bookmark_borderFairy Doors

Vor ein paar Tagen habe ich eine Bemerkung über die Fairy Doors von Ann Arbor fallen lassen. Per Email haben Leute angefragt, ob ich nicht mehr dazu erzählen kann. Warum also nicht mal ne hellere Note zwischen all den schlechten Nachrichten?

Coco fordert täglich ihre beiden Spaziergänge. Also haben wir heute beim Gang um den Block die Augen geschärft (Brille!) und nach weiteren geheimen Feen-Türen gesucht. Unglaublich, wie viele es gibt – allein hier in der Nachbarschaft.

Die Sache begann in den 1990er Jahren mit dem Ehepaar Jonathan and Kathleen Wright. Er bezeichnet sich heute als „Diplom-Feeologe“, sie ist Erzieherin. Um die Kinder in Kathleens Krabbelgruppe zu unterhalten, hat Jonathan im eigenen Haus damals eine Minitür gebaut – mit kleinem Raum und eigener Geheimtreppe dahinter. Nach und nach verdichtete sich die Story um diese Tür: Natürlich, dahinter müssen Feen wohnen! Seit den frühen 2000ern wurde daraus in der Stadt eine Art Mem, also ein kulturelles Etwas, das man kopieren und weiterverbreiten kann.

Am Anfang haben vor allem Geschäfte in Downtown den Trend aufgenommen. Heute sieht man die Fairy Doors vorwiegend an Privathäusern.

Nicht alle Türen fallen im selben Maße geschmackssicher aus. Manch einer platziert sie zudem in den Vorgarten.

Es gibt sogar einen leidenschaftlichen Tischler mit dem Spitznamen „Bastel-Bob“, der – inspiriert durch seine Enkeltochter – seit fast zehn Jahren Elfentüren zimmert und verkauft (seine Seite ruht allerdings seit vergangem Sommer).

Wenn man als Tourist nach Ann Arbor kommt, dann gehört eine Fairy-Door-Schnitzeljagd fast immer mit zum Programm. Zumindest, wenn Kinder dabei sind. Längst hat auch das örtliche Kinderkrankenhaus die Zauberkraft der Feentüren für sich entdeckt. Man hat im Inneren des Gebäudes mehrere Türen einbauen lassen. Die Kinder können sie suchen, öffnen und gucken, was sich dahinter verbirgt. Die Sache macht den Kleinen den Klinikaufenthalt ein weniger leichter. Tolle Idee.

Und wenn ich das richtig sehe, dann funktioniert der Trick bei uns Erwachsenen nur unwesentlich schlechter.

bookmark_borderDigital ist besser (als erwartet)

Gestern hat sich Nicki mit einigen Kollegen von der University of Michigan zu einer Pokerrunde verabredet. Auf Nickis Rechner läuft dabei eine Videokonferenz (über Zoom), auf ihrem iPad eine Poker-App. Zwei Geräte gleichzeitig. Klingt anstrengend, funktioniert aber super. Nicki und ihre Leute erforschen an der Uni, wie Menschen per Internet miteinander kommunizieren. Sie haben also wenig Scheu vor diesen digitalen Dingen. Trotzdem brauchen alle ein paar Minuten, um zu checken, wie die App funktioniert. Aber dann geht es los und wir zocken fast bis Mitternacht. Es fühlt sich an wie ein ganz normaler Spieleabend mit Freunden. Man gewinnt ein bisschen, verliert ein bisschen und unterhält sich dabei über alles Mögliche.

Naja. Es ist keine Neuigkeit, dass unser Sozialleben in Corona-Zeiten zunehmend ins Netz wandert. Wir nutzen Skype, Facebook und WhatsApp, statt uns in der wirklichen Welt zu treffen.

Immer wenn ich „in der wirklichen Welt“ sage, kriege ich Ärger mit Nicki. Sie sagt: „Wenn ich am Telefon mit jemandem rede, dann ist auch das ein wirkliches Gespräch, oder etwa nicht?“
Ich sage: „Stimmt.“
Unsere Eltern haben anfangs noch nach dem Motto „fasse Dich kurz“ telefoniert. Aber schon für unsere Generation war diese Form der Kommunikation ganz normal und sozusagen bereits Teil der Welt.
„Siehste!“, sagt Nicki.

Sie ist der Ansicht: Alles, was wir im Netz zur Kommunikation nutzen, ist auch „in der wirklichen Welt“. Nicht besser. Nicht schlechter. Nur ein bisschen anders.

Ich habe vor vielen Jahren – die Umstände habe ich vergessen – mal einen Mann getroffen, der taub und blind zugleich war. Seine Frau hat mit ihm geredet, indem sie ihm mit dem Finger auf die Handfläche geschrieben hat. Die beiden haben sich prima verstanden.

So ist das auch mit dem Digitalen. Nicki sagt: Ab und zu fehlen ein paar „cues“, ein paar Sinnesreize. Man kann zum Beispiel aus der Email keinen Tonfall heraushören. Kein Zittern in der Stimme. Man sieht auch keine Mimik und Gestik, keine Falten auf der Stirn und so weiter.

Aber das heißt nicht, dass diese Kommunikation irgendwie „weniger“ wäre. Man weiß z.B., dass die Leute sich leichter verlieben, wenn sie einander zunächst vor allem Mails schreiben. Weil all die fehlenden „cues“, all diese Leerstellen von unserer eigenen Fantasie ersetzt werden (ganz witzig: Während ich das schreibe, telefoniert Nicki nebenan mit ihrem Kollegen Joe Walther, der diese Zusammenhang vor rund 20 Jahren entdeckt hat; es ist eine kleine Welt). Ach ja: Und Goethe hat das vermutlich auch schon gewusst. „Die Leiden des jungen Werther“. Da wird unsterblich geliebt – und das ganze Buch besteht nur aus Briefen!

Nicki sagt: „Ein Brief ist ein Medium. Genau wie das Telefon. Oder Email. Oder WhatsApp. Oder Skype. Jedes Medium macht manche Verhaltensweisen wahrscheinlicher und andere unwahrscheinlicher.“

Zum Beispiel schicken mir meine Kinder dauernd Sprachnachrichten auf WhatsApp. Fand ich anfangs doof. Aber: Fast jeder kennt diesen Moment, wo man aus einem Gespräch rausgeht und sich ärgert, weil einem erst hinterher all die schlauen Sachen einfallen, die man hätte sagen wollen. Bei den Voice-Messages hat man mehr Zeit. Man kann länger überlegen. Und deshalb sagt man da häufiger was Tiefes, das wirklich von Herzen kommt. Das ist einer der Vorteile von solch „asynchroner“ Kommunikation.

Hier! Lauter Sprachnachrichten auf WhatsApp. Funktioniert richtig gut. Und ja: Das nutzen die meisten eh schon. Ich wollt’s trotzdem mal gesagt haben. Nur als ein Beispiel von vielen

Nicki und ihr Kollege Jeff Hancock haben neulich einen (noch unveröffentlichten) Artikel geschrieben. Darin geben die beiden Tipps, wie man seine sozialen Beziehungen managen kann, wenn man nicht mehr aus dem Haus darf. Ein paar ihrer Sachen kannte ich schon, andere waren neu. Hier mal ein paar Beispiele:

  • Man muss für Online-Gespräche mehr Zeit einplanen; für dieselben Informationen braucht man im Chat oder per Mail etwa vier bis fünf Mal länger als in einem Gespräch „face to face“. Auch Anrufe und Skype-Gespräche dauern meist etwas länger. Hilft, wenn man das weiß.
  • Auf Facebook „nur gucken“ bringt einen tendenziell schlecht drauf; dort selber was posten, ein paar Likes hinterlassen oder Kommentare schreiben – das mach die meisten Leute eher zufriedener. Vermutlich, weil es Freundschaften vertieft. Heißt: Es ist eine gute Idee, sich da aktiv zu beteiligen (ich mach dieser Tage auch mehr als sonst und hab das Gefühl, dass es mir guttut).
  • Jeff und Nicki glauben, dass gemeinsame digitale Spieleabende helfen. Sie empfehlen sogar gemeinsame Mahlzeiten, die man per Video mit Freunden oder Familienmitgliedern teilt. Das hab ich in der Form noch nie ausprobiert. Nächste Woche will ich das aber unbedingt mal machen.
  • Wir alle brauchen andere Menschen. Vielleicht ist es eine gute Idee, dafür feste Verabredungen zu treffen. Wen will ich morgen anschreiben? Mit wem skypen? Wie viel Zeit will ich mir dafür nehmen? Ich weiß: Das mit der Planerei ist nicht jedermanns Sache. Aber mir geht es meist besser, wenn ich zumindest ungefähr weiß, was ich vor mir habe.
  • Berufliche Videoanrufe von zu Hause sind nicht ganz einfach zu managen. Der Hund bellt, die Kinder kommen rein oder was weiß ich. Naja. Es ist überhaupt schwierig, komplett von zu Hause zu arbeiten. Nicki sagt: Es kann eine gute Idee sein, sich so anzuziehen, wie man sich für den Job anziehen würde. Man weiß dann besser, welche soziale Rolle mal gerade spielt (duschen und rasieren ist vermutlich auch ne gute Maßnahme; ein bisschen Selbstachtung hilft, nicht völlig den Verstand zu verlieren).

Gerade noch Trumps Briefing geguckt. Wird nix mit den vollen Kirchen zu Ostern. Die gegenwärtigen Regeln werden bis Ende April verlängert. Vermutlich besser so. Ich beobachte derweil die Entwicklung in Michigan und besonders in Detroit. Die Todesrate in der Stadt entwickelt fast genau so, wie sie sich in Deutschland entwickelt hat, nur eben mit einer Verzögerung von einigen Wochen. Detroit ist eine arme Stadt mit vielen leerstehenden Häusern und vielen Menschen, mit deren Gesundheit es schon vor der Krise nicht zum Besten stand. Mal sehen, wie das alles weitergeht.

bookmark_borderDas Virus der anderen

Gestern hatten wir wieder unsere „Virtual Happy Hour“ – wir treffen uns per Zoom in einer Videokonferenz mit vier anderen Leuten und tun so, als säßen wir zusammen in der Kneipe. Ich vermute, dass viele das gerade so halten. Mir tun diese Treffen gut. Ich hab irgendwann in die Runde gefragt: „Was sagt denn die Statistik über unsere kleine Gruppe hier? Wie viele von uns sechs werden sich im nächsten halben Jahr das Virus einfangen?“ Die Antwort: „Vermutlich vier oder fünf.“ Alle anderen in der Runde sind Professoren. Schlaue Leute. Mein Kopf sagt: Okay, klingt plausibel. Meine Intuition sagt: No way! Warum? Ich vermute mal: Corona kriegen (wie Krebs, Schlaganfall und Herzinfarkt) immer nur die anderen.

Hier in Michigan kann man sehen, dass es sich bei diesem verzerrten Blick auf die Wirklichkeit nicht um ein Privileg von Privatpersonen handelt. Will sagen: Politikern unterläuft derselbe Fehler.

Ich vergleiche die Daten mal mit denen aus Norddeutschland, wo ich wohne, wenn ich nicht bei meiner Lebensgefährtin bin.

Am 28. Februar gab es den ersten positiv getesteten Fall in Schleswig-Holstein. Zwei Tage später den ersten Fall in Hamburg.
Das Schaubild unten zeigt die entsprechende Kurve für Michigan. Dort hatte man den ersten Fall am 10. März. Michigan hatte also elf Tage mehr Zeit, sich vorzubereiten. Klar: Im Detail verlaufen die beiden Kurven leicht unterschiedlich. Doch bei beiden handelt es sich um exponentielle Funktionen mit schnell steigenden Zuwachsraten. Die Lage ist einigermaßen vergleichbar.

Was ich damit sagen will: Jeder hier wusste, was kommt. Wie gut war man vorbereitet? Tja. Der ganze Staat Michigan (von der Fläche her etwa so groß wie die alte Bundesrepublik) hatte zum Zeitpunkt der ersten Positivtestung nicht mehr als 300 Test-Kits vorrätig. Das ist so gut wie nichts.
Und natürlich hat das viele Ursachen (einige davon sind bürokratischer Natur, für die in Michigan keiner was kann). Aber Sorglosigkeit war ganz sicher auch ein Faktor. Auch dies kann man irgendwie rechtfertigen: Noch am 9. März schien Michigan die Insel der Verschonten zu sein: Überall in der Gegend gab es Corona-Fälle. Nur hier nicht:

Der blaue Kreis: Das ist Michigan

Von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: Zu diesem Zeitpunkt waren Nicki und ich noch in Kalifornien. Am 2. März habe ich dort in Berkeley eine Konferenz über Roboter und Künstliche Intelligenz besucht. Die Veranstaltung stand wegen Corona schon mächtig auf der Kippe. Spender mit Desinfektionsmittel standen an allen Eingängen, man gab sich den Ellenbogen. Ich habe mir dort mindestens sechs Mal für je 20 Sekunden die Hände gewaschen. Social Distancing jedoch war noch nicht erfunden (der Begriff wurde erst ab dem 15.3. im großen Stil gegoogelt).

Bei Google Trends gibt man den Begriff „Social Distancing“ ein. Als Region die USA. Die Kurve zeigt, wann die Leute angefangen haben, nach diesem Begriff zu suchen
Dies ist ein Pressefoto von der TechCrunch-Konferenz Anfang März in Berkeley. Social Distancing was not even a thing back then. Der Typ rechts mit der Brille – das bin ich 🙂

Schon wenige Tage später hat die Stanford University wegen Corona den gesamten Laden dicht gemacht.

Als wir am Wochenende aus Kalifornien zurück nach Michigan gefahren sind, da hatten wir beiden noch das Gefühl, dass dort eine weniger gefährdete und gefährliche Region auf uns wartet. Heute sehen wir: Das war ein Irrtum. Die Zahl der Corona-Fälle in Michigan wird jene in Kalifornien und Washington bald übersteigen. Vielleicht schon an diesem Wochenende.

Wir sitzen mittendrin im Schlamassel (wie man an der Landkarte ganz oben sehen kann). All das weiß mein Kopf. Und trotzdem sagt mir meine Intuition: Wird schon alles gut. Noch handelt es sich bei Corona: um das Virus der anderen.

Zum Abschluss noch ein bisschen Futter für den Kopf: Zwei Physiker haben sich eine tolle und relativ gut verständliche Art und Weise ausgedacht, besser über die Zukunft nachzudenken, als unsere Intuition das kann. Ich verbringe meine Abende jetzt damit, meine eigenen Excel-Tabellen anzulegen, um ein Gefühl für das zu kriegen, was als nächstes kommt. „Nerding out“ als Therapie.

bookmark_borderElfen, Fahnen, Kirchen, Masken

Zweiter Tag Ann Arbor. Laufen gewesen und dabei Fotos gemacht. Ann Arbor ist eine College Town. Wie Tübingen. Nur noch krasser. Die Studenten (mehr als 44.000) hat man im Wesentlichen nach Hause geschickt. Das Krankenhaus zählt zu den besten des Landes. Die Unterstützung für die Arbeit dort erfolgt nicht über abendlichen Gruppenapplaus, sondern über Schilder in Vorgärten. Mehr Individualismus hier.

Die Stadt hat sich den Werten von Aufklärung und Rationalismus verschrieben. Doch wie fast überall, wo man so was durchzieht, gedeihen im Windschatten ungewöhnliche Pflanzen. Zum Beispiel findet man am Straßenrand alle Nase lang kleine „Fairy Doors“, winzige Türen, die so tun, als führten sie in die Behausung putziger Feen.

Fairy Door an der Washington Street

Woran glauben die Leute hier? An alles Mögliche. Es gibt mindestens 80 verschiedene Glaubensgemeinschaften allein unter den Christen. Und dann sind da natürlich noch ganz viele andere Religionen. Alle haben im Moment etwas gemeinsam: Sie müssen von zu Hause aus beten. Auch wenn die Gouverneurin von Michigan in ihrem „Shelter in Place“-Erlass religiöse Versammlungen explizit von entsprechenden Ordnungsstrafen ausnimmt.

Bei unserer Fahrt übers Land haben wir mancherorts US-Flaggen gesehen, die in gefühlter Basketballfeld-Größe am Autobahnrand wehten. Hier in der Stadt liegen die Verbindlichkeiten etwas anders. An der Plymouth Road komme ich an drei Fahnenstangen vorbei. Eine Fahne für Michigan, eine für die USA, eine für die Uni. Alle drei gleich groß. So in etwa sind die Leute hier drauf.

Ein paar Blocks weiter stolpere ich ein Schild. Die Uni-Klinik hat die Bürger der Stadt darum gebeten, Schutzkleidung zu spenden. Ich folge der Einfahrt, drei junge Menschen in Masken und Schutzanzügen sammeln die Spenden ein. Wir wechseln ein paar Worte. Sie sind in erster Linie an Masken interessiert. Aber auch an Kitteln und Handschuhen. „Keine Handschuhe aus Latex“, sagt einer der beiden Männer. Warum nicht? „Weil viele Leute darauf allergisch reagieren.“ Was man so alles nicht weiß …

Die Spendenaktion läuft seit Montag. „Die Leute haben massenhaft Zeug vorbeigebracht“, sagen sie. Von Tag zu Tag wird es ein bisschen weniger. Sie wollen bis Samstag kommender Woche weitermachen.

Gestern gab’s im Landkreis 92 positive Fälle. Heute sind es 150. Klingt überschaubar. Im nahen Detroit jedoch tickt eine Bombe. Schon 37 Tote. Und im Vergleich dazu viel zu wenige Tests draußen. Mal sehen, wie’s weitergeht. Angeblich gibt es Überlegungen, einige der Kranken aus der großen Stadt hier in den Studentenwohnheimen zu parken, „when the shit is hitting the fan“. In den Filmen sind die Pandemien immer gleich der Weltuntergang. Die Wahrheit ist viel filigraner, viel differenzierter.

Bei McDonalds suchen sie Mitarbeiter. Sie zahlen mehr als elf Dollar die Stunde. Just sayin‘

bookmark_border„Die Leute haben’s alle kapiert“

In Ann Arbor/Michigan lassen sie bei „Trader Joe’s“ nur noch eine begrenzte Anzahl von Kunden gleichzeitig in den Laden. Die Schlange vor dem Eingang geht einmal ums Eck. Die Leute stehen brav in sechs Fuß Abstand zueinander. Manche tragen Handschuhe, 20 Prozent haben Mund und Nase mit Masken bedeckt. Seit vergangenem Montag gilt auch in Michigan „Shelter in Place“.

Ein Mann mit Gehbehinderung nähert sich dem Eingang. Der Marktleiter bittet ihn, sich hinten anzustellen. Die Leute in der Schlange bestehen darauf, den Mann vorzulassen. „Fine with me – the crowd has decided“, sagt der Marktleiter. Zwei Mitarbeiter stehen am Eingang, sie tragen Handschuhe. Durchs Fenster kann man sehen, wie sie jeden zurückgebrachten Einkaufswagen einsprühen und abwischen. Sobald jemand den Laden verlassen hat, bitten sie den nächsten Kunden durch die Tür. „Vielen Dank für ihre Geduld. All diese Einkaufswagen wurden gerade desinfiziert.“

Im Inneren des Ladens geht es merkwürdig ruhig zu. Niemand hetzt. Keiner trödelt. Die Regeln: Von allem darf man höchstens zwei Einheiten in seinen Wagen packen. Ein Einkaufswagen voll Zeug ist das Maximum. Ein Schild am Eingang macht uns auf all dies aufmerksam. Beim Warten in der Schlange bleibt genügend Zeit, die Regeln zu lesen und zu kapieren (fun fact: Ich hab schon mehrfach über die Psychologie von Warteschlangen geschrieben. In den großen Vergnügungsparks gestalten sie die Schlangen so, dass man durch Zugucken lernt, wie das Fahrgeschäft funktioniert. Man muss genügend Zeit haben, mindestens drei Ein- und Aussteigevorgänge beobachten zu können. Dadurch kapieren die Leute viel mehr als durch alle Schilder und Piktogramme. Dies nur am Rande).

„Wir sitzen alle im selben Boot“, sagt das Schild. Man bedankt sich dafür, dass die Kunden auch an die Bedürfnisse der Nachbarn denken.

Die Frau an der Kasse sagt: „Seit Montag haben’s die Leute alle kapiert. Die Kunden sind ’super sweet‘ und benehmen sich.“ Sie lässt sich Zeit, unsere Waren zu scannen und begleitet original jedes einzelne Produkt mit einem aufmunternden Kommentar. „Ah, Pilze, die sind sooo lecker mit Pasta.“ Oder. „Ah, wine! You guys really thought about all the important stuff!“ Sie erkundigt sich, ob wir schon neue Rezepte gegoogelt haben, die wir ausprobieren wollen. You get the idea. Das Gesundheitssystem hier ist ziemlich kaputt. Aber anderen Leuten Mut machen, das haben sie hier drauf wie sonst keiner.

Etwas anderes gefällt mir weniger: Wir hören von einer älteren Bekannten aus der Gegend. Sie hat ihre Kühltruhe in der Garage stehen. Als sie sich gestern ne Pizza holen wollte, war die komplette Truhe leergeräumt. Vielleicht nur Zufall.

bookmark_border„Bald dicht“ vs. „nicht ganz dicht“

Am Morgen in Iowa mit A. gesprochen. Ihm gehört das Autobahnhotel, in dem wir übernachtet haben. Er macht den Empfangsdienst jetzt persönlich. Muss so. Sein Personal hat er fast komplett entlassen. An guten Tagen hat er noch 30 Prozent der Gäste, die ansonsten kommen würden. Er preist Trumps „volle Kirchen zu Ostern“-Initiative. Guter Mann, dieser Trump. „An der Börse“, sagt er und zeigt auf die Zeitung, die vor ihm liegt, „hatten wir das beste Ergebnis seit Ewigkeiten.“ Er schüttelt den Kopf. „Aber vermutlich werden ihn ‚the doctors‘ bald wieder zurückpfeifen.“ Er sagt: Wenn es auf dem bisherigen Niveau weitergeht, kann er noch zwei Monate durchhalten. Danach muss er den Laden dicht machen. A. ist Mitte 50. Dieses Hotel ist kein Job für ihn, sondern die Verkörperung des American Dream. Sein eigenes Hotel haben. Unternehmer sein. Reich werden. Jetzt ist alles im Eimer. Weil „die Experten“ übertreiben und keine Ahnung vom wirklichen Leben haben. „Bisher ist bei uns in Iowa ein einziger Mensch am Virus gestorben“, sagt er. A. ist weder dumm noch böse. Aber er hat viel und hart gearbeitet und jetzt steht er da und weiß nicht mehr so richtig, warum und wofür er all das eigentlich gemacht hat. Ich muss an früher denken und diesen Moment beim Monopoly, wo der ganze Ärger, die ganze Freude, die ganze Spannung auf einmal von einem abfallen und man merkt, dass alles nur ein Spiel war.

Wir sind jetzt mehr als drei Tage lang fast ausschließlich durch die Pampa gefahren. Selbst ohne Corona kommt dort so gut wie nie ein Mensch vorbei. Im Großraum Chicago wird die Straße auf einmal voll, trotz „Shelter in Place“ in Illinois. Wir fahren raus, weil wir tanken müssen und irgendwo mitten auf der Ausfahrt muss irgendjemand auf den Knopf einer Zeitmaschine gedrückt haben. Nanu? Die Tanke ist sehr gut besucht. Niemand trägt Gummihandschuhe. Die Leute halten die Zapfpistole mit bloßer Hand. Wenn sie zur Kasse gehen oder aufs Klo, dann fassen die Türgriffe an, die Türrahmen. In Kalifornien haben wir immer wieder diesen kurzen Moment des Zögerns beobachtet, wenn jemand eine Tür zu öffnen hatte. Diesen Prozess des Nachdenkens – wie kriegt man das hin, ohne sich Viren an die Hände zu holen? Hier jedoch zögert keiner. In der Schlange an der Kasse stehen die Leute dicht an dicht und keinen scheint’s zu kümmern.
Wir holen uns ein Haus weiter Tacos vom Takeout-Fenster. Ich halte die Kreditkarte in einem Papiertuch, als ich sie der freundlichen Dame reiche. Ihr Blick fällt auf das Tuch. Sie lächelt. Das Lächeln sagt: „armer Irrer!“ Und einmal mehr fahren wir weiter und wissen, dass irgendjemand in dieser Situation nicht ganz dicht war. Wir oder die anderen? Das kann, glaube ich, immer noch niemand so genau sagen.

Ach ja, an der Grenze von Iowa nach Illinois sind wir über den Mississippi gefahren. Ein riesiger Fluss, hier schon. Interessiert keinen. Ich wollt’s trotzdem gesagt haben.

Als wir dann später die Grenze von Indiana nach Michigan überqueren, kribbelt es ein bisschen.

Wir hören unterwegs auch wieder „The Daily“, den Podcast der New York Times. Junge, sind die gut! Alles kommt ganz ruhig und gelassen daher, ist aber bis oben hin geladen mit Recherche, Wissen, Haltung. Jawohl: Dies ist eine Hör-Empfehlung – denn das ist guter Stoff.

… und plötzlich sind wir wieder in Ann Arbor. So richtig checke ich das erst, als ich mich an der Kreuzung von Stadium und Main in die richtige Spur einordne. Auch hier: Selten so wenige Autos auf der Straße gesehen.
So endet unser Cross-Country-Trip. Ich hab ihn mir anders vorgestellt. Später, natürlich. Aber auch romantischer.

Luxusprobleme.

In einigen Wochen werden wir vielleicht zurückblicken und den Kopf schüttelt darüber, wie doof wir waren. Wie ahnungslos. Wie wenig wir verstanden haben, was eigentlich gerade los ist. Heute genügt es, sehr müde zu sein von einer langen Reise.

Coco is glad to be back

bookmark_borderAuferstehung oder Hölle?

So tanken wir. Immer. Ich will das nur festhalten, um’s nicht zu vergessen

Im Wagen hören wir ne Menge NPR, das ist so etwas wie der Deutschlandfunk der USA. Sie senden Trumps Briefing live. Er träumt davon, bis Ostern das Land wieder am Laufen zu haben. „Wouldn’t it be great to have all of the churches full?“ Die Auferstehung von den Toten für alle. In weniger als drei Wochen. Hm.

Später am Tag hören wir den aktuellen Daily-Podcast der New York Times. Sie haben Donald G. McNeil Jr. im Studio, der seit Wochen für die NYT über die Coronakrise berichtet. Sie fragen ihn, wie jetzt alles weitergeht. Er sagt: Man muss das ganze Land – wie mit einem Zauberstab – für zwei Wochen einfrieren. Komplett. Aber das wird nicht passieren. McNeils Fazit: „(…) we will have a Wuhan in New York, and a Wuhan in Seattle, and a Wuhan in South Florida, and a Wuhan in Wheeling West, Virginia, and a Wuhan in Helena, Montana, and so on.“ Die Toten, so sagt er, werden sich in all diesen Hotspots auf den Krankenhausfluren stapeln und keiner wird mehr Zeit oder Kraft haben, sie wegzuräumen. Später telefoniert Nicki mit einer Freundin, die in New York lebt. Sie sagt, dass sie dort vor den Hotels schon Zelte für die Leichen aufstellen.

Ich finde es schwer, das alles zu verarbeiten oder mich selbst auf der Intensivstation zu sehen oder die Menschen in meinem engsten Umfeld. Es gelingt mir auch gut, mich abzulenken. Heute ist das etwas schwieriger, auch weil die Landschaft in dieser Hinsicht wenig leistet.

Nebraska. Langweilig? Einerseits ja. Andererseits ist das hier einer der spektakulärsten Momente des heutigen Tages.

Ich muss wieder an meinen Besuch bei Prof. Kate Sweeny von der UC Riverside denken. Eine ihrer Doktorandinnen hat nachgewiesen, dass Momente von „awe“ (am ehesten zu übersetzen mit „Ehrfurcht“) einem über die ohnmächtige, sorgenvolle Unsicherheit hinweghelfen, wie viele sie jetzt empfinden. Das hat die vergangenen beiden Tagen leichter gemacht (zumindest für mich; weniger für Nicki, wie man zugeben muss). Heute aber ist nicht viel los mit „awe“. Das östliche Wyoming, Nebraska und Iowa sind … ähm … bemerkenswert monoton.

Immerhin besitzen sie in Nebraska eine kulinarische Staats-Spezialität, die irgendwer in eine endemische Fastford-Kette namens „Runza“ verwandelt hat. Es handelt sich um ein Brötchen mit gebratenem Krauthack in der Mitte. Ich neige dazu, solche Dinge zu unterstützen. Also fahren wir zu einem Takeout-Fenster und ziehen uns zwei dieser Geräte. Fun fact: Angeblich kommt der Name davon, dass man dick davon wird, man bekommt einen „Ranzen“, oder im Südwest-Dialekt einen „Ranza“. Genau so wird das Ding auch ausgesprochen.

Ja. Essen. Hilft immer.

Morgen kommen wir, wenn alles gut geht, nach Ann Arbor. Danach: zwei Wochen Quarantäne. Trotz der Hundekackebeutel über den Händen. Ich sage mir immer noch, dass am Ende alles gut ausgeht. Morgen werde ich hier über Geld reden. Ich glaube: Wenn all das hier vorbei ist, wird das „Geld“, wie wir es kennen, kaputt sein. Bei Trumps Briefing haben sie verkündet, sechs Billionen Dollar … ähm … tja … zu drucken. Wenn ich mich richtig an die VWL-Kurse in meinem Leben erinnere, dann heißt das, dass die Amerikaner hinter den Türen jetzt schon das Design für die in einigen Jahren fällige Währungsreform entwerfen. Kann aber auch sein, dass ich von all dem einfach keine Ahnung habe. Außerdem muss ich in den kommenden Tagen mal recherchieren, ob „Ausländer sein“ ein Kriterium sein wird, das auf der Intensivstation eine Rolle spielt. Das wäre ungünstig. Zumindest für mich.

Irgendwann sehen wir während der Fahrt eine dieser sehr großen US-Flaggen hinter der Kurve flattern (heute ist ein windiger Tag). Sie weht auf Halbmast. Ich sitze am Lenkrad und bitte Nicki, ein Foto zu machen. Das könnte das passende Symbol für diesen Blogeintrag werden! Als wir näher kommen, sehen wir, dass die vermeintliche Fahnenstange mit der Fahne gar nichts zu tun hat. NATÜRLICH haben sie das Ding ganz nach oben gezogen. Ostern in der Kirche. Ich vermute mal: Es gibt viele Amerikaner, die sich heute mit genau diesem Gedanken schlafen legen

bookmark_borderKrankheit vs. Medizin

Wenn man die Küstenregion in Kalifornien erst einmal verlassen hat, ändern sich die Billboards am Straßenrand. Es geht plötzlich häufiger um Religion. „Wenn du tot bist, triffst du Gott“ sehen wir mindestens zwei Mal.

„Wer ist Jesus?“, fragt es, als wir vorbeifahren, vor dramatischen Wolken. Ein paar Kilometer weiter kommt die Antwort:

„Jesus – dein einziger Weg zu Gott“, was uns nicht nur zurück zu Plakat Nummer eins führt, sondern Nicki und mich auch direkt in eine Diskussion. Die Leute haben sich verändert durch die ganze Corona-Sache. Manche werden panisch. Andere frischen ihre Statistik-Kenntnisse auf. Wieder andere wenden sich all jenen Dingen zwischen Himmel und Erde zu, die unserer Wissenschaft verborgen geblieben sind. Mein alter Freund Søren hat mir bei unserer kürzlichen Videokonferenz erzählt, dass sie im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde Punkt 18 Uhr die Glocken läuten und zu Hause am Fenster eine Kerze anzünden. Andere Freunde und Verwandte verabschieden sich jetzt in ihren WhatsApp-Nachrichten mit stärker religiös gefärbten Formeln.

Auf Facebook habe ich vor einigen Tagen den Link zu einer psychologischen Studie geteilt. Die Forscher wollen mit dem Fragebogen herausfinden, wie die Menschen auf der ganzen Welt auf die Coronakrise reagieren. Machen die Leute in Deutschland das anders als z.B. in Japan, China, Italien oder den USA? Weiß im Moment keiner. Wäre aber interessant, das zu erfahren. Deshalb die Studien. Ich empfehle allen, mitzumachen. So wie Julia, die danach einen Kommentar bei mir hinterlassen hat. Sie wundert sich, dass das Thema „Glauben“ im Fragebogen nicht auftaucht. Ich glaube, dass sie damit genau ins Schwarze getroffen hat, zumindest in Deutschland.

Kommt man mit der Coronakrise besser klar, wenn man religiös ist? Kann ich nicht sagen, aber ich weiß von einer noch unveröffentlichten Studie, die so etwas ähnliches erforscht hat. Nämlich, wie Religion sich auf das „Warten unter Unsicherheit“ auswirkt, eine Situation, die psychologisch dem stark ähnelt, was viele gerade erleben. Das Ergebnis der Studie legt nahe, dass religiöse Menschen sich jetzt vermutlich sogar mehr Sorgen machen als der Rest der Bevölkerung. Wie stark der Effekt ist, hängt allerdings davon ab, an welchen Gott man glaubt. Ein zorniger Gott bereitet den Leuten tendenziell mehr Sorgen als ein gütiger Gott. Man sollte sich darüber nicht wundern. Es steht im Grunde genau so in der Bibel: Wer darauf hofft, dass der Glaube einem das Leben schon auf Erden leichter macht, gehört zu den „elendesten unter allen Menschen“. Der religiöse Gehalt der Seuche liegt wohl in der fundamentalen Erfahrungen, die wichtigsten Dinge seines Lebens nicht im Griff zu haben.

Ansonsten sind wir heute mehr als 1000 Kilometer gefahren. Ich bin müde und habe deshalb für die Reiseteil Piglet als Ghostwriter engagiert. Man muss etwas zur Szenerie sagen: Utah ist der spektakulärste Staat, den wir bisher gesehen haben. Schon auf der Hinfahrt weiter im Süden war das so. Heute: Die Gegend um Salt Lake City ist wie eine in Landschaft gegossene Wagner-Oper. Bombastisch. Hörner. Pauken. Viele Posaunen. Alles in vier- bis fünffacher Besetzung. Überwältigend, bizarr, atemberaubend schön – aber über weite Strecken vollkommen unbewohnbar. Wagner halt.
Die Fotos aus Utah fallen alle beschämend unzutreffend aus, weshalb ich hier keine posten möchte. Insgesamt fahren aber auch in Nevada und Wyoming nicht viele Autos und es geht sehr, sehr oft geradeaus:

Einmal am Rastplatz steht plötzlich ein älterer Mann neben mir, und während wir so in sechs Fuß Abstand unseren Obliegenheiten nachgehen, erzählt er, dass er sich auf dem Weg nach Hause befindet. Kanada. Er hat da viel Geld in eine Anlage gesteckt, in der Touristen Jagd- und Angelausflüge unternehmen können. In den kommenden Wochen werden jetzt aber keine Gäste kommen. „Was haben wir in den USA? 320 Millionen Leute? Und 600 Tote? Deshalb machen wir alles dicht? Die spinnen doch!“

Kurz danach hören wir im Radio Donald Trump, der die Öffentlichkeit an seinen aktuellen Gedanken teilhaben lässt. Man dürfe die Arznei nicht schlimmer machen als die Krankheit selbst. Vielleicht haben er und mein Pinkelnachbar sich ja vorher abgesprochen.

Während der vergangenen Stunden fahren wir durch Wyoming. Auch schön da. Aber ich sag mal so: Wenn man irgendwann mal einen Ort braucht, an dem einen garantiert keine Sau findet – das hier wäre ein guter Anfang.

In unserem Hotel in Cheyenne (sechs nachgewiesene Coronafälle) trägt die Frau am Empfang Gummihandschuhe. Nicht viele Gäste. „Wir machen jetzt auch bei den Räumen social distancing. Die Zimmer neben ihrem Zimmer sind garantiert leer.“ Toll, wie die Leute hier selbst bei kleiner Bühne noch ein Talent dafür haben, die schlimmsten Sachen als was Großartiges zu verkaufen. Ich meine das vollkommen ernst.

Wyoming

P.S.: Im regionalen Nachrichtensender berichten sie jetzt aus dem Nachbarstaat Colorado. Einige Städte werden morgen eine Stay at home order ausgeben. Vor den Schnaps- und Marihuana-Läden haben sich sofort nach der Ankündigung so lange Schlangen gebildet, dass die Behörden bald abgewunken haben: Okay, okay, beide Arten von Geschäften dürfen geöffnet bleiben.
Wenn die Krankheit kommt, will man die Medizin nicht verbieten.

bookmark_borderCorona im Schoschonenland

„Nix los auf der Dumbarton Bridge“, beklagt sich Piglet beim Queren der Bay. Es ist ein schöner Morgen. Wir wollen zurück nach Michigan, wo Nickis Familie wohnt. Doch Coco, die Schäferhündin, ist zu groß fürs Flugzeug. Also bleibt nur der Planwagen. Alles wie früher, nur halt in die andere Richtung. Vor uns liegen knapp 4000 Kilometer – von Menlo Park bis Ann Arbor, das ist wie Berlin nach Moskau und wieder zurück.

Tschüss, Bay!

In der Sierra Nevada liegt noch Schnee. Sehr schön ist es da. Manchmal vergesse ich die Pandemie. Aber nur bis zur ersten Rast. Interessant, wie die Leute alle den Griff an die Klotürklinke meiden. Alle grüßen und halten Abstand, keiner guckt doof, wenn jemand die Desinfektionssprühpistole rausholt. Ein Schild warnt vor Klapperschlangen. Coco reist bei all dem mit der Gelassenheit einer Königin.

„Eigentlich gehört das hier alles mir.“ Ach. Hundegedanken!

Man muss ein paar Worte über Nevada verlieren. Das ist der Staat, in dem Las Vegas liegt. Die haben anfangs ihre Kohle mit dem Zugverkehr zur Küste verdient. Aber dann war der Goldrausch plötzlich vorbei und von irgendwas muss man schließlich leben. Also: Glücksspiel. An der Tanke stehen am Fenster fünf super moderne Daddelautomaten (über das ausgefuchste Design dahinter hab ich mal ne große Geschichte für Psychologie Heute geschrieben; super spannend. Egal). Der Mann vor uns fragt, ob er zocken darf. Die Frau an der Kasse schüttelt den Kopf. „Die Maschinen sind alles aus.“ Wegen der Ansteckungsgefahr. Rona zieht sogar den Casinos den Stecker. Piglet wird derweilen müde und verlangt nach Koffein.

Doping für Piglet

Die Wolken sind unglaublich. Ich kenn mich damit nicht aus, bin mir aber sicher, dass verschiedene Landschaften verschiedene Wolken machen. Nevada hat sehr schöne Wolken. So viel steht fest.

Kaum Autos auf der Interstate 80

Wir haben uns natürlich gefragt, ob wir das alles überhaupt dürfen. Einfach so durch die Pandemie zu fahren. Wir haben die Verlautbarungen des Gouverneurs von Kalifornien gegoogelt. Die FAQs der verschiedenen Counties. Die haben da alles Mögliche beschrieben. Unseren Fall bespricht keiner, obwohl allen klar ist, dass es natürlich Leute gibt, die nach Hause fahren. So macht man das hier. Don’t ask, don’t tell. Man will’s (noch) keinem verbieten, aber auch niemanden ermutigen, indem man’s erlaubt. Nicki checkt social media während der Fahrt. Viele Gerüchte. Nicht wenige rechnen mit einem „travel ban“ zum Ende der Woche. Gut, dass wir unterwegs sind.

Nicki lächelt, Coco lächelt. Nur der Fahrer hat drei Probleme. 1) Kriegt nix mit vom Fototermin. 2) Fasst sich nicht ins Gesicht. Ergo: Krümel am Mund! 3) Hat sich gestern die Haare selbst geschnitten. Nicki murmelt was von „self presentation“

Wir lassen es locker angehen. Endstation in einer Stadt namens Elko. Die Schoschonen, so sagt Wikipedia, haben diesen Ort „Natakkoa“ genannt. Das bedeutet: „Rocks Piled on One Another“. Tut nichts zur Sache, ist aber zu gut, um es für sich zu behalten.

Im Dialekt meiner badischen Heimat würde dieser Ort „an Haufa uffananagschdabelde Schdoaina“ heißen. Klingt fast Schoschonisch

In der Stadt inklusive Umgebung gab es bislang zwei bestätigte Coronafälle. Trotzdem, so sagt die Hotelmanagerin, kriegt man im Supermarkt auch hier die üblichen Sachen nicht. Klopapier, Nudeln, Reis, Mehl. Man könnte ein Lied darüber machen. Der Refrain ist überall derselbe. Fast alle Läden sind dicht. In den Restaurants alles dunkel. Die Managerin sagt, dass sie vergangene Woche fast die gesamte Belegschaft hat entlassen müssen. Nicki unterschreibt mit ihrem eigenen Stift. „Gute Idee“, sagt die Managerin. Wir gehen in den Raum, desinfizieren die Türgriffe, die Oberflächen und werden in mitgebrachten Schlafsäcken pennen. Und ich hab keine Ahnung, ob wir total leichtsinnig sind (weil wir uns womöglich in die Viren legen) oder total einen an der Waffel haben (weil wir so ein Buhei veranstalten). Andererseits. Vielleicht weiß das im Moment keiner so richtig.

bookmark_borderDas letzte Selfie (hier)

Kalifornischer Mohn

Spaziergänge gemacht. Überall blühen diese orangefarbenen Blumen an den Gehsteigen und in den Gärten. Nicki sagt: Das sind Golden Poppies. Der goldene Mohn ist die Staatsblume Kaliforniens. Herzerwärmung und Volkshochschule zugleich.

Schild in Menlo Park

Nicht weniger bewegend sind diese Schilder, die einige Nachbarn jetzt in ihre Vorgärten gepflanzt haben. Auch ne Art, seinen Zusammenhalt zu demonstrieren. Gefällt mir. Gefällt mir sehr. Und ja. Man muss da ehrlich zu sich selbst sein: Es gefällt mir ganz sicher AUCH, weil ich hier ja selbst ein Fremder bin, dem das auch jeder anhört, wenn ich die ersten Worte mit meinem deutschen Kartoffelakzent gesprochen habe.

Menlo Park

Nicht viel los hier. Mit einer Mutter gesprochen, deren Kinder auf der Straße mit ihren Rollern und Fahrrädern Wettrennen veranstalten. Sie sagt: Es hat ne Weile gedauert, dem Fünfjährigen beizubringen, was „sechs Fuß“ bedeutet. Dass das jetzt der Abstand ist, den man zu allen halten muss. Zu allen, die nicht zur eigenen Kleinfamilie gehören. Auch zu den Freunden, die man ansonsten mit einem „hug“ begrüßt. „Aber inzwischen haben sie’s kapiert“, sagt sie
Ich schaue in ihren Garten und sehe, dass sie einen Gartenschlauch parallel zum Zaun ausgelegt haben. Sechs Fuß Abstand. Die Kinder können sich dahinter aufstellen, die Freunde können an den Zaun kommen. Da lernt eine ganze Generation, sich selbst und die anderen im Raum zu lesen. Raumdeuter. Wie Thomas Müller. Nur halt im richtigen Leben.

„The Dish“

Nicki hat ihr Büro auf dem Zauberberg leergeräumt (davon ein andermal mehr). Dort oben in den Foothills machen viele den „Dish walk“, also den einstündigen Spaziergang zur großen Radarschüssel, die sie da in den frühen 1960ern auf den Hügel gesetzt haben, um die Sowjets zu belauschen. Heute kann man damit immer noch Satelliten steuern. Ich habe den Dish walk kein einziges Mal gemacht. Jetzt oder nie. Sandra und Georg begleiten uns. Die Aussicht ist toll. Man sieht San Francisco. Die Bay. Die Hügelkette, das ganze Valley, auch die Zentralen von Facebook und Google. Viele Leute unterwegs. Alle halten Abstand und die meisten winken uns zu. Mehr Verbindung bei mehr Distanz, wie vermutlich überall. Seltsames Gefühl. Das banal Schöne erleben. Und dabei wissen, dass die Welt gerade ganz anders wird. Und in Teilen: anders bleiben wird.

Links die „Schüssel“, zentral am Horizont die Skyline von SF

Kein Mensch auf dem Golfplatz rechts des Weges. Nur ein wilder Truthahn wagt eine Annäherung ans Grün. Die Eichhörnchen erobern das Terrain. Sandra sagt, dass sie neulich hier einen Coyoten auf der Wiese gesehen hat.

Seht Ihr den Truthahn?


Wir machen zum Abschied ein Selfie. Das letzte Selfie. Vielleicht etwas weniger als sechs Fuß Abstand. Aber vielleicht täuscht auch die Perspektive. Beides wäre menschlich.

Das letzte Selfie