Dort bin ich neun Jahre lang zur Schule gegangen. Das Atomkraftwerk lag gleich ums Eck. Vor ein paar Tagen wurden die Türme gesprengt. Im Fernsehen ist ein Beitrag dazu gelaufen, in dem die Leute von „Wehmut“ sprechen – als hätte man ihnen den Kirchturm weggenommen: Es fehlt etwas, wenn man aus dem Fenster schaut. In den Klassenräumen des Gymnasiums (das – Ironie – vor ein paar Wochen übrigens abgebrannt ist) hat meine Deutschlehrerin mich damals ein Gedicht von Andreas Gryphius auswendig lernen lassen, das ich immer noch mag: „Wo heute Städte stehn, wird eine Wiese sein, auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.“ So ist es jetzt gekommen. Gleich doppelt. Passt alles.

Musste heute an Sebastian Junger denken. Das ist ein amerikanischer Reporter, der mit seinem Buch „The Perfect Storm“ berühmt geworden ist (das später mit George Clooney verfilmt wurde). Anfang der 2000er hab ich Junger mal getroffen, als er in Hamburg war, um sein nächstes Buch zu vermarkten. Interessanter Typ. Er wirkte ein bisschen wie die wetterzerfurchten Fischer, Soldaten und Frontkämpfer, von denen seine Geschichten erzählen: durchtrainiert, mager, hart, melancholisch und seltsam deplatziert in der aufgeräumten Welt des Westens. Vor vier Jahren hab ich dann wieder ein Buch von ihm in die Hände gekriegt. Es hieß „Tribe“ und handelte davon, dass … naja … die Leute sich irgendwie nach Krieg und Krisen sehnen. Und nach dem Zusammenleben in der Stammesgemeinschaft. Frieden und Kleinfamilie, so Junger, sind ein Irrweg und machen nicht glücklich.

In der Coronakrisen hab ich tatsächlich kleine Gesten von Zusammenhalt erlebt. Kollegen von Nicki, die ungefragt Hefe vorbeibringen, Bier, Sauerteigstarter, Hundefutter und dergleichen. Hier in der Straße hat Nicki einen Email- und Telefonverteiler erstellt, damit die Leute sich besser kurzschließen können. Aber das sind Geschichten am Rand, nicht unser Alltag.

Jungers Buch hat eher gemischte Kritiken bekommen. Aber weil ich selbst ein alter Kollektivist bin, hat es mich damals angesprochen. Die Coronakrise ist keine Zeit für die Stammesgemeinschaft. Die Leute leben halt allein oder in der Kleinfamilie. Der Rest der Menschheit ist zur Gefahr geworden, die einem den Tod bringt (oder zumindest eine Krankheit, die sehr unangenehm sein kann). Und obwohl viele sich irgendwie eingerichtet haben, würde ich doch mal behaupten: Es fehlt uns was. Vielleicht der Stamm oder so etwas in der Art? Keine Ahnung.

Auf unserem Spaziergang mit Coco haben wir im Wald eine etwa 80 cm lange Schlange gesehen. Vermutlich handelt es sich um eine Eastern Garter Snake, die im Deutschen den fast schon demütigenden Namen „Gewöhnliche Strumpfbandnatter“ trägt. Harmloses Tier. Kein Gift. Sozusagen die Ringelnatter der neuen Welt. Boring. ABER: eine Schlange. Also viel besser als nichts.

Hier kommen jetzt immer mehr Vögel zu den Futterhäuschen. Nachdem die Nachbarin von 44 verschiedenen Arten berichtet hat, ist uns klar geworden, dass wir mit Petersons schlankem Büchlein „Birds. The concise field guide to 188 common birds of North America“ an unsere Grenzen stoßen. Mal wieder ist das Netz schlauer: Die Seite Ebird.org zeigt sämtliche Arten, die von leidenschaftlichen „Birdern“ in der jeweiligen Gegend gesichtet wurden, die man eingibt. Die Beschreibungen der einzelnen Arten sind reine Poesie. Kein Zweifel: Hier hat die Liebe manchem Vogelfreund die Feder geführt. Ein Beispiel? „Männchen mit elegantem, schwarzem Latz, hellem, rötlichem Nacken und fantastisch gemusterten Flügeln mit glänzendem Beige und Braun.“ Diese Jubelbeschreibung bekommt auf ebird.org kein anderer als der Hausspatz, sozusagen das Graubrot unter den Singvögeln. Bin gespannt, wie viele Vogelarten wir hier noch sehen, jetzt, wo das Netz uns die Augen dafür geöffnet hat.

bookmark_borderEine Wasserpistole, ein Widerspruch und ein bisschen harmloser Natur-Quatsch

Diesen Priester von der St. Ambrose Church in Grosse Pointe Park in Michigan feiert heute die hiesige Tagespresse. Der gute Mann wollte an Ostern Blumen und Sachen segnen, ohne die Regeln des Social Distancing zu verletzen. Also hat er sich – man achte auf seine rechte Hand – irgendwoher eine blaue Wasserpistole besorgt und damit Weihwasser auf die vorbeifahrenden Gläubigen gespritzt. Finde ich hochgradig sympathisch: Spiritualität und Pragmatismus passen manchmal gut zusammen (wie im berühmten Sprichwort „Glaube an Allah, aber binde dein Kamel fest“).

Heute ein bisschen Nostalgie: Vor ungefähr zehn Jahren hab ich für Psychologie Heute eine Forschungskonferenz in Köln besucht und dabei ein längeres Interview mit dem Psychologen David Dunning gemacht. Es ging um „Vertrauen in Fremde“. War ne super Geschichte (ist lange her, ich darf das also sagen; nicht alle Geschichte werden gut). Dunning war freundlich, witzig, schlagfertig. Ein paar Jahre später ist er auch noch an die University of Michigan gegangen. Ich fühle mich dem Mann also verbunden (leider kann ich die Geschichte nicht verlinken, weil sie seit dem Relaunch der PH-Webseite nicht mehr im Archiv zu finden ist).

Außerhalb der Psychologie ist Dave Dunning vor allem durch den nach ihm benannten „Dunning-Kruger-Effekt“ berühmt geworden. Der besagt im Wesentlichen, dass man seine Leistungsmöglichkeiten meist überschätzt, wenn man von einer Sache wenig Ahnung hat. Anders gesagt: Übung und Erfahrung helfen, zu wissen, was man kann. Der Effekt ist sehr oft von sehr vielen Leuten in sehr vielen Studien bestätigt worden (was man weiß Gott nicht von allem sagen kann, was so in den Lehrbüchern der Psychologie steht). Die entsprechenden Arbeiten Dunnings sind mehr als 10.000 Mal von anderen Forschern zitiert worden. Also sehr, sehr oft. In der Popmusik würde man sagen: Das war ein Hit, ein Song nach dem viele Leute tanzen.

Heute musste ich nun mit Entsetzen im Blog von Maximilian lesen, dass es den Dunning-Kruger-Effekt angeblich „gar nicht gibt“. Ich hab mir die Sache also angeguckt und bin jetzt einigermaßen beruhigt. Der Widerspruch stammt von einer einzigen Studie, die danach vor allem von den Autoren selbst zitiert wurde (insgesamt elf Citations). Vielleicht kommt da noch mehr, das weiß man nie. Aber bis es so weit ist, würde ich sagen: Den Dunning-Kruger-Effekt gibt es wahrscheinlich doch. Das kann man weiterhin behaupten, ohne sich zu blamieren.

Jetzt noch ein bisschen harmlosen Natur-Quatsch. Hab mir zum Geburtstag, wie schon berichtet, eine Trail Camera geschenkt. Seit zwei Tagen hängt das Ding hinten im Wald am Stadtrand von Ann Arbor. Vorhin nachgesehen: Da ist doch tatsächlich ein junger Hirsch vorbeigekommen und hat Grünzeug geknabbert. Hier also: ein 15-Sekunden-Video mit maximal unspektakulärer Natur drin. Aber warum soll das Leben der Hirsche auch aufregender sein als meins? „It’s the pandemic, man!“

Ansonsten hat’s heute ne Menge geregnet. Der Fußweg unterhalb des Dammes ist zum Teil überspült. Selten so viel Wasser da runterkommen sehen. Muss man sich das angucken? Nö. Aber wo ich schon mal dabei bin, selbstgeschossene Videos hochzuladen: bitte sehr!

Hier nochmal von oben. In Zeitlupe. Ein 42-Sekunden-Video, bei dem man nach sieben Sekunden schon alles gesehen hat, was es zu sehen gibt. Jawohl, als Kameramann oder Fotograf wäre ich längst verhungert. Na und? Man kann nicht alles können. Kai sagt: Wenn der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass Anfänger sich überschätzen und man von sich behauptet, dass man so gar nix draufhat – dann ist das vielleicht gar nicht so bescheiden, wie es klingt. Kai ist ein schlauer Junge. Hm. Gilt das, was ich hier mache, schon als „humblebrag„? Ach. Es ist kompliziert, dieses Leben.

Was werden Euch eigentlich für Videos angeboten, nachdem Ihr diese YouTube-Filme geguckt habt? Würde mich interessieren. Bei mir: Mr. Bean. Keine Ahnung, woran das liegt. Hab den ewig nicht geguckt. Schreibt mir, please. 🙂

bookmark_borderKalender-Zombies

In meinem Kalender steht, dass ich jetzt seit genau 74 Minuten in der Luft bin, um von der San Francisco Bay (o.) zurück nach Hamburg zu fliegen. Sommer in Deutschland. So war’s geplant. Tja. Der Flug wurde natürlich längst gestrichen. Und ich sitze in Michigan. Alles anders.

Warum sehe ich den Termin trotzdem noch? Weil’s Arbeit gemacht hätte, all die Sachen zu streichen, die wegen Corona ausgefallen sind. Mein Smartphone steckt voller Kalender-Zombies: Voller Einträge, die schon lange tot sind, aber trotzdem noch so tun, als wären sie am Leben.

Nicki behauptet, dass ihr solche Einträge helfen, ihr Gefühl für die Zeit nicht zu verlieren. Das alte Leben war voller Struktur. Man kann sich noch immer daran festhalten.

Am Anfang der Krise hab ich ein Interview mit Kate Sweeny für Psychologie Heute gemacht. Sie ist Psychologin an der UC Riverside und erforscht ein Phänomen namens „Warten unter Unsicherheit“, das sich zumindest teilweise auf ein paar psychische Vorgänge während der Pandemie anwenden lässt. Eine Sache, die dabei auffällt: Beim Warten dehnt sich überlicherweise die Zeit. Wer jammert, er habe „eine geschlagene Stunde“ beim Arzt gesessen, hat in Wahrheit selten mehr als 40 Minuten dort verbrachtIch bin deshalb ziemlich überrascht, dass die Tage gerade schneller zu vergehen scheinen als sonst. Keine Ahnung, ob das nur mir so geht: Ich steh‘ am Morgen einigermaßen pünktlich auf, atme zwei, drei Mal durch und – zack! – geht schon wieder die Sonne unter. Die Uhren ticken derzeit schneller, keine Ahnung, woran das liegt.

Mein alter Freund Heiner – wir haben in Tübingen zusammen Philosophie studiert – hat mir kürzlich ne Geschichte dazu erzählt. An Weihnachten hat er seine Familie um sich versammelt und eine Rede gehalten. Die ging sinngemäß so: Wir haben jetzt über 50 Jahre lang nur Glück gehabt. Unverschämtes Glück. Und irgendwann, vielleicht erst in 20 Jahren, vielleicht aber auch schon morgen, wird das alles vorbei sein. Dann passiert irgendein Mist. Und wenn das so sein sollte, dann will ich kein Gejammer hören. Dann will ich, dass alle sich an diesen Abend erinnern und daran, dass wir die vielleicht längste Glückssträhne der Geschichte zusammen erleben haben. Das fand ich sensationell gesprochen.

Und heute will auch so etwas in der Art sagen: Ich werde mir in meinen Kalender einen Eintrag machen: 17. Mai 2022. An diesem Tag will ich zurückblicken auf das, was alles war. Dass wir gemerkt haben, wie die Welt sich verändert – aber keinen Schimmer hatten wie und wohin. Wir werden denken: Little did we know. Es wird alles ganz anders sein. Ich bin super gespannt auf das, was kommt.

Ansonsten musste Coco gebadet werden. Sie hat irgendwo im Gestrüpp eine Kuhle gefunden, in die zuvor ein Stinktier gepinkelt hat. Sie hat sich gewälzt und sich gefreut wie eine Königin. Der Gestank danach im Haus war kaum zu ertragen. Warum machen Hunde so was? Ich bin gespannt auf erklärende Zuschriften von Leuten, die sich damit auskennen.

Hab mir zum Geburtstag eine Trail Camera geschenkt. Sie hat uns verraten, wer da nachts das Vogelfutter frisst: eine Maus – man hätte es sich denken können.

Draußen blühen gerade die Maiglöckchen. Vergissmeinnicht hab ich auch gesehen. Die Nachbarin behauptet, in ihrem Garten schon 44 verschiedene Vogelarten entdeckt zu haben – allein in diesem Monat. Bei uns kam heute der erste Kolibri vorbei.

Es könnte alles so viel schlimmer sein.

bookmark_borderIst Michigan gefährlich oder nicht?

Vorgestern Geburtstag gehabt, also auch viel mit Leuten aus Deutschland kommuniziert. Dabei habe ich wiederholt festgestellt, dass einige sich Sorgen machen: Hat Jochen sich womöglich den falsch Platz für die Coronakrise ausgesucht? Anders gefragt: Wie gefährlich ist Michigan?

Dazu sieben Gedanken.

  1. Ich weiß, dass Michigan weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Das Bild oben ist ein Screenshot aus einem ZDF-Beitrags vom 1. Mai. Damals haben ein paar Leute im Parlamentsgebäude der Hauptstadt Lansing protestiert – einige davon hatten Waffen dabei. Für deutsche Augen (auch für meine) war das relativ verstörend. Man hört die Stimme von Obelix im Kopf: Die Spinnen, die Amis! Rechtlich, so war zu hören, war die Sache mit den Knarren aber okay. Man darf in Michigan Waffen tragen, so lange man sie offen trägt. Heute lese ich jedoch in der Tagespresse, dass ein paar Dinge dann doch verboten sind; man darf mit den Waffen nicht grundlos drohen, zielen oder rumfuchteln („brandishing“). Auf all das stehen bis zu 90 Tage Knast.
  2. Es gab Abgeordnete – so stand auf Twitter zu lesen – die sich vorsichtshalber schusssichere Westen angezogen haben. Ebenfalls auf Twitter haben Leute mit der „bewaffneten Revolution“ gedroht, falls die Gouverneurin weiter bei ihren Notverordnungen bleibt. Wieder andere reden seither über die Demonstranten als „Michigan Terrorists“ und wollen sie zur Verantwortung ziehen. Ich verlinke das nicht. Dumm Tüch, das.
  3. Auch nicht gefallen hat mir die Tatsache, dass Demonstranten vor dem Wohnhaus von Gretchen Whitmer aufgekreuzt sind. Macht man nicht, gehört sich nicht.
  4. Ebenfalls aus den sozialen Medien habe ich gehört, dass es bei den Protesten, die ja sehr nach „Stimme des Volkes“ klangen und aussahen, in Wahrheit um systematisch geplante und finanzierte Aktionen handeln soll, die nur ein Ziel kennen: Die demokratische Gouverneurin schlecht aussehen lassen – und am Ende die Wiederwahl Donald Trumps sichern. Die bewaffneten Kerle (und der Typ mit dem Bart im Bild oben) seien professionelle Protest-Chargen aus Kalifornien, die für Geld überall Ärger machen, wo man sie braucht. Dass bei all dem auch Geld und politische Interessen mit im Spiel sind, glaube ich sofort. Zu den Profi-Demonstranten gleich mehr unter Punkt 7.
  5. Die Story klang gut. Sie hat mich beruhigt und zu dem gepasst, was ich gerne glauben möchte. Ich habe die Leute hier in Michigan ohnehin als ziemlich entspannt kennengelernt. In mancherlei Hinsicht wirklich sie sogar ziemlich deutsch. Man grüßt auf der Straße, ist freundlich, hilfsbereit, sehr weiß auch, wie man zugeben muss. Ann Arbor kommt mir ungefähr so gefährlich vor wie … hm … sagen wir mal: Reinbek. Die Bilder aus Lansing und meine Erfahrungen aus Ann Arbor passen also nicht so recht zusammen.
  6. Andererseits war ich mit Nicki auch schon zwei, drei Mal in Lansing und dabei haben wir zumindest einmal was Seltsames erlebt. Der Tank in Nickis Wagen war so gut wie leer. Also per App die nächste Tanke gesucht und hingefahren. Das war eine dieser eher kleinen, eher abgerockten Ecktankstellen. Sie passte gut ins Viertel, was mir aber erst nach einer Minute so richtig aufgefallen ist. Alle Zapfsäulen waren nämlich besetzt. Die Leute lehnten an ihren Autos und quatschten miteinander. Hui. Da hatten sich wohl zufällig ein paar alte Bekannte getroffen. Niemand schien in Eile zu sein. Entsprechend hat auch keiner bezahlt oder so getan, als würde er (oder sie) bald weiterfahren. Irgendwann hat Nicki den Motor abgestellt. Auf einmal ist rechts ein ziemlich verbeulter Wagen an uns vorbeigezogen, einer der Leute an der Zapfsäule ist in sein Auto gesprungen und ein paar Meter weitergefahren, der Typ im Auto rechts von uns hat kurz den Motor aufheulen lassen und ist dann – Zack! – an die Säule gehüpft. Getankt hat er aber nicht. Er saß nur in seinem Wagen. Der Wagen stand nur da.
    Und da hab ich laut „Hm“ gesagt. Und Nicki hat auch laut „Hm“ gesagt. In der ganzen Zeit hat keiner der Leute zu uns rübergeguckt. Alle habe getan, als wären wir gar nicht da. Und da haben wir beschlossen, dass genau das vermutlich die beste Idee ist: nicht da sein. Schon kurios, dass „an die Tanke fahren“ natürlich überall einem sozial festgelegten Skript folgt. Dieses Skript sieht überall ähnlich aus. Nicht exakt gleich, aber so, dass man’s irgendwann hinkriegt. An dieser Tanke jedoch galten Regeln, die mir (und auch Nicki) bis heute verborgen geblieben sind. Und ja: Das war komisch. Und hat sich nicht gut angefühlt. Das war einer der wenigen Momente, wo ich dachte: Ganz so kuschelig wie in Reinbek ist es dann doch nicht. Die anderen Momente waren in Detroit. Aber Detroit ist eh ne Geschichte für sich.
  7. Ich habe jedenfalls nochmal geguckt, ob ich irgendwo einen ordentlichen Bericht finde, der mir was über die gekauften Protest-Profis aus Kalifornien erzählt. Und da gab’s tatsächlich was. Nämlich einerseits Social Media und das unter Punkt 4 erwähnte Narrativ. Und dann die traditionellen Medien. Die haben eine Sache namens „Faktencheck“. Und da stand zu lesen: Die Story stimmt einfach nicht. Es war ganz einfach Fake News. Ein Gerücht. Die Sache sieht wohl so aus. Ja: In Kalifornien gab es einen weißen Typen mit Bart, der in einem Buchladen Randale gemacht hat. Und ja: Im Capitol zu Lansing gab’s einen Typen, der so ähnlich aussah. Ist aber nicht derselbe. Der Typ in Lansing kommt tatsächlich aus Michigan und hat sich ansonsten sehr für die Legalisierung von Marihuana engagiert. Daraus lerne ich mindestens drei Dinge. Erstens: Wenn einem eine Geschichte passt, fängt man viel später an, die Sache zu googeln und zu verifizieren. Zweitens: Journalist sein (mein Beruf) ist unter anderem deshalb so anstrengend, weil man gegenüber den Redakteuren jeden Rotz mit einer guten Quellen belegen muss (zumindest, wenn man für ordentliche Blätter schreibt). Hier bin ich Blogger, hier darf ich’s sein. Wenn ich Unsinn schreibe, sagen mir das die Leute und ich kann’s am nächsten Tag korrigieren, ohne mein Gesicht zu verlieren. Es sieht aus wie dieselbe Sportart. Ist es aber nicht. Drittens: Wenn man ein bisschen länger hinschaut, findet man fast bei jedem noch etwas, das man mit ihm gemein hat. Sobald man es gefunden hat, hört er auf, ein Vollpfosten oder Ork zu sein. Man könnte anfangen, miteinander zu reden.

Michigan ist – zumindest da, wo ich gerade bin – vermutlich nicht gefährlicher als Hamburg.

bookmark_borderTransatlantik-Kuchen

An meinem gestrigen Geburtstag gab’s einen transatlantischen Kuchen. Dem war ein Akt von Social Engineering vorausgegangen: Kai hatte mich beiläufig nach meinem Lieblingsgebäck gefragt. Also habe ich von einem Apfelkuchen aus dem Badischen geschwärmt. Bald darauf hat Nicki heimlich meine Mutter kontaktiert, nach der entsprechenden Zubereitungsanleitung gefragt – und als Antwort viele Zutatenbilder bekommen. Kam es dabei zu einem „information problem„? Schwer zu sagen. Fest steht, dass unsere Freunde Silvia und William noch ein paar österreichische Rezepte draufgemacht haben (die Einheimischen wunderten sich über die Unmengen an Butter im Mürbeteig). Nicki hat jedenfalls eine passende Kuchenform besorgt und ihre Mutter Edie dann aus all dem das oben gezeigte Teil gefertigt. Viele Hände. War jedenfalls lecker und eine preiswürdige Aktion, über die ich mich noch immer freue.

Ansonsten hat mein Bruder Martin hat mich korrigiert: Wenn der legendäre Dieter Blau von einem „Oxyd“ sprach, meinte er damit kein Auto (wie ich neulich behauptet habe), sondern ein Fahrrad.

Mein alter Freund Søren hat mich daran erinnert, dass es sich bei der Schreibweise „Oxyd“ nicht um schlechte Orthographie handelt, sondern einfach um das, was in den 1980ern noch der Fall war. Man darf das noch heute so schreiben.

Außerdem hat Søren der Redewendung „zum Knochenkotzen“ nachgespürt – und dabei zwei ungewöhnliche Quellen aufgetan: Einmal die Autobiographie von Adolf Eichmann und zum anderen eine Rede auf dem CDU-Parteitag aus dem Jahr 1989. „Zum Knochenkotzen“ war für Eichmann sein Job in den 1930er Jahren. Der niedersächsische CDU-Landesvorsitzende Wilfried Hasselmann äußerte die Sache damals so: „Denn wenn es uns oft genug gesagt wird, daß es uns eigentlich nicht gut geht, dann suchen wir ja eines Tages, weil uns ja Leiden verordnet wurde, nach dem Erlöser. Dann heißt es: das kann nur rot-grün sein. Es ist zum Knochenkotzen.“ Tatsächlich hieß der nächste Ministerpräsident dort dann Gerhard Schröder.

Kürzlich habe ich über die späten Fröste hier in Michigan geschrieben und dass manche Apfel- und Kirschfarmer die jungen Blüten mit Hubschraubern vor dem Erfrieren retten wollten. Tatsächlich gibt es hier in der Gegend Firmen, die so eine „Helicopter Frost Controlganz regulär in ihrem Programm haben. Was es nicht alles gibt.

Auch aus meiner alten Heimat Aumühle hab ich gestern was Interessantes gehört. Matthias und Gesa haben dort in der Nähe ihre eigene Firma gegründet. Sie züchten und verschicken: Regenwürmer. Klingt schräg. Aber da wegen der Coronakrise viele Leute gerade mehr Zeit im Garten verbringen und die Würmer den Boden besser machen, scheint die Sache ganz gut zu laufen. Die Würmer kommen per Post. Cool, das so was läuft.

Zu den leidenschaftlichen Freizeitgärtnern gehört auch Maximilian mit seiner Familie. Er lässt sich ab und zu in der Hamburger Schreibgruppe sehen, der ich angehöre. Ansonsten bloggt er seit ungefähr hunderttausend Jahren und erfreut mich in manch tristem Moment mit seinen ungewöhnlichen Beobachtungen aus Hamburg. Heute zum Beispiel schreibt er – angestoßen durch einen Zufallsfund – von der „Süße“, mit der uns flüchtige Kindheitserinnerungen anzuzuckern pflegen. Und von der Sorte hatte ich letzthin ja auch die eine oder andere. So ist das wohl: Nostalgie schmeckt wie Apfelkuchen.

bookmark_borderDie Illusion von Kontrolle

Heute war mein Geburtstag, ’ne Menge Leute haben sich gemeldet, trotz Pandemie. Oder gerade deswegen. Das Bild oben zeigt das Zoom-Meeting, das Nicki mit ein paar Freunden hier aus Amerika veranstaltet hat. War ganz toll. Nicht wie eine richtige Party. Aber trotzdem schön. Wir haben fast zwei Stunden lang geredet.

Natürlich haben sich auch viele wegen der Sozialen Medien gemeldet, die es einem viel, viel leichter machen, anderen zu gratulieren. Ich sage das nicht meinetwegen oder um zu jammern, sondern weil ich Nicki ja immer wieder mal bei ihren Vorträgen begleite und sie genau dieses Phänomen oft als Beispiel verwendet, um zu zeigen, wie Kommunikation funktioniert. Früher hat es viel mehr Aufwand bedeutet, wem zu gratulieren. Es kommt bestimmt noch immer von Herzen. Aber wir alle gratulieren heute Menschen, denen wir vor 20 Jahren nicht gratuliert hätten. Weil: Aus den Augen verloren. Den Termin nicht aufgeschrieben. Keine Zeit gehabt, ne Karte zu kaufen. Keine Briefmarken im Haus. Zu viel anderes um die Ohren, um anzurufen. „Mich hat keiner dran erinnert.“ Und so weiter.

Dies ist eine Weltkarte, um zu zeigen, woher die einzelnen Grüße kamen. Man könnte sich beschweren und sagen: Die Pfeile zeigen in die falsche Richtung. Ja. Aber dann wären in Ann Arbor all die Pfeilspitzen. Sieht doof aus. Man könnte auch sagen: Die Pfeile symbolisieren die Richtung meiner Dankbarkeit.

Und weil – natürlich – die allermeisten Glückwünsche aus Deutschland kamen: Hier dasselbe nochmal aufgeteilt nach Bundesländern.

Toll, oder? Ich bin nur ein Mensch von knapp 7,8 Milliarden. Und das da oben ist allein meine Vernetzung auf dem Globus. Dasselbe 7,8 Milliarden Mal. Alles hängt mit allem zusammen. Irre kompliziert, das alles.

Die Pandemie macht uns so fertig, weil sie uns zeigt, dass wir nichts im Griff haben. Die meisten Dinge – auch ein paar von den ganz wichtigen – liegen nicht in unserer Hand. Sie funktionieren, aber wir können nichts dafür. Wir haben es nicht gemacht. Trotzdem haben wir an den meisten Tagen das Gefühl, dass wir planen können und selbst entscheiden, was als nächstes kommt. Es ist eine Illusion. Die Illusion von Kontrolle. Sie hilft uns dabei, am Morgen aufzustehen und am Abend nicht auszurasten. Nicht jede Täuschung ist schlecht. Eine Täuschung ist es trotzdem.

Ich habe nichts im Griff.

Ich habe keine Pläne für die Zukunft. Das gab’s noch nie. Als in den 1980ern die ganzen Tiefflieger in Überschalltempo über unsere Köpfe flogen, hab ich irgendwann mal gelesen, wie die Piloten das überhaupt hinkriegen: Sie konzentrieren sich auf Zielpunkte. Den Kirchturm in Freiburg, den Fernsehturm auf der Hornisgrinde usw. Man kann sich in einem Kampfjet nicht auf dieselbe Art orientieren, wie man das auf einem Fahrrad tut.

Im Leben machen wir genau dasselbe. Da sind ein paar Zielpunkte, an denen wir uns orientieren. Am nächsten Urlaub, zum Beispiel. Am nächsten Quartalsbericht. Der Frankfurter Buchmesse. Dem runden Geburtstag von irgendwem. Der nächsten Fußball-EM. Keine Ahnung. Im Moment sind diese Dinge alle weg. Und wir fliegen trotzdem weiter. Überschall ohne Zielpunkt. Keine Kontrolle. Keine Illusion.

Das mag auch ein Grund dafür sein, dass mir Nicki diesen Gin aus der hiesigen Destille geschenkt hat. Er schmeckt ausgezeichnet und die Flasche ist schön gestaltet.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die an mich gedacht haben. Das war sehr schön. Und ich fühle mich gerade gut – auch in der Gewissheit, die Dinge nicht im Griff zu haben.

bookmark_border„Zum Knochenkotzen“ – noch sieben weitere Erinnerungen an Dieter Blau

Eigentlich wollte ich heute was über Twitterdaten aus Michigan schreiben und was sie über den Seelenzustand der Bürger verraten (nichts Gutes), aber dann ist mir aufgefallen, dass ich nach deutscher Zeit gerade 51 Jahre alt geworden bin. Jeder Geburtstag nach dem neununddreißigsten macht die Leute melancholisch und deshalb habe ich beschlossen, mich noch ein viertes Mal auf einen Trip in die Vergangenheit zu begeben. Vor genau einem Monat ist Dieter Blau gestorben, der meine Kindheit, die meines Bruders und vieler anderer Jungs in unserer Gegend geprägt hat. Und dies sind ein paar Erinnerungen, die mich in den vergangenen Wochen heimgesucht haben.

1. „Zum Knochenkotzen“

Anfang der 1980er Jahre sind wir mit Dieter Blau für zwei Wochen nach Krelingen gefahren. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Walsrode. Den Zeltplatz hab ich schon neulich beschrieben. Wenn man ein Stück weiter am Feldweg durch die Hecke ging, kam man auf das Gelände des „Geistlichen Rüstzentrums Krelingen“. 

Die Krelinger sind Pietisten – es gab also eine enge innere Verbindung zu dem, was bei uns im CVJM so geglaubt und gelehrt wurde. Der Chef des Ladens war ein Mann namens Heinrich Kemner. Er ging schon stark auf die 80 zu, was mir damals sehr alt vor kam. Kemner war eine ausgesprochen charismatische Erscheinung. Ich weiß noch, wie wir regelmäßig in seine Bibelstunden und am Sonntag in seinen Gottesdienst gegangen sind. Damals gab es bei uns im Dorf den Spruch: Eine Predigt darf über alles gehen, nur nicht über 20 Minuten. Kemner hat eine komplette Stunde lang gepredigt und ich habe die ganze Zeit zugehört, ohne wegzudösen. Beides war mir neu. 

Dabei hat Kemner einmal die Redewendung „zum Knochenkotzen“ gebraucht. Es ging, wenn ich das richtig erinnere, um die Liebe zu einem Mädchen. Er hat es gefühlt, er hat gebrannt – und doch entsagt. Denn er hat geglaubt, dass Gott das so will. All das hat Dieter sehr gut gefallen und er hat die Formulierung danach häufig gebraucht und sogar den Tonfall Kemners imitiert. Verzicht ist „zum Knochenkotzen“. Und dazu gab es – Stichwort: Pietismus – bei uns damals reichlich Gelegenheit.

2. Der Klang der Raviolidose

Dieter hatte in Krelingen ein Luftgewehr und jede Menge Munition dabei. Am ersten Abend gab‘s Ravioli. Die Dose war groß genug, um zwei VW-Busse voller Halbwüchsiger damit zu sättigen. Nach dem Abendessen haben wir ein Loch in den Boden der leeren Konserve gemacht, eine Schnur hindurchgezogen und die Dose an dieser Schnur über den Ast einer großen Eiche geworfen, die jenseits einer Weide in der Nähe unseres Zeltplatzes stand. 

Danach haben wir – wann immer uns danach war – auf diese Dose geschossen. Ein Treffer ergab ein hörbares „Klong“. Kein Treffer, kein „Klong“. Es gab natürlich Regeln. Man musste sich das Gewehr und die „Diabolo“-Kugeln bei einem der Erwachsenen abholen und zumindest zu zweit sein. Laxe Regularien waren das, schon für damalige Verhältnissen. Das war uns allen klar und wenn ich mich richtig entsinne, hat es unseren Respekt vor Dieter eher erhöht. Er hat uns was zugetraut.

3. Randale 127 Meter über Hamburg

Irgendwann sind wir, wo wir schon mal so weit oben im Norden waren, natürlich auch nach Hamburg gefahren. Dort und in der Gegend wohne ich seit mehr als 20 Jahren (auch wenn ich seit einiger Zeit auch viel in Michigan bin). Damals kam mir die Stadt sehr groß vor. Was hätte man dort nicht alles machen können! Dieter jedoch hatte seinen eigenen Plan. Wir fuhren – leidlich gewaschen, wie wir waren – per Aufzug in das Restaurant, das es damals noch oben im Fernsehturm gab. 127 Meter über der Stadt. 

Das Ding drehte sich permanent: Eine Runde dauerte eine Stunde. Danach musste man wieder Platz machen für die nächsten Gäste. Dieter hatte herausgefunden, dass es dort oben eine Art „All you can eat“-Tortenbar gab. Und ich würde mal sagen, dass das aus Sicht der Betreiber an diesem Tag ein großer Fehler war. Dieter hatte schon am Tag zuvor verkündet, dass wir dort oben ein Tortenwettessen veranstalten würden. Etwa 15 Minuten, bevor unsere Schicht zu Ende war, meinte der Kellner, dass es jetzt mal langsam gut sei mit dem Kuchen und dass wir genug gehabt hätten.

Dieter hat dann, wie er es später formuliert hat, ein wenig „randaliert“. Fünf Minuten später gab es dann plötzlich doch neuen Kuchen. Aber mir war zu diesem Zeitpunkt bereits schlecht und den meisten anderen wohl auch, denn bei den Backwaren handelte es sich um industriell gefertigte Tiefkühlware mit hohem Sahneanteil. Ich glaube mich zu erinnern, dass Friedemann als einziger fünf (oder sechs?) große Stücke davon geschafft hat. Aber gut. Für einen Laden, der sich ansonsten auf magenkranke Rentner spezialisiert hatte, waren wir ganz sicher einer Art Grenzerfahrung. 

4. „Ich will sterben“

Am Donnerstag hatten wir immer unsere Jungscharstunde. Die meisten von uns befanden sich in dieser merkwürdigen Übergangszeit, in der die Latenzphase sich ihrem Ende zuneigt. Der Testosteronpegel beginnt zu steigen. Das ist das Alter, in dem die Jungs zwar noch nicht komplett den Mädchen hinterherrennen, aber schon viel zu viel Energie haben. Dieter wusste das alles: In der ersten halben Stunde hat er nie Programm gemacht, sondern uns raufen lassen. Er nannte unser Treffen den „Nahkampfdonnerstag“. Er hat auch ein paar Regeln aufgestellt. Schlagen und Treten war verboten, im Wesentlichen war alles okay, was auch beim Ringen erlaubt war. Verloren hatte man aber nicht, wenn man auf beiden Schultern lag. Man musste für alle hörbar „ich will sterben“ rufen. Dann musste der andere aufhören. Bei den Romanschriftstellern (Stichwort: „Heldenreise“) läuft das genau so wie in der Ostergeschichte: Der Held muss sterben und neu geboren werden, um seinen Leuten davon zu berichten. Nur so wird ein Schuh aus der Sache. Tatsächlich ist das Kind in uns bald danach gestorben. Und wir wurden Jugendliche und irgendwann: erwachsen.

5. „Oxyd“

An diese Geschichte hat mich neulich mein Bruder Martin erinnert. Damals in den 1980er Jahren hatten die meisten Autos noch Rostprobleme. Wenn jemand ein altes Auto besaß, hat Dieter gesagt: „Da kommt er angefahren mit seinem Oxid.“ Schließlich handelt es sich beim Rost um oxidiertes Eisen. Dieter hat das Wort allerdings gesprochen, als würde man es mit Y schreiben statt mit einem I: Oxyd. Vielleicht, um einer Verwechslung mit dem römischen Dichter Ovid vorzubeugen? In dessen „Ars amatoria“ geht es nämlich alles andere als jugendfrei zu.

6. „Agschd“

Auch hieran hat mich Martin erinnert: Aus irgendwelchen Gründen hatte Dieter etwas dagegen, zu einem Messer „Messer“ zu sagen. Vielleicht wollte er uns auch nur zu lateralem Denken anregen, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat er zu einem Messer immer „Axt“ (im Dialekt: „Agschd“) gesagt – und jeden korrigiert, der es gewagt hat, das Wort „Messer“ im Munde zu führen. Eine wirkliche Axt war bei ihm einfach ein „Beil“. Tja. Das ist es schon. Kein Gag. Keine Pointe. Reine Chronistenpflicht.

7. Kommunikation schlägt Sicherheit

Dieter fuhr lange Zeit einen weißen VW-Bus Baujahr 1975. Der hatte zwei Rückbänke, auf der jeweils drei Leute sitzen konnten. Die Bänke waren natürlich in Fahrtrichtung ausgerichtet. Dieter fand das aber irgendwann zu unkommunikativ. Also hat er die vordere Bank umgedreht. Drei Leute fuhren sozusagen rückwärts, man konnte einander, wenn man hinten saß, ansehen und miteinander reden. Soziologen würden Beifall klatschen, sofern sie sich mit sozialer Netzwerktheorie auskennen. Ich habe das neulich mal von Hand ausgerechnet (und dann erfahren, dass das schon jemand vor mir gemacht hat): Wenn drei Leute miteinander reden, gibt es genau fünf Kombinationsmöglichkeiten. Bei sechs Leuten sind es schon 203 – ein Ozean aus Vielfalt! Uns allen war klar, dass die umgedrehte Bank deutlich schlechter gesichert war. Aber nicht nur Dieter, sondern auch wir waren bereit, diesen Preis zu bezahlen. Kommunikation schlägt Sicherheit. Außerdem waren wir im Auftrag des Herrn unterwegs und waren sehr davon überzeugt, dass uns schon nichts passieren würde. Ich glaube, das waren im Wesentlichen schöne Zeiten, und ich bin dankbar, all das erlebt zu haben.

bookmark_borderLetzter Vortrag in Stanford – auf Zoom statt in der Sonne

Das sind die Tische, an denen Nicki in Stanford ihr Mittagessen eingenommen hat – immer verwickelt in irgendwelche Diskussionen mit den anderen Gelehrten, die dort ihr Sabbatical verbracht haben. Ein bis zwei Mal die Woche bin ich auch mitgekommen. Ich hab‘ dort auf dem „Zauberberg“ nicht eine langweilige Minute erlebt.

Einmal die Woche hat jemand aus der Professorenschar dort oben einen Vortrag über seine Arbeit gehalten. Heute war nun der letzte dieser Talks. Natürlich auf Zoom. Ohne Sonne, ohne den Ausblick übers Silicon Valley. Ohne den ganzen Geist dort oben, die Landschaft, in der es sich tatsächlich leichter denken lässt. Ich weiß: Man soll sich nicht so anstellen. Aber es tut trotzdem weh, wenn ich so drüber nachdenke.

Heute jedenfalls hat Lianjiang aus Hongkong gesprochen – über das Vertrauen der chinesischen Bevölkerung in die eigene Zentralregierung. Er hat dabei Husserl zitiert und Gadamer. Denn „LJ“ ist zwar von Beruf Politologe, in seinem Herzen jedoch ein Philosoph und intimer Kenner der deutschen Geistesgeschichte. Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ hat er – als Hobby – ins Chinesische übersetzt. Er kann Deutsch flüssig lesen, zitiert mühelos Heidegger und Nietzsche im Original und auch sein Englisch hat nur einen leichten Akzent. Das alles ist ein Wunder: LJ ist auf dem Lande aufgewachsen in – selbst nach chinesischen Maßstäben – sehr schlichten Verhältnissen. Keiner der Dorflehrer sprach Englisch, weshalb LJ erst in seinen späten Teenagerjahren überhaupt mit Fremdsprachen in Kontakt gekommen ist. Seine Geschichte hat mich immer wieder nachdenklich gemacht. Manchmal denke ich: Schule ist genau dann gut genug, wenn sie den Kindern das Lernenwollen nicht gänzlich austreibt. Ich werde die Gespräche mit LJ und den anderen Leuten vom Hügel jedenfalls vermissen.

Heute hat die Uni in Ann Arbor stolz über die hiesigen Lieferroboter berichtet. 500 Kunden lassen sich derzeit von diesen Dingern frisches Gemüse und Restaurantessen nach Hause bringen. Für das Startup Refraction AI ist die Corona-Krise ein Riesenchance, weil viele Leute sich mit einer „kontaktfreien“ Lieferung gerade wohler fühlen. Die Gründer behauptet, preisgünstiger zu sein als die anderen Kurierdienste. Ob das auf lange Sicht wirklich stimmt? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Immerhin: Einen Hauch von Silicon Valley und Startup-Kultur gibt’s auch hier in Michigan.

In den Nächten haben wir außerdem Frost. Die hiesigen Obstbauern fürchten, dass ihnen die Äpfel und Kirschen erfrieren. Die Betreiber einer Plantage haben im Netz angekündigt, um ihre Bäume herum Lagerfeuer anzuzünden und Hubschrauber über die Anlagen fliegen zu lassen, damit die Wärme in Bodennähe bleibt. Entsprechende Bilder hab ich bisher nirgendwo gesehen. Vielleicht morgen.

bookmark_borderMuttertag, Tiere und die Erforschung des Wortes F***

Gestern haben wir uns den Film „Best in Show“ angesehen. Ich habe sehr gelacht dabei und weil es in diesem Klassiker des Mokumentary-Genres um Hunde und ihre durchgeknallten Besitzer geht, eröffnet der heutige Blogeintrag mit einem Foto von Coco, aufgenommen durch ein Fernglas. Meiner Meinung nach ist auch sie „the best in show“.

Heute war Muttertag. Mein Eindruck: Der Tag kommt hier deutlich breithüftiger daher als in Deutschland. Mehr Tamtam, mehr Herz, das ganze gestützt durch gehaltvolle Getränke und Speisen. Bis 14 Uhr waren wir schon durch mit selbstgebackenem Kuchen, tüchtig Sekt und Bagels mit Cream Cheese, roten Zwiebeln, Tomaten, Kapern und Räucherlachs. Alles lecker. Hab ich schon mal gesagt, dass Weißwein und Sekt – zur Mittagszeit genossen – den Geist zwei Etagen nach oben heben? Kann man natürlich nicht all zu häufig machen. Trotzdem. Immer wieder erstaunlich (und ja: Am Foto unten kann man sehen, dass a) Food-Fotograf ein Beruf ist und b) ich dafür nie infrage gekommen bin).

Am Vogelhäuschen kam ein seltsamer Vogel vorbei, der im englischen Rose-Breasted Grosbeak heißt und im Deutschen (kannste dir nich ausdenken) den Namen Rosenbrust-Kernknacker trägt. Petersons Tierführer „Birds. The concise field guide to 188 common birds of North America“ preist vor allem die Laute dieses Vogels: „Sein flüssiges Lied klingt wie das einer Wanderdrossel, die Gesangsstunden genommen hat.“

Beim Spaziergang habe ich einen anderen Sänger gehört. Er klang ähnlich verplappert wie die Feldlerche, die ich aus Deutschland kenne. Diesem Vogel wiederum verdanke ich viele Kindheitserinnerungen und habe ihm deshalb zu einigen Auftritten in meinem Roman „Und doch ist es Heimat“ verholfen. Irgendwann hab ich den amerikanischen Sänger zwischen den Blättern ausfindig gemacht. Es war: ein Goldzeisig. Auf Youtube hat jemand sich die Mühe gemacht, eine Tonaufnahme einzustellen.

Ansonsten – selbst wenn man hier nicht so viel davon mitbekommt – muss (oder darf) ich natürlich immer noch arbeiten. Dafür lese ich viele wissenschaftliche Studien und stolpere hier und da über eine Kuriosität. Dieser Tage zum Beispiel über eine „akustisch-pragmatische Analyse implizierter Bedeutung in einer Szene von The Wire“ (hier auf Google Books ab S. 73).

Besagte Szene aus der formidablen US-Krimiserie dauert etwa dreieinhalb Minuten. Die beiden Polizisten McNulty und Moreland untersuchen einen Tatort. Dabei verwenden sie im Wesentlichen nur ein einziges Wort, nämlich das Wort „F***“ – und zwar 37 Mal. Es bedeutet jedes Mal etwas anderes. Wer immer diesen Dialog geschrieben hat: Ich verneige mich in Ehrfurcht. Überzeugt Euch einfach selbst. Vorsicht jedoch: Nicht alle in diesem Video gezeigten Bilder sind harmlos. Wer keine Spuren von Gewalt und Nacktheit sehen will, sollte lieber nicht klicken. Darum geht’s mir aber nicht. Sondern allein um die karge sprachliche Eleganz.

Noch eine Nachricht aus Michigan? Gerne! In der Zeitung stand dieser Tage, dass am Ufer des Lake Michigan das Wrack eines alten Segelschiffes angespült wurde. Es sank in den 1870er Jahren. Erinnert mich mal wieder daran, dass der See nichts mit den Seen in Deutschland zu tun hat. Es ist eher so eine Art Meer. Seien Fläche ist größer als die von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zusammen. Da kann man, wenn’s stürmt, schon mal einen Schoner verlieren. Den Schiffbruch überlebten damals angeblich nur drei Männer.

bookmark_borderDas geheime Misstrauen in das Fremde und das Neue

In Ann Arbor stehen überall in den Parks und Wäldern solche Schilder. Sie verraten, dass die Behörden auf kontrollierte Weise das Grünzeug unter den Bäumen ausbrennen. Damit will man gegen invasive Pflanzen vorgehen. Die Aktion mag berechtigt sein – und doch wittere ich dahinter ein geheimes Misstrauen gegen das Fremde und Neue. Ich ersetze das Wort „Pflanzen“ durch „Menschen“ und bekomme des Satz: „Nicht-einheimische, eingewanderte Menschen können einheimische Menschen zahlenmäßig überflügeln und es diesen schwer machen, zu gedeihen und gesund zu bleiben.“ Anders gesagt: Botanische Immigranten nehmen den einheimischen Pflanzen die Arbeitsplätze weg. Und die Frauen!

Einer dieser Umvolkungsgrünlinge ist die Knoblauchsrauke. In Europa ist sie angeblich das älteste Gewürz überhaupt. Hier in Ann Arbor wuchert sie wirklich überall und ist in dieser Jahreszeit das dominante Kraut auf vielen Lichtungen. Die Geschichte dieser Pflanze ist ganz ulkig. Sie kam vor mehr als 200 Jahren in die USA. Und zwar mit Absicht: Europäische Einwanderer haben sie mitgebracht. Jetzt breitet sie sich munter aus und macht Probleme, weil einheimische Tiere und Insekten sie nicht vertragen und davon Magenschmerzen kriegen.

Wenn man sich vorstellt, dass die Pflanze schon hier war, bevor Ann Arbor gegründet wurde von, ähm, europäischen Einwanderern, dann stimmt einen die ganze Aktion aber irgendwie nachdenklich. Manchmal frage ich mich, ob die Leute damit irgendwas kompensieren wollen. Kann natürlich sein, dass ich mich irre.

Angst vor dem Fremden und Neuen haben die hiesigen Singvögel offenbar nicht. Sollten sie aber. Wegen dieser Halunken hier.

Das sind zwei Braunkopf-Kuhstärlinge, Monsieur und Madame, ein Paar wie Bonnie and Clyde: Die beiden stecken voller krimineller Energie. Sie machen es wie der Kuckuck: Abwarten, bis die kleineren Singvögel auf Nahrungssuche sind, flugs die Eier im Nest getauscht – und dann ab an den Strand zum Chillen. Aber beim Fressen, da sind sie immer die Ersten!

Auch in Nickis Haus ist es über Nacht zu einem kriminellen Akt gekommen. Jemand hat den Sack mit dem Vogelfutter angeknabbert und daraus ein paar Sonnenblumenkerne geklaut.

Mal sehen, ob wir auch den Fall ebenso leicht lösen können wie das „Verbrechen am Waldrand“ vor zwei Wochen.

Der überführte Täter von damals hat sich gestern bis auf wenige Meter ans Haus gewagt. Dreistes Volk, diese Hirsche, deren Anzahl sich hier in der Gegend seit 1980 übrigens verfünffacht hat. Verbrechen scheint sich also doch zu lohnen.

Beim Spaziergang hat ein Carolinaspecht das Totholz beackert. Tut nix zur Sache, ich weiß, aber der Kerl sieht irgendwie hübsch aus.

Dasselbe gilt für diesen sehr blauen Indigofink, der noch dazu unscharf geworden ist. Mir egal. Der Bursche ist ebenso schön wie scheu und deshalb meist schon fort, ehe man sein Handy gezückt hat. Also darf er heute mal mitspielen. Ich will eigentlich nur beweisen, dass der Kerl hier im Garten vorbeigeschaut hat.

Gestern im Wald beinahe über ein paar Morcheln gestolpert. Die Michiganders behaupten: Das ist der leckerste Pilz, den die hiesigen Forste zu bieten haben. Diese Exemplare standen aber direkt am Bahndamm und deshalb misstraue ich den Inhaltsstoffen.

Ansonsten ist es sehr kalt geworden – selbst für hiesige Verhältnisse ist das ungewöhnlich. Im Radio hieß es, dass wegen der Fröste zehn bis zwanzig Prozent der Ernte ausfallen werden. Als ich vorhin aus dem Fenster geschaut hab, hat’s kurz geschneit. Dazu fällt mir nun wirklich nichts mehr ein. Ich hatte mir fest vorgenommen, nächste Woche hoch zum See zu laufen und reinzuspringen. Das werde ich mir jetzt wohl verkneifen.

Zum Abschluss noch ein paar Sätze zur Lage in Michigan und ein bisschen Volkshochschule. Die Form des Staates (ohne die Upper Peninsula) erinnert an einen Winterfäustling. Wenn zwei Michigander einander begegnen und fragen, woher man kommt, dann heben sie die rechte Hand und zeigen mit der linken, wo auf der Hand der eigene Heimatort zu finden ist. Finde ich ganz toll (zeigen die Italiener in solchen Fällen eigentlich auf ihren Stiefel? Keine Ahnung).

Der rote Punkt im Bild steht für ein Städtchen namens Owosso, das in den vergangenen Tagen einige mediale Aufmerksamkeit erfahren hat. Dort lebt nämlich ein renitenter Friseur, der trotz Corona-Verordnung am Montag seinen Salon wiedereröffnet hat. Seither geht die Sache hin und her. Er kriegt ein Ticket. Er macht am nächsten Tag wieder auf. Leute kommen von außerhalb, um sich bei ihm die Haare schneiden zu lassen, angeblich versammeln vor seinem Geschäft mehrere Demonstranten. An markigen Sprüchen fehlt es auch nicht. Der Mann sagt, er werde den Laden erst schließen, „wenn Jesus hier persönlich reingestiefelt kommt oder sie mich einsperren.“ Seine Gerichtsvorladung hat er angeblich schon bekommen. Liest alles sehr nach Wild West, wenn ich mich nicht irre.

Außerdem ist morgen Muttertag, weshalb ich hier schon mal meine Mutter grüße, der ich leider schon wieder keinen Kuchen backen kann.

Dafür hab ich Kai geholfen, für Nicki einen zu backen.

Irgendwer profitiert immer. 😉