bookmark_border7 Wörter, die man niemals sagen darf

Es gibt Wörter, die man im US-Fernsehen nie zu hören kriegt. Sie werden vermieden oder mit Hupgeräuschen überblendet. Das hat mich erst genervt und dann sehr interessiert. Dass man hier – im Land der Redefreiheit – für schmutzige Sprache verknackt werden kann, ist nicht neu. Angeblich mussten die Macher von „Vom Winde verweht“ schon in den 1930ern Kohle abdrücken, weil Rhett Butler am Ende sagt: „Ehrlich gesagt, meine Liebe, das ist mir egal.“ („I don’t give a damn“). Verrückt, oder?

Vor vielen Jahren hat der legendäre Comedian George Carlin sich auf die Suche nach der Liste gemacht, auf der all diese verbotenen Wörter stehen. Die Antwort: Es gibt keine Liste. Ein entsprechende Behörde beruft sich (übrigens bis heute) auf den Grundsatz: Du erkennst versaute Sprache, wenn du sie hörst. Also hat Carlin sich selbst so seine Gedanken gemacht. An seiner Argumentation ist wenig auszusetzen. Die sieben Wörter lauten: „shitpissfuckcuntcocksuckermotherfucker und tits.“

Wie häufig kommen diese Wörter in Büchern vor? Und wann wurden sie so beliebt, dass man sie unter Strafen stellen musste? Zum Glück hat Google für solche Fragen eine Maschine im Angebot, den Google Ngram Viewer, ein Tool von unschätzbarem Wert, das ich allen Wortsuchern und Begriffspfadfindern ans Herz legen möchte. Der Ngram Viewer zeigt, dass shit und fuck viel beliebter sind als die anderen schmutzigen Wörter. Die meisten Leute hier empfinden andere Wörter aber als beleidigender. In den USA und Großbritannien führen diesbezüglich motherfucker und cunt. Interessant finde ich: Anfangs der 1970er, als Carlin seine Analyse auf die Bühne brachte, war in Sachen Schimpfe noch praktisch gar nix los in Amerika.

All das hat mich zu einiger Lektüre verführt. So habe ich dieser Tage aus dem Buch „What the F“ des Linguisten Benjamin K. Bergen erfahren, dass schmutzige Wörter und Tabuwörter in praktisch allen Sprachen aus vier Bedeutungsbereichen stammen. Dem Heiligen, dem Sexuellen, den menschlichen Körperfunktionen und den Beleidigungen. „I hereby propose we call it the Holy, Fucking, Shit, Nigger Principle“, schreibt Bergen. Das N-Wort habe ich dann auch mal abgefragt; hat ne ganz andere Kurve, weil halt – logisch – auch ne andere Geschichte. Das gilt in anderem Ausmaß natürlich auch für cock. Bergen hat dazu ein eigenes Kapitel geschrieben: „Wie der Hahn seine Federn verloren hat“. Ich habe also cock und das N-Wort nochmal gegen shit laufen lassen. Das N-Wort zeige ich unten nicht. Es handelt sich TATSÄCHLICH um ein Tabu-Wort, also werde ich die Kurve hier lediglich beschreiben: So richtig modern wurde das N-Wort erst um 1860, also während des Bürgerkriegs. Hm. Wusste ich nicht. Redet man über Begriffe erst dann, wenn man anfängt, sich über sie zu streiten? Jedenfalls: Die shit-Kurve quert von unten sowohl die N-Wort-Kurve als auch die cock-Kurve so etwa um das Jahr 1980. That’s the year when shit hit the fan!

All das hat bei uns im Haus jedenfalls zu weiteren Diskussionen geführt. Was ist mit anderen Bezeichnungen für unsere primären Geschlechtsorgane? Wie häufig wurde wann darüber geschrieben? Gute Frage. Also haben wir wieder den „Google Ngram Viewer“ angeschmissen – und zwei möglichst neutrale, sozusagen wörterbuchtaugliche Begriffe abgefragt: vagina und penis. Und da sieht man dann doch Erstaunliches:

Das 19. Jahrhundert muss völlig versessen auf den weiblichen Unterleib gewesen sein. Spätestens ab dem 2. Weltkrieg war’s damit aber vorbei. Bestimmt ist das alles gut erforscht. Das muss ich mir in den nächsten Tagen mal genauer anschauen. Oder auch nicht. Trotzdem: interessant.

Neulich hab ich gehört, dass Louis C.K. ein neues Special veröffentlicht hat. Ich war lange Fan von ihm und verdanke ihm viele gute Abende. Eine meiner Lieblingsnummern aus seinem Oeuvre handelt davon, dass Gott eines Tages auf die Erde zurückkommt und sich das Schlamassel anguckt und sagt (natürlich als George-Carlin-Referenz): „What the fuck did you do? I gave this to you, motherfucker! Are you crazy? The polar bears are brown … what did you … WHAT DID YOU DO TO THE POLAR BEARS? Did you shit all over every polar bear? Who spilled this shit?“ Ich werde diese Passage nicht übersetzen – schon um die Nerven meiner guten Mutter zu schonen, die es nicht mag, wenn ich mich obszöner Begriffe bediene. Louis hat uns mit diesem Stück durch die Blume gesagt: Ja, die FCC verbietet diese Sprache. Aber eines Tages werdet Ihr merken, dass Gott selbst genau so redet. Ihr Heuchler. Wir wissen nicht, ob das stimmt. Aber es ist zumindest mal ne Arbeitshypothese.

Ich hab dann dieser Tage auf Louis C.K.s Website 7,99$ bezahlt und sein neues Special gekauft. Ich wollte sehen, wie’s ihm geht. Nun ja. Er ist auf ne Art noch immer derselbe. Aber kaputter. Er hat über Jahre auf der Bühne all die Dinge gemacht, die verboten waren. Alle Tabuwörter – er hat sie uns um die Ohren gehauen. Und ist damit durchgekommen. Irgendwann aber haben Leute öffentlich erzählt, was „sein Ding ist“. Was ihn antörnt. Es war nicht nur ekelhaft, sondern auch … tja … halt gar nicht okay. Der zentrale Satz seines Specials lautet: „You are so fucking lucky, that I don’t know what your thing is.“ Und dann erzählt er, wie er in Italien in dieses Flugzeug steigt und ein kleiner Junge auf ihn zeigt und sagt: „Mama, da hinten ist der Typ, der sich vor den Leuten einen runtergeholt hat.“

Ich erinnere mich an einen Auftritt von Louis C.K. bei Letterman (bei dem tatsächlich auch mehrere Bleep Censors zu hören sind, etwa bei 3:56) . Letterman beglückwünscht ihn zu seinem Erfolg und Louis winkt ab und sagt sinngemäß: Ein mittelgroßer Erfolg ist das Beste, was Dir passieren kann. Denn je mehr Leute Dich kennen, desto mehr Leute werden Dich hassen. Ist einfach Mathe.

Er hat’s irgendwie kommen sehen.

Der Mann tut mir sehr leid. Die Welt ist ein Dorf geworden. Und er kann sich nirgendwo verstecken.

Und das ist halt einfach mal Scheiße.

bookmark_border3. Erinnerung an Dieter Blau: der „Karl-August-Stein“

Steine CVJM Sportplatz Plätzle Graben-Neudorf

Wieder eine Geschichte über Dieter Blau, die in meiner alten Heimat in Baden spielt. Wenn man von Graben nach Liedolsheim fährt, dann sieht man irgendwann links den Sportplatz des CVJM. Er liegt genau am Übergang vom sandigen Hochgestade zum schwarzerdigen Tiefgestade. Vom Hang her wird das Areal durch eine Art Geländer begrenzt. Und wenn man sich dessen Stützen ansieht, dann denkt man: hm! Das sind nämlich sehr massige Sandsteine mit einem Loch im oberen Drittel. Die Dinger sind für ihren Job deutlich überqualifiziert. Warum stehen die da?

Das Bild oben hat mir meine Mutter geschickt (tausend Dank!). Dieter Blau, an den ich dieser Tage viel denken muss, hat einen dieser Brocken oft den „Karl-August-Stein“ genannt. Und das kam so.

Es war Sommer. Unsere Eltern befanden sich auf einer Lustreise, weshalb meine seligen Großeltern für uns zuständig waren. Sie wohnten auf dem Nachbargrundstück; wir gingen einfach durch den Garten und dann gab’s dort immer ein tüchtiges Mittagessen. Meine Oma Martha konnte gut kochen.

An diesem Tag hatte Dieter meinen Bruder Martin und mich einbestellt – „für eine Sklavenarbeit“, wie er meinte. Also kletterten wir und ein paar andere Jungs in Dieters VW-Bus und dann ging’s los. In der Nähe von Rheinsheim bogen wir von der Straße ab in einen ziemlich verwachsenen Weg. Dort begann, überwuchert von Bäumen, Büschen und sonstigem Grünzeug, die Rampe für eine große Brücke, die ich noch nie gesehen hatte. 

Heute weiß ich, dass es sich dabei um die alte Eisenbahnbrücke hinüber nach Germersheim handelte. Das Ding stammt aus dem Jahr 1877 und trägt alle Merkmale der damaligen Zeit. Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich war einfach zu viel Geld in der deutschen Staatskasse, und das hat man dann mit beiden Händen ausgegeben. Alles fiel damals eine Nummer zu groß aus. Da machte auch das Geländer am Streckenrand keine Ausnahme. Und auch nicht die massigen Sandsteine, die es stützten. 1945 hat man die Brücke dann gesprengt, weil die eigenen Soldaten gerade den Fluss überquert hatten und man nicht wollte, dass die Leute, die in der anderen Mannschaft spielten, genau so bequem über den Rhein kommen konnten. 

Rund eine Woche später sind sie dann doch über den Rhein gekommen, aber das ist eine andere Geschichte, die ich anderswo beschrieben habe.

Dieter hatte in seinen Bus Seile, Arbeitshandschuhe und eine Reihe von Rundhölzern geladen. Wenn ich mich recht erinnere, hielt er uns während der Fahrt einen Vortrag über die ehrenvolle Arbeit der Israeliten im alten Ägypten und wie sie die schweren Steine „allein mit Muskelkraft“ auf die Pyramiden hatten schleppen müssen. „Und genau das machen wir heute auch, damit ihr mal wisst, wie das war!“

Als wir schon ein gutes Stück in die grüne Wildnis gegangen waren, sahen wir, wovon Dieter gesprochen hatte. Da lag ein sehr großer Sandstein. Jemand (vermutlich Dieter) musste ihn an den Tagen zuvor ausgebuddelt haben. Am oberen Ende des Sandsteins befand sich ein Loch. Durch das führten wir die Seile, dann legten wir die Rundhölzer auf die Erde und zogen den schweren Brocken darauf Zentimeter für Zentimeter in Richtung VW-Bus. „So hat man das in Ägypten auch gemacht“, sagte Dieter. Das hat uns sofort eingeleuchtet.

Jedes Holz, über das der Steinriese hinweggeruckelt war, musste natürlich herausgezogen und dann wieder vor den Stein gelegt werden. Ich weiß noch, wie wir uns abgemüht haben und ich dabei dachte: „Das wird nie was.“ So ging das über Stunden. Heute muss ich mich darüber wundern, dass Dieter mich überhaupt mitgenommen hat, denn ich war weder groß noch stark und für die Aufgabe kaum zu gebrauchen. Vermutlich hat man mir die Sache mit den Rundhölzern überlassen, weil das nicht so schwer war. Aber das weiß ich nicht mehr so genau. 

Dass wir den Stein tatsächlich an und schließlich auch IN den Wagen gebracht haben, dass er dabei niemandem eine Hand oder einen Fuß plattgemacht hat, dass die Achsen und der Boden von Dieters VW-Bus den Transport schadlos überstanden haben – all das kommt mir heute wie purer Irrsinn vor. Was haben wir Glück gehabt!

Naja. Dann sind wir jedenfalls direkt zum CVJM-Sportplatz gefahren, haben da an der Böschung ein Loch gebuddelt, den Stein reinstellt, den Rest des Loches mit Erde aufgefüllt und alles ordentlich festgetrampelt. Kann auch sein, dass das Loch schon vorher da war. Fertig war jedenfalls die Sklavenarbeit. (Nachtrag: Mein Bruder sagt, dass wir den Stein an diesem Abend unten am Sportplatz einfach mitten in den Weg gepflanzt haben; und das stimmt. Der Stein hat am Anfang in erster Linie genervt und besaß ansonsten keinerlei Funktion.)

Ich erinnere mich noch, wie wir nach Hause kamen, es war nach 22 Uhr und natürlich schon dunkel. Wir hatten Übermenschliches geleistet und erwarteten, von unseren Großeltern entsprechend gepriesen zu werden. Kam natürlich anders. Opa Karl (laut Taufschein: Karl August) war stinksauer, Oma Martha voller Sorge.

Und weil Dieter Blau unseren Großvater kannte und wusste, dass er ein rauher Knochen war wie er selbst, hat er meinem Bruder Martin und mir gegenüber noch lange seine Späße über diesen Tag gemacht und den Stein scherzhaft den „Karl-August-Stein“ genannt.

Das war eine richtige Dieter-Aktion. Sie sah aus wie Wahnsinn, doch sie hatte Methode und war Teil eines ausgeklügelten Plans. Dieter wollte alle davon überzeugen, dass die vergessenen Steine von der alten Rheinbrücke unbedingt eine neue Heimat brauchten – und unser Sportplatz unbedingt ein neues Gelände. Und genau so ist es am Ende gekommen. Es hat davor und danach viele andere seiner „Arbeitseinsätze“ auf dem Sportplatz gegeben. Das hier aber war – zumindest für mich – der krasseste von allen. Das Geländer steht jedenfalls noch heute. Und mein Bruder, ich und die anderen, die dabei waren, haben spätestens an diesem Tag gelernt, dass es schwer in Ordnung ist, sich für etwas anzustrengen, das bleibt. Selbst (oder erst recht), wenn’s für andere bleibt und nicht nur für einen selbst.

bookmark_borderNoch ein paar Erinnerungen an Dieter Blau

Ishi hat mir nach meinem Eintrag über Dieter Blau von vor drei Tagen ein paar Bilder geschickt. Eins davon möchte ich hochladen. Es zeigt Dieter mit meiner Schwester Heike am Rhein bei einer „Trapperprüfung“. Beide sehen glücklich aus und genau das will ich heute nochmal festhalten. Es ist für niemanden einfach, die Kindheit zu verlassen und ein Teenager zu werden. Das Kind, das man war, muss sterben, um Platz zu machen für das, was kommt. Jeder durchlebt dabei seine eigene Heldenreise – ohne Schrecken läuft das selten ab. Dieses Foto hier erzählt von den guten Tagen: Meine große kleine Schwester lächelt, Dieter Blau trägt ein Outfit, das deutlich modischer ausfällt an in meiner Erinnerung.

In den vergangenen Tagen haben ziemlich viele Leute geschrieben oder angerufen und dann haben wir alte Geschichte ausgetauscht. Ein paar davon will ich aufschreiben: eine kleine Sammlung von „Dieterismen“. Es gab viele davon. Ich möchte mich auf die Guten und Verrückten beschränken.

  1. Jemandem einen Daumen geben. Die Amerikaner geben einander „High Five“, wenn jemand etwas gut gemacht hat. Dieter hat in solchen Fällen gesagt: „Komm her, Du bekommst einen Daumen.“ Dann musste man seinen Daumen ausstrecken, er hat seinen Daumen auch ausgestreckt und dann hat man die Innenflächen der Daumen aneinander gedrückt und die Hand um 180 Grad im Uhrzeigersinn gedreht mit dem Daumenkontakt als Achse. Zumindest ist es das, woran ich mich erinnere. War keine seiner maximal erfolgreichen Ideen, aber er hat das über Jahre durchgezogen. Er wusste: Auch ein schlechter Gag wird gut, wenn man ihn oft genug wiederholt. Das hab ich mir gemerkt und bis heute oft beherzigt.
  2. Den VW-Bus umrunden. Wenn wir an einer roten Ampel anhalten mussten, hat jemand die Schiebetür aufgerissen und dann sind alle um den VW-Bus herumgerannt und wieder eingestiegen – meist waren wir schnell genug, um es bis zur nächsten Grünphase zu schaffen. Wer Zeuge wurde, hat sich in der Regel gefreut. Das haben wir noch über Jahre so gemacht, auch als wir längst nicht mehr in Dieters Gruppe waren.
  3. Den Brotlaib längs aufschneiden. Zu Ostern sind wir immer mit vielen Leuten in den Wald gegangen (in den „Kammerforst“, den einzigen Wald um unser Dorf, der nicht der Gemeinde gehört) und haben Lachsbrote gegessen. Ich weiß noch, wie Dieter uns angewiesen hat, Brotscheiben von den langen Zweipfünder-Laiben zu schneiden. Natürlich haben wir das Messer quer über das Brot gelegt. Dieter meinte dann: „Ihr wisst wohl nicht, wie man Brot schneidet!“ Dann hat er den Brotlaib gedreht und ihn längs aufgeschnitten. Das waren sehr lange Scheiben. Dann: Butter, Räucherlachs und jede Menge Zwiebelringe. Das gab’s dann jedes Jahr zu Ostern. War nicht leicht zu essen, aber unverwechselbar.
  4. Die „Enten“. Das Foto mit meiner Schwester ist der Beweis: Irgendwann haben die Jungs gemeinsame Veranstaltungen mit den Mädchen unternommen. In Dieters Sprache waren die Mädchen „die Enten“. Aus heutiger Sicht scheint mir die Bezeichnung nicht mehr politisch korrekt zu sein. Es hat die Sache damals aber leichter gemacht und uns über die erste Peinlichkeit hinweggeholfen. Zumindest für uns Jungs. Für die Mädchen vielleicht auch? Ich weiß es nicht.
  5. Lahme Lieder in großartige Lieder verwandeln. In der „Jungschar“, der Kindergruppe des CVJM, haben wir immer viel gesungen, vor allem Lieder aus der Mundorgel. Was bei Dieter besonders war: Er hat uns manchmal die lahmsten Lieder singen lassen und sie so lange zu Meisterwerken erklärt, bis wir’s geglaubt haben. Mein Bruder Martin hat den größten dieser Hits vor ein paar Tagen aufgenommen und auf Youtube hochgeladen. Ich konnte noch jedes Wort mitsingen nach all den Jahren. Das war schön.
  6. Eine Art Uniform erfinden. Meine Schwester Heike trägt auf dem Bild oben einen ungewöhnlichen Pullover. Er war blau mit einem sehr groß aufgebügelten CVJM-Logo. Für die meisten, die bei Dieter in der Gruppe waren, galt es sozusagen als Pflichtübung, das Ding zu erwerben und regelmäßig anzuziehen. Die meisten von uns haben das auch gemacht. Ich weiß noch, wie jemand uns mal als „Uniformierte“ bezeichnet hat. Hab ich damals nicht verstanden, stimmte natürlich trotzdem. Der Pullover hat so ziemlich alle Funktionen einer Uniform erfüllt: Gruppenzusammenhalt; das Gefühl, nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen zu stehen (und sich deshalb einigermaßen benehmen zu müssen); Werbung nach außen. Dieter Blau hat da viel von den Pfadfindern gelernt, denen wir in vieler Hinsicht ähnlich waren.
  7. Das Plumpsklo im Brennnesselwald. Anfang der 1980er Jahre sind wir auf eine Freizeit in die Lüneburger Heide gefahren. Wir haben da 14 Tage lang gezeltet auf einem von mehr als zwei Meter hohen Brennnesseln bewachsenen Grünstreifen längs eines Feldwegs. Ich glaube nicht, dass Dieter wusste, wem das Gelände gehört und er hat auch ganz sicher keinen um Erlaubnis gefragt. Er ist einfach aus seinem VW-Bus gestiegen und hat gesagt: Hier bleiben wir. Dann hat er jedem eine Sichel in die Hand gedrückt, wir haben die Brennneseln geschnitten und unsere Zelte aufgebaut. Dann haben wir in den verbliebenen Brennnesselwald einen schmalen, gewundenen Pfad geschlagen, irgendwann eine Lichtung gemacht, eine Grube ausgehoben und aus Holz ein Plumpsklo darübergestellt. Am Anfang des Pfades stand eine Stange mit Wimpel. Wer auf die Toilette musste, hat die Fahne mit auf die Lichtung genommen. „Keine Fahne“ hieß: besetzt. Die meisten haben die Fahne am Ende wieder zurück an ihren Platz gestellt.
  8. Geschichten erzählen und sich dabei selbst überraschen. Dieter hat – als Programmpunkt in den Jungscharstunden – sehr gerne Geschichten erzählt. Manche waren geplant oder sogar vorgelesen. Aber das war eigentlich nicht so sein Ding. Viele Geschichten waren komplett improvisiert. Dieter wusste selbst nicht, was den Helden als nächstes widerfahren würde. Die dramatischen Effekt waren meist extrem. Dieter fuchtelte dann mit den Armen, er rief und schrie die Dialoge durch den Raum. Das war große Kunst – zumindest, wenn er in Form war.
  9. Die Schlitten am VW-Bus. Im Winter, wenn Schnee lag, haben alle ihre Schlitten zur Jungscharstunde mitgebracht. Wir haben dann mit Stricken einen Schlitten an den anderen gebunden – und den vordersten Schlitten an die Anhängerkupplung von Dieters VW-Bus. Und dann ging’s ab durch die Nacht. Natürlich fuhr er dauernd Schlangenlinie, um den Spaß zu erhöhen. Ich meine mich zu erinnern, dass der Wagen einmal nach einer besonders gewagten Wendung auf zwei Rädern fuhr. Vielleicht eine falsche Erinnerung. Davon haben wir alle eine Menge.
  10. „Mit einem Bein im Gefängnis.“ Dieter Blau hat sehr oft gesagt: „Wenn du eine Jungschargruppe leitest, dann stehst du mit einem Bein im Gefängnis.“ So, wie er die Gruppe geleitet hat, war der Satz ganz sicher korrekt.
Martin und der Ochsenwagen

bookmark_borderAls ich ein Trapper war

Es war kalt, wie meist an den Faschingstagen. Wir stiegen, sechs oder sieben Jungs, in den alten, orangefarbenen VW-Bus. Vorher hatten wir Beile, Äxte, Sägen und Dieters neuen Spalthammer auf die Ladefläche gepackt. Und einen Topf. (Nachtrag: Ich hab jetzt dankenswerterweise von Jörg ein paar Bilder von damals bekommen und muss zwei Dinge korrigieren. Erstens: Dieters VW-Bus war natürlich weiß; der orangefarbene VW-Bus gehörte Hartmut; zweitens: auf einem der Bilder sieht man Räder im Hintergrund; sind wir bei diesem „Trappertag 0“ mit den Rädern an den Rhein gefahren?; vermutlich; eines der Räder sieht verdächtig nach meinem Rad aus; alles vergessen. Ich war damals elf Jahre alt).

Dann fuhren wir an den Rhein. Dort, wo der Weg den Hochwasserdamm quert, steht links ein altes Fachwerkhaus. Eine Gastwirtschaft, in die ich, wenn ich so drüber nachdenke, nie einen Fuß gesetzt habe.

Früher stand hier ein ganzes Dorf. Die Leute hatten ihre Äcker, ihre Wiesen, sie fingen Fische im Fluss. Wenn man den alten Berichten traut, dann ging’s denen sehr gut und sie haben immer tüchtig gefeiert. Aber dann kam jemand auf die Idee, den Fluss zu begradigen (wegen der Wirtschaft und so) und auf einmal lagen die meisten Äcker und Wiesen auf der anderen Seite des Flusses und die Dörfler wohnten plötzlich in einem anderen Land. Alle paar Jahre passierte dann ein anderer Mist und irgendwann haben sie das Dorf einfach aufgegeben. Ist ne andere Geschichte. Ich wollte schon immer mal drüber schreiben und eines Tages mach ich das auch.

Jedenfalls führte der Rhein an diesem Tag wenig Wasser, so dass die Kiesbank kurz vor Flusskilometer 379 bis fast zur Fahrrinne trocken lag. Die Kiesel da sind die besten, die man sich denken kann. Die Strömung hat sie schön glatt gemacht in all den Jahren. Manche sind ganz flach und man kann sie über die Wellen hüpfen lassen.

Dieter stoppte den VW-Bus an der Kiesbank und wir stiegen aus (wie gesagt; vielleicht ist das eine falsche Erinnerungsspur; 1982, ein Jahr später, sind wir jedenfalls mit den VW-Bussen zur Kiesbank gefahren). Bis dahin war das alles nicht ungewöhnlich. Denn Dieter und wir fuhren eigentlich jeden Sonntag an den Rhein. Nach dem Gottesdienst trafen wir uns vor der Kirche und Dieter meinte, um nach Hause fahren zu können, müsse er seinen VW-Bus, weil er eben in die falsche Richtung zeigte, unbedingt „am Rhein wenden“. Wir fuhren an den Fluss, gingen spazieren, warfen Steine ins Wasser und was weiß ich. Es war ein Ritual. So ging das über viele Jahre.

An diesem Tag aber lief die Sache anders. Dieter meinte: „So, Jungs, heute will ich mal sehen, ob Ihr das Zeug dazu habt, Trapper zu werden.“ Die meisten von uns hatten Karl May gelesen oder zumindest die Hörspiele gehört oder sogar die Filme gesehen. Trapper. Das waren Leute, die im Wilden Westen klarkamen. Sie konnten Biber fangen, in der Wildnis überleben. Sie wussten, wie man Feuer macht. Und genau darum ging’s. Dieter meinte: „Ihr müsst jetzt ein Lagerfeuer machen. Nur mit dem, was die Natur euch gibt. Also ohne Papier. Ihr habt drei Streichhölzer, danach muss das Ding brennen.“

„Nur, was die Natur euch gibt“ – das ist später über viele Jahre eine Art Witz geworden, ein geflügeltes Wort. Denn die Natur gab uns da draußen eine ganze Menge. Der Wasserstand des Rheins ändert sich oft rapide innerhalb weniger Tage. In den Wäldern unter den Pappeln am Ufer, da sammeln sich die abenteuerlichsten Gegenstände. Der Fluss bringt sie mit aus der Schweiz und aus dem Alemannischen. Und dann bleiben sie hängen zwischen den Büschen, Bäumen und Hecken. Plastikbehälter, Schnaps-, Wein und Bierflaschen, Tablettendosen, keine Ahnung was. Ich hab so viele Einzelheiten vergessen über die Jahre.

Jedenfalls gingen wir los in den Wald und holten Holz. Große Äste, kleine Äste, trockenes Gras als Zunder. Wir sägten, spalteten und hackten. Und dann haben wir ein Lagerfeuer gemacht. Vielleicht auch zwei, das weiß ich nicht mehr so genau. Und wir haben es hingekriegt mit drei Streichhölzern.

Irgendwann kam noch eine andere Jungsgruppe, die auch wie wir zur „Jungschar“ gehörten, also zu den unter-14-Jährigen beim CVJM, sozusagen zur örtlichen Kirchenjugend.

Dieter meinte, das sei die perfekte Gelegenheit für einen kleinen Wettkampf. Er stellte seinen Topf in die Mitte der Kiesbank und zog einen Kreis drumherum, vielleicht so mit einem Radius von vier, fünf Metern. Und dann meinte er: Jede Gruppe muss versuchen, den Topf so schnell wie möglich mit Steinen zu füllen. Er hatte eine Stoppuhr dabei. Ich weiß nicht mehr, wer gewonnen hat. Vermutlich also die anderen.

Danach fragte Dieter: „Wer weiß, was heute Tageslese ist?“

Das muss man erklären. Es gab in der Kirchengemeinde ein Buch, in dem für jeden Tag des Jahres eine Stelle aus der Bibel angegeben war. Die las man sich vor – zum Frühstück, beim Abendessen. Mein Bruder und ich teilten uns damals ein Zimmer. Wir lasen die Stelle immer gemeinsam vor dem Schlafengehen. Danach stand in dem Buch noch ein Kommentar dazu. Das ist die „Bibellese“. In meinen Kreisen galt es als eine allgemein akzeptierte Annahme, dass dies zu den unabdingbaren Gewohnheiten eines gutes Menschen gehört.

Jedenfalls glaube ich mich zu erinnern, dass mein Bruder Martin damals als einziger wusste, was an diesem Tag gelesen wurde. Buch, Kapitel, Vers. Zack! Martin ist Pfarrer geworden. Man hätte es sich denken können. Ich war sehr stolz auf ihn. (Nachtrag: Vergangene Nacht kam mir der Gedanke, dass es sich um eine Stelle aus dem Markusevangelium handelte; ich werde das nachprüfen).

Natürlich kamen an diesem Tag dauernd Frachtschiffe vorbei. Sie fuhren hinauf nach Karlsruhe oder hinunter nach Duisburg oder Rotterdam. Und bei jedem Kahn spielten wir dasselbe Spiel. Es war im Grunde genau der Effekt, den man später über den Tsunami lesen konnte: Der Sog des Schiffes zog das Wasser hinaus in die Fahrrinne. Wir liefen hinterher, so weit wir konnten, über den freigelegten Kies. Jeder Lauf zum Wasser war ein Pokerspiel. Denn irgendwann, das war klar, würden von hinten die Wellen kommen. Und sie kamen schnell – umso schneller, je größer und schneller das Schiff unterwegs war. Alles, was flussabwärts fuhr, war also gefährlich. Und natürlich verpassten wir immer mal wieder den richtigen Moment zur Umkehr und füllten uns die Gummistiefel mit Rheinwasser. Es war Ende Februar und das Wasser war kalt.

Wir kochten Tee im Topf über dem Lagerfeuer, an dem die Socken trockneten. „Naturrein“, sagte Dieter, als wir davon tranken. Es war der beste Tee, den ich in meinem Leben getrunken habe.

Ich wusste noch Jahre später, wer alles dabei war an diesem Tag. Heute bin ich mir nur noch bei vier Jungs sicher: Con war dabei, der eigentlich Thomas heißt, ein anderer Thomas, mein Bruder und ich. Die anderen? Ich hab da nur noch Vermutungen. Erinnerungen werden graduell blasser und unzuverlässiger mit den Jahren. Ich bin mir aber sicher, dass es Fotos gibt. Vielleicht findet sich jemand schickt sie mir zu. Es würde mich wirklich interessieren. (Nachtrag: Auf den Bildern sehe ich außerdem Stefan, Christoph und Kuno).

Ein Jahr später ist mir dann klargeworden, dass wir Jungs so etwas wie Versuchskaninchen waren. Dieter wollte ausprobieren, ob das funktioniert, die Sache mit dem Lagerfeuer, der Kiesbank, den Beilen, den drei Streichhölzern und dem Rhein. Denn ab dann gab es das jedes Jahr. Dieter nannte es „Die Trapperprüfung“ und wer sie bestand (natürlich bestand jeder), der bekam eine wirklich prächtige Urkunde und durfte sich fortan „Trapper“ nennen.

Wer Trapper war, der gab dem anderen Trapper auf bestimmte Art und Weise die Hand. Man spreizte dabei – so schnell, dass ein Außenstehender es nicht merken konnte – den kleinen Finger ab. Dieter nannte es den „Trappergruß“ und wir hatten das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, Mitglieder eines Geheimbundes. Und im Grunde waren wir das auch.

Ich habe als Junge viele unfassbare Dinge erlebt. Chaos. Haarsträubende Improvisationen. Wahnsinn. Dieter konnte das alles. Er war damals so um die 40 und der mit Abstand verrückteste und phantasievollste Erwachsene, den ich kannte. Er hat uns allen beigebracht, dass krasse Ideen nicht verboten sind. Und dass es sehr einfach ist, sie umzusetzen. Man macht es einfach. Und kommt fast immer damit durch.

Vor ein paar Tagen ist Dieter gestorben. Das letzte Mal hab ich ihn vor vier Jahren gesehen. Damals bin ich in mein Dorf zurückgekommen, um mein Buch vorzustellen. Es ging darin um die Vergangenheit dieses Dorfes, ein dunkles Geheimnis. Ich wusste nicht, wie die Sache ausgehen würde. Die Schulaula war rappelvoll. Dieter – er war damals schon krank – saß im Publikum. Ich sah ihn, er schaute zu mir, streckte, wie es seine Art war, den Daumen in die Luft und nickte mir zwei Mal zu, während er die Augen schloss. „Alles gut gemacht“, sagte die Geste.

Dieter hat, als wir Jungs waren und nicht wussten, was wir sollten in der Welt, uns so lange erzählt, dass wir Trapper sind, bis wir selbst es glaubten. Nichts von all dem steht in Büchern. Man lernt es nicht an der Uni. Aber es hat mich und viele andere geprägt und uns einen Mut gegeben, der vermutlich für ein Leben reicht.

Heute sitze ich hier in Michigan, mehr als 4000 Meilen von meiner Heimat entfernt, und weiß nicht, ob ich mich je bei ihm dafür bedankt habe, dass ich einmal Trapper war. Ich hoffe, das liegt nur an meinem löchrigen Gedächtnis. Und nicht daran, dass ich etwas versäumt habe.