Aber natürlich lese ich in Arbeitspausen auch das, was in Deutschland so geschrieben wird. Nicht so intensiv, wie ich das zu Hause in Hamburg tue, aber immerhin. Manchmal schicken mir Leute was zu, manchmal sehe ich, worüber Freunde sich so auf Facebook oder Twitter unterhalten.
Und seit ein paar Tagen gibt’s da ein paar Sachen, die ich nicht mehr verstehe.
Und dann: Die ganze Testerei. Es war schon früh zu sehen, dass in Deutschland viel mehr und viel schneller getestet wurde als anderswo. Und natürlich viel, viel mehr als in den USA. Als es hier in Michigan den ersten bestätigten Corona-Fall gab, da verfügte der Staat über ganze 300 Testkits. Also so gut wie gar keine. Und das zu einem Zeitpunkt, als das Virus schon praktisch überall im Land rumging und alle davon wussten. Das lief in Deutschland schon mal deutlich besser, da gibt’s keine zwei Meinungen.
In Detroit haben sie Anfang April die Corona-Leichen im Schlaflabor gestapelt, weil sie keinen anderen Platz mehr hatten. Ist in Deutschland alles nicht passiert. Und das war kein Zufall, sondern eine Folge politischer Entscheidungen, von denen einige aus meiner Warte ziemlich richtig waren.
Im Übrigen erinnert es mich an eine Zeit, in der ich regelmäßig den Fortschritten auf einer Baustelle beiwohnen durfte. Der Maurer hat über den Klempner gelästert, der Klempner über den Elektriker, der Elektriker über den Maurer. Jeder hatte das Gefühl: Wer nicht aus meinem Gewerk stammt, ist ein Versager. Aber jetzt mal ehrlich: Beim nächsten mal, wenn’s was zu mauern gibt, wen werd‘ ich da wohl anrufen? Natürlich den Maurer, wen den sonst? Und nicht den Klempner. Und zwar erst recht, wenn der Klempner überall rumerzählt, dass außer ihm alle anderen Klempner (und auch die Klempner vor ihnen) so gar keine Checke vom Klempnern haben und hatten. So was verheißt nämlich nichts Gutes.
Und dann meine beiden Kollegen, die sagen, dass sie dagegen sind „die Dinge den Experten zu überlassen“. Der Spruch kommt mir irgendwie bekannt vor. Nämlich von hier (siehe Video). Hab’s mir gerade nochmal angehört. Gruselig, wie sich die Argumente gleichen. Damals waren die Expertenfeinde für den Brexit. Und genau wie jetzt bei Corona weiß man natürlich auch da noch nicht so genau, wie die Sache ausgeht. Ich hab bei beidem aber so meine Vermutungen.
Ich finde es wichtig, dass wir diskutieren. Alle sollen ihre Meinung sagen. Bitte.
Aber manchmal denke ich, so ganz aus der Ferne betrachtet: Leute, Ihr habt keine Ahnung, wie gut es Euch geht.
Heute lese ich aber in der Zeitung:In den USA gibt’s vielleicht bald kein Fleisch mehr. Oder zumindest nicht mehr so viel, wie die Leute gerne kaufen würden. In den vergangenen Wochen sind in den Schlachthöfen, den Schweine-, Puten- und Hühnerfarmen reihenweise die Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet worden. Die Großlieferanten machen deshalb nach und nach ihre Fabriken dicht.Angeblich reichen die Vorräte in den Kühllagern noch für 14 Tage. Bin gespannt, was danach hier so los ist.
Seit wir in Michigan angekommen sind, schaue ich mir jeden Tag die aktuellen Coronazahlen an und übertrage sie brav in meine Excel-Tabellen. Dass die Sache im Staat New York eher suboptimal gelaufen ist, hat jeder mitgekriegt. Wir wohnen hier 40 Minuten von Detroit entfernt. Die Grafik oben zeigt die relativen Sterbezahlen aus dem dortigen Regierungsbezirk (Wayne County) im Vergleich mit den Zahlen aus New York. Wenn ich das richtig sehe, war die Lage in Detroit zu jedem relativen Zeitpunkt der Seuche beschissener als in New York. Im Moment haben die Krankenhäuser die Sache aber wohl einigermaßen im Griff: Die heute gemeldeten Sterbezahlen waren die niedrigsten im ganzen Monat April.
Vorgestern habe ich von unserem großen Kriminalfall im Garten erzählt: Ein Hirsch („Deer“) hat unseren Schaumstoffball gefressen. Heute ist uns der Übeltäter wieder begegnet: Er stand ebenso lässig wie ordnungswidrig mitten auf den Gleisen der Bahnstrecke Chicago-Detroit. Ehe wir ihn zur Rede stellen konnten, hat er sich allerdings in die Büsche geschlagen.
Kurz zuvor hat uns ein merkwürdiger Vogel angequietscht und ist uns danach für einige Schritte gefolgt. Hab ihn fotografiert und dann zu Hause nachgeschlagen. Es handelt sich um einen „Killdeer“. Das ist angesichts unserer Hirschbegegnung nicht nur ein merkwürdiger Zufall, sondern auch ein Name mit Schmackes. Im Deutschen heißt der Vogel Keilschwanz-Regenpfeifer. Tja.
Ansonsten musste ich der Zeitung entnehmen, dass in den vergangenen Tagen mehrere Michiganders unabhängig voneinander beim Angeln ertrunken sind. Die Berichte darüber klingen rätselhaft. Man macht sich seine Gedanken über all das.
Es gibt Wörter, die man im US-Fernsehen nie zu hören kriegt. Sie werden vermieden oder mit Hupgeräuschen überblendet. Das hat mich erst genervt und dann sehr interessiert. Dass man hier – im Land der Redefreiheit – für schmutzige Sprache verknackt werden kann, ist nicht neu. Angeblich mussten die Macher von „Vom Winde verweht“ schon in den 1930ern Kohle abdrücken, weil Rhett Butler am Ende sagt: „Ehrlich gesagt, meine Liebe, das ist mir egal.“ („I don’t give a damn“). Verrückt, oder?
Wie häufig kommen diese Wörter in Büchern vor? Und wann wurden sie so beliebt, dass man sie unter Strafen stellen musste? Zum Glück hat Google für solche Fragen eine Maschine im Angebot, den Google Ngram Viewer, ein Tool von unschätzbarem Wert, das ich allen Wortsuchern und Begriffspfadfindern ans Herz legen möchte. Der Ngram Viewer zeigt, dass shit und fuck viel beliebter sind als die anderen schmutzigen Wörter. Die meisten Leute hier empfinden andere Wörter aber als beleidigender. In den USA und Großbritannien führen diesbezüglich motherfucker und cunt. Interessant finde ich: Anfangs der 1970er, als Carlin seine Analyse auf die Bühne brachte, war in Sachen Schimpfe noch praktisch gar nix los in Amerika.
All das hat mich zu einiger Lektüre verführt. So habe ich dieser Tage aus dem Buch „What the F“ des Linguisten Benjamin K. Bergen erfahren, dass schmutzige Wörter und Tabuwörter in praktisch allen Sprachen aus vier Bedeutungsbereichen stammen. Dem Heiligen, dem Sexuellen, den menschlichen Körperfunktionen und den Beleidigungen. „I hereby propose we call it the Holy, Fucking, Shit, Nigger Principle“, schreibt Bergen. Das N-Wort habe ich dann auch mal abgefragt; hat ne ganz andere Kurve, weil halt – logisch – auch ne andere Geschichte. Das gilt in anderem Ausmaß natürlich auch für cock. Bergen hat dazu ein eigenes Kapitel geschrieben: „Wie der Hahn seine Federn verloren hat“. Ich habe also cock und das N-Wort nochmal gegen shit laufen lassen. Das N-Wort zeige ich unten nicht. Es handelt sich TATSÄCHLICH um ein Tabu-Wort. Nicki macht sich Sorgen und möchte es nicht in der Grafik sehen. Also werde ich die Kurve hier lediglich beschreiben: So richtig modern wurde das N-Wort erst um 1860, also während des Bürgerkriegs. Hm. Wusste ich nicht. Redet man über Begriffe erst dann, wenn man anfängt, sich über sie zu streiten? Jedenfalls: Die shit-Kurve quert von unten sowohl die N-Wort-Kurve als auch die cock-Kurve so etwa um das Jahr 1980. That’s the year when shit hit the fan!
All das hat bei uns im Haus jedenfalls zu weiteren Diskussionen geführt. Was ist mit anderen Bezeichnungen für unsere primären Geschlechtsorgane? Wie häufig wurde wann darüber geschrieben? Gute Frage. Also haben wir wieder den „Google Ngram Viewer“ angeschmissen – und zwei möglichst neutrale, sozusagen wörterbuchtaugliche Begriffe abgefragt: vagina und penis. Und da sieht man dann doch Erstaunliches:
Das 19. Jahrhundert muss völlig versessen auf den weiblichen Unterleib gewesen sein. Spätestens ab dem 2. Weltkrieg war’s damit aber vorbei. Bestimmt ist das alles gut erforscht. Das muss ich mir in den nächsten Tagen mal genauer anschauen. Oder auch nicht. Trotzdem: interessant.
Neulich hab ich gehört, dass Louis C.K. ein neues Special veröffentlicht hat. Ich war lange Fan von ihm und verdanke ihm viele gute Abende. Eine meiner Lieblingsnummern aus seinem Oeuvre handelt davon, dass Gott eines Tages auf die Erde zurückkommt und sich das Schlamassel anguckt und sagt (natürlich als George-Carlin-Referenz): „What the fuck did you do? I gave this to you, motherfucker! Are you crazy? The polar bears are brown … what did you … WHAT DID YOU DO TO THE POLAR BEARS? Did you shit all over every polar bear? Who spilled this shit?“ Ich werde diese Passage nicht übersetzen – schon um die Nerven meiner guten Mutter zu schonen, die es nicht mag, wenn ich mich obszöner Begriffe bediene. Louis hat uns mit diesem Stück durch die Blume gesagt: Ja, die FCC verbietet diese Sprache. Aber eines Tages werdet Ihr merken, dass Gott selbst genau so redet. Ihr Heuchler. Wir wissen nicht, ob das stimmt. Aber es ist zumindest mal ne Arbeitshypothese.
Ich hab dann dieser Tage auf Louis C.K.s Website 7,99$ bezahlt und sein neues Special gekauft. Ich wollte sehen, wie’s ihm geht. Nun ja. Er ist auf ne Art noch immer derselbe. Aber kaputter. Er hat über Jahre auf der Bühne all die Dinge gemacht, die verboten waren. Alle Tabuwörter – er hat sie uns um die Ohren gehauen. Und ist damit durchgekommen. Irgendwann aber haben Leute öffentlich erzählt, was „sein Ding ist“. Was ihn antörnt. Es war nicht nur ekelhaft, sondern auch … tja … halt gar nicht okay. Der zentrale Satz seines Specials lautet: „You are so fucking lucky, that I don’t know what your thing is.“ Und dann erzählt er, wie er in Italien in dieses Flugzeug steigt und ein kleiner Junge auf ihn zeigt und sagt: „Mama, da hinten ist der Typ, der sich vor den Leuten einen runtergeholt hat.“
Ich erinnere mich an einen Auftritt von Louis C.K. bei Letterman (bei dem tatsächlich auch mehrere Bleep Censors zu hören sind, etwa bei 3:56) . Letterman beglückwünscht ihn zu seinem Erfolg und Louis winkt ab und sagt sinngemäß: Ein mittelgroßer Erfolg ist das Beste, was Dir passieren kann. Denn je mehr Leute Dich kennen, desto mehr Leute werden Dich hassen. Ist einfach Mathe.
Er hat’s irgendwie kommen sehen.
Der Mann tut mir sehr leid. Die Welt ist ein Dorf geworden. Und er kann sich nirgendwo verstecken.
Wir sind – endlich – wieder zurück in Nickis Haus. Es liegt in den Außenbezirken von Ann Arbor an der Grenze zum „Bird Hills Park“, also direkt am Waldrand. Das Leben hier draußen verläuft ganz anders als im Stadtzentrum. Man steht plötzlich vor neuen Herausforderungen.
Zum Beispiel heute Morgen. Wir schauen in den Garten und sehen folgende Sauerei: Irgendwer hat den roten Schaumstoffball in einer Orgie der Zerstörung in Fetzen gerissen.
Wer zum Teufel macht so was? Haben wir es mit einem Einzeltäter zu tun? Wie steht es um die Psychologie dieses Verbrechens? Welches Motiv steckt dahinter? Mein Assistent „Dr.“ Kai „Watson“ und ich besehen uns zunächst den Tatort.
An der Verteilung der Schaum-Fragmente erkennen wir schnell, dass der Täter sich ausgesprochen sicher gefühlt haben muss. Das Massaker hat sich über viele Minuten, vielleicht sogar Stunden hingezogen. Kein Zweifel: Hier handelt es sich nicht um den hastig ausgeführten „Hit and Run“ eines Ängstlichen!
Wer ist zu einer solchen Tat fähig? Wir erstellen eine Liste der Verdächtigen. Sicher: Vor wenigen Tagen ist ein Kojote über den Rasen gerannt. Ab und zu verirrt sich ein Kaninchen auf das Grundstück. Auch Waldmurmeltier, Fuchs, Stinktier und Opossum haben wir hier schon gesehen (und gerochen). Doch das sind seltene Gäste. Durchzügler, denen wir einen solch kaltblütigen Coup kaum zutrauen. Es muss sich um jemanden handeln, der mit den Örtlichkeiten aufs Beste vertraut ist.
Und da fällt der erste Verdacht natürlich auf Coco, die Schäferhündin. Sie kann Bälle übel misshandeln. Das haben wir alle schon gesehen. Stärke? Energie? Beißkraft? Check! Allerdings hat sie für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi. Und ihr Gesichtsausdruck spiegelt Ahnungslosigkeit und Unschuld.
Gehen wir also weiter zu Theo, dem Kater. Es ist klein von Gestalt, aber ausgesprochen flink und ein „trouble maker“. Doch auch er befand sich zur Tatzeit im Haus.
Also legen wir uns auf die Lauer und observieren das Gelände. Das schlechte Gewissen wird den Täter bestimmt an den Ort der Tat zurücktreiben. Und tatsächlich! Schon bald stellen sich die üblichen Verdächtigen ein. Da ist zum einen Chipmunk, das Streifenhörnchen. Wir fotografieren ihn mit dem Smartphone durch den Feldstecher. Chipmunk legt Wert auf eine gute Tarnung, weshalb ich seinen Aufenthaltsort mit einem Pfeil kennzeichne.
Und dann sind da natürlich die drei Eichhörnchen. Besonders übel ist uns dieser Tage das Verhalten von „Darth Vader“ aufgestoßen, dem dunklen Lord unter den Nagern. Er schikaniert die anderen, wo er nur kann. Die Tat ist ihm unbedingt zuzutrauen!
An seiner Seite entdeckten wir „Obi-Wan“, der in seinem grauen Fell eine Respektsperson zu sein scheint. Verfügt er über Kräfte, von denen wir nichts ahnen? Was hat er zu verbergen?
Die Nummer Drei unter den Eichhörnern agiert so unauffällig, dass wir noch nicht einmal einen Namen in unseren Akten finden. Hm. Da scheint jemand permanent „under the radar“ zu fliegen. Verdächtig!
Doch leider erkennen wir bei keinem der Kandidaten ein verräterisches Zeichen. Zu dumm! Also machen wir es wie Sherlock Holmes und Dr. Watson: Wir nehmen noch einmal den Tatort unter die Lupe. Vielleicht entdecken wir ja etwas, das uns beim ersten Mal entgangen ist. Und wirklich: Am Ball und einigen Fetzen zeigen sich verdächtige Bissspuren.
Zwischen den Fetzen hat der Täter außerdem seine Losung hinterlassen. Ganz so kaltblütig kann er nicht gewesen sein: Er hat unterwegs buchstäblich Schiss gekriegt!
Die Kügelchen sind nicht der einzige Auswurf. Offenbar hat der Täter Teile des Balles gefressen und sich bald danach übergeben. Ja, ja, Verbrechen lohnt sich nicht – es schlägt einem vielmehr auf den Magen!
Ein Glück, dass es Google gibt! Kai und ich vergleichen die gefundenen Spuren mit dem Wissen des Internets – und reimen uns Stück für Stück eine Antwort zusammen. Und die geht so: Ein Hirsch hat den Ball für einen Kürbis gehalten und sich ein vermeintliches Abendessen gegönnt. Fall gelöst!
Wenige Stunden später schauen wir aus dem Fenster und trauen unseren Augen kaum. Wer steht da unter den Bäumen und tut, als wär nix? Ziemlich dreist, wenn Ihr mich fragt. Aber immerhin: Gut zu sehen, dass der Hirsch wohlauf ist.
Mal sehen, was der Schlingel als nächstes ausfrisst. Das Wochenende kann kommen!
Vorhin hab ich ne Geschichte in der Zeitung gelesen, die mal wieder zu gut ist, um sie nicht aufzuschreiben.
Im Norden von Michigan ist nicht besonders viel los. Ich war ein paar Mal da oben. Man sieht viele Seen, Wald, Wiesen, ab uns zu mal ein Haus. Die Landschaft hat mich ein bisschen ans südliche Schweden oder ein paar Gegenden von Norwegen erinnert.
Dort oben liegt jedenfalls ein Dorf namens Interlochen, das früher mal Interlaken hieß. Der Name bedeutet in Michigan wie in der Schweiz „zwischen den Seen“. Ein Bürger dieses Dorfes, in den Worten der Zeitung ein „verwirrter 60-jähriger Mann“, ist vor acht Tagen über die Landstraße gefahren und hat – ganz wörtlich – Geld ausm Fenster rausgeschmissen. Genaue Summen nennen die Kollegen nicht, aber es muss ne Menge Kohle gewesen sein.
Man kennt solche Szenen aus Filmen. Alle drehen dann durch und versuchen, so viel Geld wie möglich zusammenzuraffen. „Amerika!“, denkt man dann. Manchmal auch: „Menschen!“
Wenn man dem Bericht der Zeitung glauben darf, ist aber was ganz anderes passiert. Die Leute haben die Scheine eingesammelt und brav bei der Polizei, der Feuerwehr und der Gemeindeverwaltung abgegeben.
Angeblich fehlen noch 500 Dollar der verstreuten Summe. Die Zeitung hat die Telefonnummer der örtlichen Polizeiwache aufgeschrieben, falls der Finder doch noch ein schlechtes Gewissen kriegen sollte.
Ich weiß: Wir haben immer noch Pandemie und alles. Aber kleine Geschichten wie diese machen wir dann doch gute Laune.
Und klar: Der Typ auf dem Bild oben bin ich. Weder 60 noch „confused“. Zumindest: nach allem, was ich weiß.
Wieder eine Geschichte über Dieter Blau, die in meiner alten Heimat in Baden spielt. Wenn man von Graben nach Liedolsheim fährt, dann sieht man irgendwann links den Sportplatz des CVJM. Er liegt genau am Übergang vom sandigen Hochgestade zum schwarzerdigen Tiefgestade. Vom Hang her wird das Areal durch eine Art Geländer begrenzt. Und wenn man sich dessen Stützen ansieht, dann denkt man: hm! Das sind nämlich sehr massige Sandsteine mit einem Loch im oberen Drittel. Die Dinger sind für ihren Job deutlich überqualifiziert. Warum stehen die da?
Das Bild oben hat mir meine Mutter geschickt (tausend Dank!). Dieter Blau, an den ich dieser Tage viel denken muss, hat einen dieser Brocken oft den „Karl-August-Stein“ genannt. Und das kam so.
Es war Sommer. Unsere Eltern befanden sich auf einer Lustreise, weshalb meine seligen Großeltern für uns zuständig waren. Sie wohnten auf dem Nachbargrundstück; wir gingen einfach durch den Garten und dann gab’s dort immer ein tüchtiges Mittagessen. Meine Oma Martha konnte gut kochen.
An diesem Tag hatte Dieter meinen Bruder Martin und mich einbestellt – „für eine Sklavenarbeit“, wie er meinte. Also kletterten wir und ein paar andere Jungs in Dieters VW-Bus und dann ging’s los. In der Nähe von Rheinsheim bogen wir von der Straße ab in einen ziemlich verwachsenen Weg. Dort begann, überwuchert von Bäumen, Büschen und sonstigem Grünzeug, die Rampe für eine große Brücke, die ich noch nie gesehen hatte.
Heute weiß ich, dass es sich dabei um die alte Eisenbahnbrücke hinüber nach Germersheim handelte. Das Ding stammt aus dem Jahr 1877 und trägt alle Merkmale der damaligen Zeit. Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich war einfach zu viel Geld in der deutschen Staatskasse, und das hat man dann mit beiden Händen ausgegeben. Alles fiel damals eine Nummer zu groß aus. Da machte auch das Geländer am Streckenrand keine Ausnahme. Und auch nicht die massigen Sandsteine, die es stützten. 1945 hat man die Brücke dann gesprengt, weil die eigenen Soldaten gerade den Fluss überquert hatten und man nicht wollte, dass die Leute, die in der anderen Mannschaft spielten, genau so bequem über den Rhein kommen konnten.
Rund eine Woche später sind sie dann doch über den Rhein gekommen, aber das ist eine andere Geschichte, die ich anderswo beschrieben habe.
Als wir schon ein gutes Stück in die grüne Wildnis gegangen waren, sahen wir, wovon Dieter gesprochen hatte. Da lag ein sehr großer Sandstein. Jemand (vermutlich Dieter) musste ihn an den Tagen zuvor ausgebuddelt haben. Am oberen Ende des Sandsteins befand sich ein Loch. Durch das führten wir die Seile, dann legten wir die Rundhölzer auf die Erde und zogen den schweren Brocken darauf Zentimeter für Zentimeter in Richtung VW-Bus. „So hat man das in Ägypten auch gemacht“, sagte Dieter. Das hat uns sofort eingeleuchtet.
Jedes Holz, über das der Steinriese hinweggeruckelt war, musste natürlich herausgezogen und dann wieder vor den Stein gelegt werden. Ich weiß noch, wie wir uns abgemüht haben und ich dabei dachte: „Das wird nie was.“ So ging das über Stunden. Heute muss ich mich darüber wundern, dass Dieter mich überhaupt mitgenommen hat, denn ich war weder groß noch stark und für die Aufgabe kaum zu gebrauchen. Vermutlich hat man mir die Sache mit den Rundhölzern überlassen, weil das nicht so schwer war. Aber das weiß ich nicht mehr so genau.
Dass wir den Stein tatsächlich an und schließlich auch IN den Wagen gebracht haben, dass er dabei niemandem eine Hand oder einen Fuß plattgemacht hat, dass die Achsen und der Boden von Dieters VW-Bus den Transport schadlos überstanden haben – all das kommt mir heute wie purer Irrsinn vor. Was haben wir Glück gehabt!
Naja. Dann sind wir jedenfalls direkt zum CVJM-Sportplatz gefahren, haben da an der Böschung ein Loch gebuddelt, den Stein reinstellt, den Rest des Loches mit Erde aufgefüllt und alles ordentlich festgetrampelt. Kann auch sein, dass das Loch schon vorher da war. Fertig war jedenfalls die Sklavenarbeit. (Nachtrag: Mein Bruder sagt, dass wir den Stein an diesem Abend unten am Sportplatz einfach mitten in den Weg gepflanzt haben; und das stimmt. Der Stein hat am Anfang in erster Linie genervt und besaß ansonsten keinerlei Funktion.)
Ich erinnere mich noch, wie wir nach Hause kamen, es war nach 22 Uhr und natürlich schon dunkel. Wir hatten Übermenschliches geleistet und erwarteten, von unseren Großeltern entsprechend gepriesen zu werden. Kam natürlich anders. Opa Karl (laut Taufschein: Karl August) war stinksauer, Oma Martha voller Sorge.
Und weil Dieter Blau unseren Großvater kannte und wusste, dass er ein rauher Knochen war wie er selbst, hat er meinem Bruder Martin und mir gegenüber noch lange seine Späße über diesen Tag gemacht und den Stein scherzhaft den „Karl-August-Stein“ genannt.
Das war eine richtige Dieter-Aktion. Sie sah aus wie Wahnsinn, doch sie hatte Methode und war Teil eines ausgeklügelten Plans. Dieter wollte alle davon überzeugen, dass die vergessenen Steine von der alten Rheinbrücke unbedingt eine neue Heimat brauchten – und unser Sportplatz unbedingt ein neues Gelände. Und genau so ist es am Ende gekommen. Es hat davor und danach viele andere seiner „Arbeitseinsätze“ auf dem Sportplatz gegeben. Das hier aber war – zumindest für mich – der krasseste von allen. Das Geländer steht jedenfalls noch heute. Und mein Bruder, ich und die anderen, die dabei waren, haben spätestens an diesem Tag gelernt, dass es schwer in Ordnung ist, sich für etwas anzustrengen, das bleibt. Selbst (oder erst recht), wenn’s für andere bleibt und nicht nur für einen selbst.
Ishi hat mir nach meinem Eintrag über Dieter Blau von vor drei Tagen ein paar Bilder geschickt. Eins davon möchte ich hochladen. Es zeigt Dieter mit meiner Schwester Heike am Rhein bei einer „Trapperprüfung“. Beide sehen glücklich aus und genau das will ich heute nochmal festhalten. Es ist für niemanden einfach, die Kindheit zu verlassen und ein Teenager zu werden. Das Kind, das man war, muss sterben, um Platz zu machen für das, was kommt. Jeder durchlebt dabei seine eigene Heldenreise – ohne Schrecken läuft das selten ab. Dieses Foto hier erzählt von den guten Tagen: Meine große kleine Schwester lächelt, Dieter Blau trägt ein Outfit, das deutlich modischer ausfällt an in meiner Erinnerung.
In den vergangenen Tagen haben ziemlich viele Leute geschrieben oder angerufen und dann haben wir alte Geschichte ausgetauscht. Ein paar davon will ich aufschreiben: eine kleine Sammlung von „Dieterismen“. Es gab viele davon. Ich möchte mich auf die Guten und Verrückten beschränken.
Jemandem einen Daumen geben. Die Amerikaner geben einander „High Five“, wenn jemand etwas gut gemacht hat. Dieter hat in solchen Fällen gesagt: „Komm her, Du bekommst einen Daumen.“ Dann musste man seinen Daumen ausstrecken, er hat seinen Daumen auch ausgestreckt und dann hat man die Innenflächen der Daumen aneinander gedrückt und die Hand um 180 Grad im Uhrzeigersinn gedreht mit dem Daumenkontakt als Achse. Zumindest ist es das, woran ich mich erinnere. War keine seiner maximal erfolgreichen Ideen, aber er hat das über Jahre durchgezogen. Er wusste: Auch ein schlechter Gag wird gut, wenn man ihn oft genug wiederholt. Das hab ich mir gemerkt und bis heute oft beherzigt.
Den VW-Bus umrunden. Wenn wir an einer roten Ampel anhalten mussten, hat jemand die Schiebetür aufgerissen und dann sind alle um den VW-Bus herumgerannt und wieder eingestiegen – meist waren wir schnell genug, um es bis zur nächsten Grünphase zu schaffen. Wer Zeuge wurde, hat sich in der Regel gefreut. Das haben wir noch über Jahre so gemacht, auch als wir längst nicht mehr in Dieters Gruppe waren.
Den Brotlaib längs aufschneiden. Zu Ostern sind wir immer mit vielen Leuten in den Wald gegangen (in den „Kammerforst“, den einzigen Wald um unser Dorf, der nicht der Gemeinde gehört) und haben Lachsbrote gegessen. Ich weiß noch, wie Dieter uns angewiesen hat, Brotscheiben von den langen Zweipfünder-Laiben zu schneiden. Natürlich haben wir das Messer quer über das Brot gelegt. Dieter meinte dann: „Ihr wisst wohl nicht, wie man Brot schneidet!“ Dann hat er den Brotlaib gedreht und ihn längs aufgeschnitten. Das waren sehr lange Scheiben. Dann: Butter, Räucherlachs und jede Menge Zwiebelringe. Das gab’s dann jedes Jahr zu Ostern. War nicht leicht zu essen, aber unverwechselbar.
Die „Enten“. Das Foto mit meiner Schwester ist der Beweis: Irgendwann haben die Jungs gemeinsame Veranstaltungen mit den Mädchen unternommen. In Dieters Sprache waren die Mädchen „die Enten“. Aus heutiger Sicht scheint mir die Bezeichnung nicht mehr politisch korrekt zu sein. Es hat die Sache damals aber leichter gemacht und uns über die erste Peinlichkeit hinweggeholfen. Zumindest für uns Jungs. Für die Mädchen vielleicht auch? Ich weiß es nicht.
Lahme Lieder in großartige Lieder verwandeln. In der „Jungschar“, der Kindergruppe des CVJM, haben wir immer viel gesungen, vor allem Lieder aus der Mundorgel. Was bei Dieter besonders war: Er hat uns manchmal die lahmsten Lieder singen lassen und sie so lange zu Meisterwerken erklärt, bis wir’s geglaubt haben. Mein Bruder Martin hat den größten dieser Hits vor ein paar Tagen aufgenommen und auf Youtube hochgeladen. Ich konnte noch jedes Wort mitsingen nach all den Jahren. Das war schön.
Eine Art Uniform erfinden. Meine Schwester Heike trägt auf dem Bild oben einen ungewöhnlichen Pullover. Er war blau mit einem sehr groß aufgebügelten CVJM-Logo. Für die meisten, die bei Dieter in der Gruppe waren, galt es sozusagen als Pflichtübung, das Ding zu erwerben und regelmäßig anzuziehen. Die meisten von uns haben das auch gemacht. Ich weiß noch, wie jemand uns mal als „Uniformierte“ bezeichnet hat. Hab ich damals nicht verstanden, stimmte natürlich trotzdem. Der Pullover hat so ziemlich alle Funktionen einer Uniform erfüllt: Gruppenzusammenhalt; das Gefühl, nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen zu stehen (und sich deshalb einigermaßen benehmen zu müssen); Werbung nach außen. Dieter Blau hat da viel von den Pfadfindern gelernt, denen wir in vieler Hinsicht ähnlich waren.
Das Plumpsklo im Brennnesselwald. Anfang der 1980er Jahre sind wir auf eine Freizeit in die Lüneburger Heide gefahren. Wir haben da 14 Tage lang gezeltet auf einem von mehr als zwei Meter hohen Brennnesseln bewachsenen Grünstreifen längs eines Feldwegs. Ich glaube nicht, dass Dieter wusste, wem das Gelände gehört und er hat auch ganz sicher keinen um Erlaubnis gefragt. Er ist einfach aus seinem VW-Bus gestiegen und hat gesagt: Hier bleiben wir. Dann hat er jedem eine Sichel in die Hand gedrückt, wir haben die Brennneseln geschnitten und unsere Zelte aufgebaut. Dann haben wir in den verbliebenen Brennnesselwald einen schmalen, gewundenen Pfad geschlagen, irgendwann eine Lichtung gemacht, eine Grube ausgehoben und aus Holz ein Plumpsklo darübergestellt. Am Anfang des Pfades stand eine Stange mit Wimpel. Wer auf die Toilette musste, hat die Fahne mit auf die Lichtung genommen. „Keine Fahne“ hieß: besetzt. Die meisten haben die Fahne am Ende wieder zurück an ihren Platz gestellt.
Geschichten erzählen und sich dabei selbst überraschen. Dieter hat – als Programmpunkt in den Jungscharstunden – sehr gerne Geschichten erzählt. Manche waren geplant oder sogar vorgelesen. Aber das war eigentlich nicht so sein Ding. Viele Geschichten waren komplett improvisiert. Dieter wusste selbst nicht, was den Helden als nächstes widerfahren würde. Die dramatischen Effekt waren meist extrem. Dieter fuchtelte dann mit den Armen, er rief und schrie die Dialoge durch den Raum. Das war große Kunst – zumindest, wenn er in Form war.
Die Schlitten am VW-Bus. Im Winter, wenn Schnee lag, haben alle ihre Schlitten zur Jungscharstunde mitgebracht. Wir haben dann mit Stricken einen Schlitten an den anderen gebunden – und den vordersten Schlitten an die Anhängerkupplung von Dieters VW-Bus. Und dann ging’s ab durch die Nacht. Natürlich fuhr er dauernd Schlangenlinie, um den Spaß zu erhöhen. Ich meine mich zu erinnern, dass der Wagen einmal nach einer besonders gewagten Wendung auf zwei Rädern fuhr. Vielleicht eine falsche Erinnerung. Davon haben wir alle eine Menge.
„Mit einem Bein im Gefängnis.“ Dieter Blau hat sehr oft gesagt: „Wenn du eine Jungschargruppe leitest, dann stehst du mit einem Bein im Gefängnis.“ So, wie er die Gruppe geleitet hat, war der Satz ganz sicher korrekt.
Am Barton Dam liefert der Huronenfluss angeblich 4,2 Mio. Kilowattstunden pro Jahr. Das Gebäude ist schon mehr als hundert Jahre alt.
Auf die Sauberkeit des Wassers waren sie hier immer mächtig stolz. Vor einiger Zeit hat man dann aber in einem Fisch eine hohe Dosis an perfluorierten Tensiden gefunden. Das sind Chemikalien, die zum Beispiel im Löschschaum der Feuerwehr vorkommen. Wenn’s brennt, sind sie ein Segen. Im Wasser sind sie ein Fluch, weil’s halt ewig dauert, bis sie sich wieder abbauen. „PFAS„, die „per- and polyfluoroalkyl substances“ sind seither ein großes Thema in Ann Arbor. Irgendwann will ich mal ne längere Geschichte darüber machen. Das Thema ist wirklich aufregend und – leider – von globaler Relevanz. Überall am Fluss stehen jetzt jedenfalls Schilder in fünf Sprachen, die auf die Chemie im Wasser aufmerksam machen.
Fünf Sprachen! Man könnte also denken: Aha, Diversität! Und auf ne Art stimmt das natürlich auch. Hier wohnen Leute aus der ganzen Welt. Auf ne andere Art stimmt es aber überhaupt nicht. Heute war der Bürgermeister live auf Facebook (zwischenzeitlich haben außer uns noch 57 andere Leute zugeguckt). Dabei hab ich erfahren, dass die Metroploregion Ann Arbor auf Platz acht innerhalb der USA liegt, was soziale Ungleichheit angeht. Kurz gesagt: Hier in der Stadt wohnen die Wohlhabenden und die Gebildeten. Alle anderen wohnen woanders. Sie können sich Ann Arbor nicht leisten.
Und das bringt mich zwanglos zu den Protesten in Lansing und überhaupt zum Widerstand gegen die „Durchführungsverordnung„, mit der die Gouverneurin hier die Coronakrise zu bewältigen sucht. Die mit Abstand meisten Kranken gibt’s in den Städten. Vor allem im Großraum Detroit (88 Prozent aller Fälle). Es läuft also wie überall auf der Welt. Warum also kann man in den dünner besiedelten Gebieten die Läden und Schulen nicht einfach wieder öffnen? So fordern es die Republikaner im hiesigen Landesparlament von Michigan.
Die Leute in den eher ländlichen Gebieten haben das Gefühl, für die Städter die Zeche zahlen zu müssen.
Stadt und Land. Arm und reich. In der Schule aufgepasst oder in der Schule nicht aufgepasst (und sich die Schule überhaupt leisten können oder nicht). Das sind lauter Dinge, die einen in eine Schublade bringen. Ich weiß: Es ist ein Klischee. Aber hier in den Staaten, auch hier in Michigan, sind diese Unterschiede viel, viel größer und viel krasser als in Deutschland. Man kann sich das nicht richtig vorstellen. Die Leute hier leben nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, aber nicht mehr in derselben Welt. Sie liegen nicht auf derselben Wellenlänge.
Keine Ahnung, wie man das wieder ändern kann. Viele denken aus deutscher Sicht, dass die Amerikaner einen an der Waffel haben. Ich hingegen hab noch nie so viele schlaue Menschen auf einem Haufen gesehen wie hier. Aber anderswo in diesem Land, da wär das ganz sicher anders.
Wir waren gestern einkaufen. Mal wieder das große Programm. Für sowas geht man am besten zu Costco, dem amerikanischen Kaufrausch-Irrenhaus. Alles kommt hier in riesigen Portionen. Das Foto oben zeigt zum Beispiel: Fleisch. Kein Witz. Man kauft gleich das komplette Schaf.
Dabei sind mir mal wieder mehrere Sachen aufgefallen. Zum einen die Markierungen auf dem Boden für die Leute, die vor den Toren auf Einlass warten. Die Verhaltensökonomen nennen so etwas einen „Nudge“, einen „Stupser“. Man gibt den Leuten ein schlichtes Feedback. In diesem Fall auf die Frage: „Wie viel sind eigentlich sechs Fuß?“ Und siehe da: Alle stehen brav auf dem Kreuz. Funktioniert hier so gut wie in Deutschland.
Beim Schlangestehen hatte ich Zeit, mir das Verhalten der anderen anzusehen. Und zu zählen. Ich zähle eigentlich immer. Bei Costco haben 88 Prozent der Kunden Masken getragen. Sehr viele also. Bine hat mir heute erzählt, dass es in Hamburg deutlich weniger sind. Warum funktionieren manche Sachen überall gleich (auf den Kreuzmarkierungen stehen) und andere anders (Masken)? Dazu später mehr.
Als wir dann jedenfalls endlich drin waren in dem Laden, hat mich etwas überkommen, das ich lange nicht erlebt habe. Da war auf einmal ein Kribbeln, das durch den ganzen Körper lief, hoch und runter in angenehm warmen Wellen. Dabei war mir, als würde ein Engelchen (oder Teufelchen?) auf meiner Schulter sitzen und mir zuflüstern: DU MUSST DAS ALLES KAUFEN!!!! Da waren Rasierklingen (Packungen, die bis ans Grab reichen würden), Schlauchboote, Zelte, riesige Akkuladesets, Flachbildfernseher, Überwachungskameras. Ich wollte das alles haben! Vielleicht ist es wirklich so, wie Dirk gestern meinte, als wir mal wieder länger per Zoom gesprochen haben: Wir werden eine Menge Konsum nachholen, wenn das hier alles vorbei ist. Es wird aus dem Bauch kommen und sich – leider – warm und wohlig anfühlen.
Tatsächlich erworben haben wir von all dem Kram natürlich gar nichts, sondern nur die wichtigsten Grundnahrungsmittel. Gehört sich so. Entsprechend am Abend Spätzle gemacht. Die Maschine packe ich mir immer in den Koffer, wenn ich rüberfliege. Hilft gegen Heimweh.
Ansonsten gab’s in Michigan letzthin drei Dinge, die ich bemerkenswert fand.
In der Staatshauptstadt Lansing gab’s ne Demo. Die Leute haben gegen die Stay-at-home Order protestiert. Sie wollen auf den Golfplatz. Oder zur Arbeit. Die Bevormundung stinkt ihnen. Mein erster Gedanke: Was für Deppen! Dann hab ich im Radio ein paar Interviews gehört. Ein Mann sagt: „Ich bin systemrelevant! Weil ich Geld für meine Familie verdienen muss. Brot auf den Tisch für meine Kinder. DAS ist systemrelevant.“ Da hab ich immer noch gedacht: Was für Deppen! Später hab ich meine Meinung dann aber geändert. Dazu gleich mehr.
Heute hat’s fast den ganzen Tag geschneit. Ann Arbor liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Florenz. Aber die Winter hier sind ein Biest. Findet auch Coco.
Jetzt noch ne Runde Klugscheißerei. Nicki und ich haben uns heute ne Live-Vorlesung per Zoom angehört. Es ging um die Frage, wie Viren, Informationen und Verhaltensweisen durch soziale Netzwerke wandern. Soziale Netzwerke, damit meint man nicht Facebook oder Twitter, sondern das Geflecht von Beziehungen, in denen Menschen leben. Jedenfalls weiß man schon länger, dass Informationen sich in diesen Netzwerken tatsächlich verbreiten wie Viren. Eigentlich klar: Ein Typ, der neben einem im Chor singt, hat Corona. Nach der Probe hat man’s dann selber. Ein Kontakt genügt. Danach trägt man das Virus weiter.
Genauso Informationen: Man liest einmal von einer Sache – danach weiß man’s. Man sagt es weiter – dann weiß es der andere. Ganz einfach im Grunde.
Der Prof, den wir uns angehört haben, sagt: Verhaltensweisen reisen vollkommen anders durch die Netzwerke als Viren oder Informationen. Zum Beispiel das Verhalten, beim Einkaufen eine Maske zu tragen. Das macht man nicht nach, weil man’s einmal gesehen hat. Das tut man erst, wenn viele das tun. Die Maske wird dann irgendwann zur sozialen Norm, also zu dem, was sich gehört. Dafür braucht man eine kritische Masse. Verhalten scheint wie eine komplizierte Melodie zu sein, die man oft von vielen hören muss, ehe man sie nachpfeift.
Eine andere Professorin hat bei der Vorlesung gesagt: Wenn Leute eine eigentlich vernünftige neue Verhaltensweise nicht annehmen, dann liegt’s meist nicht an ihrer Angst, nicht daran, dass sie in der Stadt oder auf dem Land wohnen, nicht daran, dass sie dumm sind oder arrogant. Meist liegt es daran, dass die neue Regel einer anderen, älteren sozialen Norm widerspricht. Also dem, was sich gehört.
Es gehört sich, seine Familie zu ernähren. Daran gibt’s erstmal nichts auszusetzen.
Das hat mir eingeleuchtet und ich hab mich innerlich bei dem Demonstranten entschuldigt, den ich im Radio gehört habe.
Manche Leute machen Dinge anders als wir. Sie sind nicht unserer Meinung. Aber vielleicht steht hinter dem, was sie von uns trennt, eine soziale Norm, eine Überzeugung, die wir im Grunde mit ihnen teilen.
Genau an der Stelle kann man dann anfangen, miteinander zu reden.
Klingt vielleicht zu optimistisch. Aber ich probier das für die nächsten Tage mal aus, so als Arbeitshypothese. Und blicke derweil grimmig drein wie ein Postkutschenräuber.
Es war kalt, wie meist an den Faschingstagen. Wir stiegen, sechs oder sieben Jungs, in den alten, orangefarbenen VW-Bus. Vorher hatten wir Beile, Äxte, Sägen und Dieters neuen Spalthammer auf die Ladefläche gepackt. Und einen Topf. (Nachtrag: Ich hab jetzt dankenswerterweise von Jörg ein paar Bilder von damals bekommen und muss zwei Dinge korrigieren. Erstens: Dieters VW-Bus war natürlich weiß; der orangefarbene VW-Bus gehörte Hartmut; zweitens: auf einem der Bilder sieht man Räder im Hintergrund; sind wir bei diesem „Trappertag 0“ mit den Rädern an den Rhein gefahren?; vermutlich; eines der Räder sieht verdächtig nach meinem Rad aus; alles vergessen. Ich war damals elf Jahre alt).
Dann fuhren wir an den Rhein. Dort, wo der Weg den Hochwasserdamm quert, steht links ein altes Fachwerkhaus. Eine Gastwirtschaft, in die ich, wenn ich so drüber nachdenke, nie einen Fuß gesetzt habe.
Früher stand hier ein ganzes Dorf. Die Leute hatten ihre Äcker, ihre Wiesen, sie fingen Fische im Fluss. Wenn man den alten Berichten traut, dann ging’s denen sehr gut und sie haben immer tüchtig gefeiert. Aber dann kam jemand auf die Idee, den Fluss zu begradigen (wegen der Wirtschaft und so) und auf einmal lagen die meisten Äcker und Wiesen auf der anderen Seite des Flusses und die Dörfler wohnten plötzlich in einem anderen Land. Alle paar Jahre passierte dann ein anderer Mist und irgendwann haben sie das Dorf einfach aufgegeben. Ist ne andere Geschichte. Ich wollte schon immer mal drüber schreiben und eines Tages mach ich das auch.
Jedenfalls führte der Rhein an diesem Tag wenig Wasser, so dass die Kiesbank kurz vor Flusskilometer 379 bis fast zur Fahrrinne trocken lag. Die Kiesel da sind die besten, die man sich denken kann. Die Strömung hat sie schön glatt gemacht in all den Jahren. Manche sind ganz flach und man kann sie über die Wellen hüpfen lassen.
Dieter stoppte den VW-Bus an der Kiesbank und wir stiegen aus (wie gesagt; vielleicht ist das eine falsche Erinnerungsspur; 1982, ein Jahr später, sind wir jedenfalls mit den VW-Bussen zur Kiesbank gefahren). Bis dahin war das alles nicht ungewöhnlich. Denn Dieter und wir fuhren eigentlich jeden Sonntag an den Rhein. Nach dem Gottesdienst trafen wir uns vor der Kirche und Dieter meinte, um nach Hause fahren zu können, müsse er seinen VW-Bus, weil er eben in die falsche Richtung zeigte, unbedingt „am Rhein wenden“. Wir fuhren an den Fluss, gingen spazieren, warfen Steine ins Wasser und was weiß ich. Es war ein Ritual. So ging das über viele Jahre.
An diesem Tag aber lief die Sache anders. Dieter meinte: „So, Jungs, heute will ich mal sehen, ob Ihr das Zeug dazu habt, Trapper zu werden.“ Die meisten von uns hatten Karl May gelesen oder zumindest die Hörspiele gehört oder sogar die Filme gesehen. Trapper. Das waren Leute, die im Wilden Westen klarkamen. Sie konnten Biber fangen, in der Wildnis überleben. Sie wussten, wie man Feuer macht. Und genau darum ging’s. Dieter meinte: „Ihr müsst jetzt ein Lagerfeuer machen. Nur mit dem, was die Natur euch gibt. Also ohne Papier. Ihr habt drei Streichhölzer, danach muss das Ding brennen.“
„Nur, was die Natur euch gibt“ – das ist später über viele Jahre eine Art Witz geworden, ein geflügeltes Wort. Denn die Natur gab uns da draußen eine ganze Menge. Der Wasserstand des Rheins ändert sich oft rapide innerhalb weniger Tage. In den Wäldern unter den Pappeln am Ufer, da sammeln sich die abenteuerlichsten Gegenstände. Der Fluss bringt sie mit aus der Schweiz und aus dem Alemannischen. Und dann bleiben sie hängen zwischen den Büschen, Bäumen und Hecken. Plastikbehälter, Schnaps-, Wein und Bierflaschen, Tablettendosen, keine Ahnung was. Ich hab so viele Einzelheiten vergessen über die Jahre.
Jedenfalls gingen wir los in den Wald und holten Holz. Große Äste, kleine Äste, trockenes Gras als Zunder. Wir sägten, spalteten und hackten. Und dann haben wir ein Lagerfeuer gemacht. Vielleicht auch zwei, das weiß ich nicht mehr so genau. Und wir haben es hingekriegt mit drei Streichhölzern.
Irgendwann kam noch eine andere Jungsgruppe, die auch wie wir zur „Jungschar“ gehörten, also zu den unter-14-Jährigen beim CVJM, sozusagen zur örtlichen Kirchenjugend.
Dieter meinte, das sei die perfekte Gelegenheit für einen kleinen Wettkampf. Er stellte seinen Topf in die Mitte der Kiesbank und zog einen Kreis drumherum, vielleicht so mit einem Radius von vier, fünf Metern. Und dann meinte er: Jede Gruppe muss versuchen, den Topf so schnell wie möglich mit Steinen zu füllen. Er hatte eine Stoppuhr dabei. Ich weiß nicht mehr, wer gewonnen hat. Vermutlich also die anderen.
Danach fragte Dieter: „Wer weiß, was heute Tageslese ist?“
Das muss man erklären. Es gab in der Kirchengemeinde ein Buch, in dem für jeden Tag des Jahres eine Stelle aus der Bibel angegeben war. Die las man sich vor – zum Frühstück, beim Abendessen. Mein Bruder und ich teilten uns damals ein Zimmer. Wir lasen die Stelle immer gemeinsam vor dem Schlafengehen. Danach stand in dem Buch noch ein Kommentar dazu. Das ist die „Bibellese“. In meinen Kreisen galt es als eine allgemein akzeptierte Annahme, dass dies zu den unabdingbaren Gewohnheiten eines gutes Menschen gehört.
Jedenfalls glaube ich mich zu erinnern, dass mein Bruder Martin damals als einziger wusste, was an diesem Tag gelesen wurde. Buch, Kapitel, Vers. Zack! Martin ist Pfarrer geworden. Man hätte es sich denken können. Ich war sehr stolz auf ihn. (Nachtrag: Vergangene Nacht kam mir der Gedanke, dass es sich um eine Stelle aus dem Markusevangelium handelte; ich werde das nachprüfen).
Natürlich kamen an diesem Tag dauernd Frachtschiffe vorbei. Sie fuhren hinauf nach Karlsruhe oder hinunter nach Duisburg oder Rotterdam. Und bei jedem Kahn spielten wir dasselbe Spiel. Es war im Grunde genau der Effekt, den man später über den Tsunami lesen konnte: Der Sog des Schiffes zog das Wasser hinaus in die Fahrrinne. Wir liefen hinterher, so weit wir konnten, über den freigelegten Kies. Jeder Lauf zum Wasser war ein Pokerspiel. Denn irgendwann, das war klar, würden von hinten die Wellen kommen. Und sie kamen schnell – umso schneller, je größer und schneller das Schiff unterwegs war. Alles, was flussabwärts fuhr, war also gefährlich. Und natürlich verpassten wir immer mal wieder den richtigen Moment zur Umkehr und füllten uns die Gummistiefel mit Rheinwasser. Es war Ende Februar und das Wasser war kalt.
Wir kochten Tee im Topf über dem Lagerfeuer, an dem die Socken trockneten. „Naturrein“, sagte Dieter, als wir davon tranken. Es war der beste Tee, den ich in meinem Leben getrunken habe.
Ich wusste noch Jahre später, wer alles dabei war an diesem Tag. Heute bin ich mir nur noch bei vier Jungs sicher: Con war dabei, der eigentlich Thomas heißt, ein anderer Thomas, mein Bruder und ich. Die anderen? Ich hab da nur noch Vermutungen. Erinnerungen werden graduell blasser und unzuverlässiger mit den Jahren. Ich bin mir aber sicher, dass es Fotos gibt. Vielleicht findet sich jemand schickt sie mir zu. Es würde mich wirklich interessieren. (Nachtrag: Auf den Bildern sehe ich außerdem Stefan, Christoph und Kuno).
Ein Jahr später ist mir dann klargeworden, dass wir Jungs so etwas wie Versuchskaninchen waren. Dieter wollte ausprobieren, ob das funktioniert, die Sache mit dem Lagerfeuer, der Kiesbank, den Beilen, den drei Streichhölzern und dem Rhein. Denn ab dann gab es das jedes Jahr. Dieter nannte es „Die Trapperprüfung“ und wer sie bestand (natürlich bestand jeder), der bekam eine wirklich prächtige Urkunde und durfte sich fortan „Trapper“ nennen.
Wer Trapper war, der gab dem anderen Trapper auf bestimmte Art und Weise die Hand. Man spreizte dabei – so schnell, dass ein Außenstehender es nicht merken konnte – den kleinen Finger ab. Dieter nannte es den „Trappergruß“ und wir hatten das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, Mitglieder eines Geheimbundes. Und im Grunde waren wir das auch.
Ich habe als Junge viele unfassbare Dinge erlebt. Chaos. Haarsträubende Improvisationen. Wahnsinn. Dieter konnte das alles. Er war damals so um die 40 und der mit Abstand verrückteste und phantasievollste Erwachsene, den ich kannte. Er hat uns allen beigebracht, dass krasse Ideen nicht verboten sind. Und dass es sehr einfach ist, sie umzusetzen. Man macht es einfach. Und kommt fast immer damit durch.
Vor ein paar Tagen ist Dieter gestorben. Das letzte Mal hab ich ihn vor vier Jahren gesehen. Damals bin ich in mein Dorf zurückgekommen, um mein Buch vorzustellen. Es ging darin um die Vergangenheit dieses Dorfes, ein dunkles Geheimnis. Ich wusste nicht, wie die Sache ausgehen würde. Die Schulaula war rappelvoll. Dieter – er war damals schon krank – saß im Publikum. Ich sah ihn, er schaute zu mir, streckte, wie es seine Art war, den Daumen in die Luft und nickte mir zwei Mal zu, während er die Augen schloss. „Alles gut gemacht“, sagte die Geste.
Dieter hat, als wir Jungs waren und nicht wussten, was wir sollten in der Welt, uns so lange erzählt, dass wir Trapper sind, bis wir selbst es glaubten. Nichts von all dem steht in Büchern. Man lernt es nicht an der Uni. Aber es hat mich und viele andere geprägt und uns einen Mut gegeben, der vermutlich für ein Leben reicht.
Heute sitze ich hier in Michigan, mehr als 4000 Meilen von meiner Heimat entfernt, und weiß nicht, ob ich mich je bei ihm dafür bedankt habe, dass ich einmal Trapper war. Ich hoffe, das liegt nur an meinem löchrigen Gedächtnis. Und nicht daran, dass ich etwas versäumt habe.
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